Sacharja 9-14: Ergibt das irgendeinen Sinn?

Nicht zum ersten Mal wurde ich gebeten, das Buch Sacharja (jetzt im Mai) in einer SBS zu unterrichten. Ich vermute, weil niemand sonst „Freude hatte“, dies zu tun. Ich kann das gut verstehen. Sacharja ist ein Buch mit mehreren auf den ersten (und zweiten) Blick wirren Stellen. Das Buch schüchtert ein. Meiner Meinung nach ist es womöglich das schwierigste Buch im Alten Testament. Wenn nicht Sacharja, dann Daniel oder das Hohelied, aber Sacharja ist für mich auf jeden Fall im Top Drei. Luthers Kommentar zum letzten Kapitel ist vielsagend: „Hier, in diesem Kapitel, gebe ich auf. Denn ich bin nicht sicher, wovon der Prophet spricht.“(1)

Das ist Luther. Damit du weißt, dass du in guter Gesellschaft bist, falls dir dieses Buch unverständlich vorkommt.

Bild: Nathan Laurell https://www.flickr.com/photos/nglklm/5165291415/ CC BY-NC 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Auf Englisch gibt es diesen Inhalt auch als VIDEO PODCAST.

Die erste Hälfte (Sach. 1-8) ist leichter. Zum Teil ist die Symbolik zwar eine Herausforderung (farbige Pferde? ein Stein mit sieben Augen?), aber wenigstens ist die Struktur klar: acht Visionen. Und wenn wir wissen, wo in Israel Geschichte wir uns befinden, dann lässt sich vieles verstehen: Es ist das Jahr 520 v. Chr., eine erste Gruppe von Israeliten ist vor gerade 18 Jahren aus dem Exil zurückgekehrt und der Wiederaufbau des Tempels ist ein unvollendetes Projekt. Unter diesen Umständen teilt der Priester-Prophet Sacharja Worte und Visionen mit, die diese Gemeinschaft und ihre Leiter wissen lassen, dass Gott mit ihnen ist, und dass sie diese Herausforderung (Wiederaufbau des Tempels) bewältigen können.

Sacharja 7 und 8 spielen einige Jahre später. Es erstaunt uns vielleicht, dass eine einfache Ja-oder-nein-Frage (sollten wir an diesem Tag fasten?) eine so lange Antwort braucht. Aber im Großen und Ganzen lässt sich auch dieser Abschnitt gut verstehen, wenn auch nicht in jedem Detail. Soweit so gut.

Aber…

Aber was ist mit der zweiten Hälfte des Buches? Es gibt natürlich die, die klare und sichere Antworten liefern. Wir finden diese vor allem in Büchern und anderen Veröffentlichungen, die sich mit der Endzeit befassen. Ihre Auslegung von Sacharja basiert immer auf wenige Verse. Es sind immer dieselben Verse, die in dieser Literatur zitiert werden, z.B.: Jerusalem wird zu einer schweren Last, die alle Nationen heben müssen (12,3), und alle Nationen kämpfen gegen Jerusalem (14,2). Zusätzlich gibt es einige Zitate, die in den Evangelien auf Jesus hin gedeutet werden: der König auf einem Esel (9,9), der abgelehnte Hirte und die 30 Silberstücke (11,4-17; 13,7) und der Durchbohrten (12,10).

Es gibt hier zwei Probleme:

1. Der weitaus größere Teil des Buches wird meist einfach ausgelassen.

2. Man geht davon aus, dass sich klar unterscheiden lässt, was sich auf Leben und Sterben Jesu bezieht und was noch in der Zukunft liegt und in der Zeit vor seiner Wiederkunft in Erfüllung gehen wird.

Im Buch selbst allerdings erscheinen diese Aussagen nicht geordnet, sondern wild durcheinandergewirbelt. Wie bei: Rührei. Es ist überhaupt nicht klar, wie man Eiweiß und Eigelb da trennen sollte. Wir haben nur eine einzige, dramatische Darstellung, nicht ein Abwechseln zwischen zwei oder mehr Bildern, die wir unterscheiden könnten. Ohne das Evangelium zu kennen, wären wir nie drauf gekommen, dass die Erfüllung dieser Prophetien sich so ereignen würde.

Historische Erfüllung?

Als Alternative zur „futuristischen“ Auslegung wurde immer wieder versucht, die Erfüllung bestimmter Vorhersagen mit historischen Ereignissen zu verknüpfen, z.B.:

  • Der Siegeszug des Alexanders des Großen im 4. Jahrhundert v. Chr., der in der Eroberung Ägyptens gipfelte, in der ersten Hälfte von Kapitel 9
  • Der Überraschungserfolg der Makkabäer im 2. Jahrhundert v. Chr., in der zweiten Hälfte von Kapitel 9 und weiter; ihr Aufstand führte zu einer Phase der Unabhängigkeit für Israel
  • Selbstverständlich der Dienst und der Tod Jesu
  • Ereignisse in Verbindung mit der Zerstörung Jerusalems AD 70 in Sacharja 13 und 14

Das Problem mit diesen Versuchen ist, dass es alles nicht wirklich gut passt. Wann haben sich denn zum Beispiel die Philister (9,7)? Und klingt vieles nicht viel größer als all das, was in Israels Vergangenheit geschehen ist? Man wünscht sich eine bessere Erklärung.

Das macht Sacharja 9-14 zu einem guten Thema für diesen Brief: Lernen wir etwas über das Buch Sacharja! Auch wenn das bedeutet, dass dieser erste Lernbrief etwas anspruchsvoll wird (ist ja keine einfache Materie)…

Da es sich hier um einen Aufsatz und nicht um einen Kommentar mit 900 Seiten handelt, kann ich selbstverständlich vielen Details nicht gerecht werden. Ich will aber mehrere bedeutsame Themen im Buch besprechen, um so ein Gesamtbild darzustellen. Ich hoffe, dass das Buch damit ein ganzes Stück verständlicher wird.

[Bevor du weiterliest, ist es vielleicht sinnvoll, Sacharja 9-14 durchzulesen.]

Sacharja als Symphonie

Zunächst eine allgemeine Beobachtung. Die zweite Hälfte Sacharjas erinnert mich an die zweite Hälfte Jesajas (40-66). Es gibt sogar eine Parallele zum Knecht Gottes, der in mehreren etwas rätselhaften Stellen im Buch Jesaja auftaucht. Auch die Idee eines zweiten Exodus erscheint in beiden Büchern, obwohl Sacharja weitaus weniger dazu sagt als Jesaja.

In beiden Fällen gewinnen wir eine breite Schau auf das, was Gott alles noch tun will. Dazu werden mehrere Themen zusammen gewoben, auf eine Art und Weise, die oft mit einer Symphonie verglichen wird. Ein weiteres Bild: Beide Propheten vermitteln uns ein atemberaubendes Panorama. Überschrift: Gottes Erlösungsplan für die ganze Welt. Das alles wird in einem Bild zusammen gefasst, ohne Rücksicht auf Chronologie.

Was sind die Themen, die diese Symphonie bestimmen und das Panorama füllen?

Der kommende König

Wer andere Propheten im Alten Testament studiert hat, erkennt vielleicht das Muster in Sacharja 9. Wir lesen von einer mächtigen Bewegung des Gerichts, die vom Norden herunterkommt. In Israels Vergangenheit kamen so die Assyrer und die Babylonier als Gericht Gottes. Dieses Mal ist es anders. Erstens, weil der Kommende hier Gott selbst ist. Zweitens, weil die Philister nicht nur gerichtet werden. Erstaunlicherweise schließt der Prophet ihren Überrest in das Gottesvolk mit ein (9,7).

Und drittens, weil dieses Kommen Grund zur Freude und nicht zum Entsetzen ist. Achte darauf, dass es keine Unterteilung geben sollte in 9,9 (oder 9,11). Vers 9 ist der Höhepunkt der Bewegung der vorherigen acht Verse: Hier kommt Gott als König in Zion an. Der kommende König richtet und rettet die Nationen (und Israel). Gleichzeitig gründet er ein weltumfassendes Friedensreich. Es ist das, was Jesus begann zu tun, was seine Gemeinde jetzt fortführt, und was er bei seiner Wiederkehr vollenden wird.

Zweiter Exodus

Die Rückkehr des Königs geht Hand in Hand mit der Befreiung und Wiederherstellung von Gottes Volk (9,11f; 10; 6-11). Es handelt sich um die Rückkehr aus dem Exil; es ist ein zweiter Exodus. Auch hier ist die Vergangenheit (Auszug aus Ägypten) ein Muster für das, was Gott in der Zukunft tun wird. Auch wenn wir das hier nicht im Detail besprechen können: Es ist Jesus, der diesen zweiten Exodus vollzieht. Man denke zum Beispiel an Parallele zwischen dem Abendmahl und dem Paschafest. Oder daran, wie Jesus den Gefangenen Freilassung zuspricht und dabei Jesaja 61 zitiert.

Stärkung und Überfluss

Die erneuerte Gegenwart des Königs stärkt und befähigt sein Volk zum Krieg (9,13-15; 10,3-12; 12,5-8). Die schillernde Bildsprache dieser Verse vermittelt ein Gefühl großer Kraft und Vitalität, die Gott seinem Volk zukommen lässt. Es gibt auch einen neuen Überfluss, der hier allerdings nur kurz erwähnt wird (9,17f).

Der Hirte und seine Herde

Es ist in diesem Kontext der Stärkung, dass das Bild vom Hirten und von der Herde das erste Mal erscheint (9,16). Die Herde ist offensichtlich Israel und die Hirten stellen seine Leiter dar: Leiter, die versagt haben und unter Gottes Gericht stehen. Israel braucht, dass Gott selbst Hirte seines Volkes wird.

Da gibt es allerdings ein Problem. Das Gleichnis oder die vorgespielte Prophetie in Sacharja 11 macht es klar. Um ehrlich zu sein, es handelt sich dabei um die vielleicht schwierigste Stelle im Buch. Niemand hat es geschafft, manche seiner Details überzeugend zu erklären. Wir wissen nicht, wer die drei Hirten sind oder was sie bedeuten (11,8). Wir sind nicht sicher, in wie weit es sich hier um Israels Vergangenheit (geteilte Monarchie? Exil?), um die Gegenwart Sacharjas oder um die Zukunft (aus Sacharjas Perspektive) handelt.

Aber so viel ist sicher. Auch hier ist die Herde Israel. Und wenn Gott sich aufmacht Israels Hirte zu sein, wird er abgelehnt. Daraufhin übergibt er die Herde einem grausamen und wertlosen Hirten. Ähnliches war in Israels Vergangenheit passiert und würde aufs Neue geschehen: die Verwerfung Christi, das harte römische Joch und die katastrophale Leitung, die Israel AD 66 und ein weiteres Mal AD 132 in die Rebellion gegen Rom führte.

Gegen Ende von Kapitel 13 begegnen wir dem Hirten nochmals. Diesmal wird der Hirte geschlagen („durchbohrt“ in 12,10) und die Schafe werden zerstreut. Jesus zitierte kurz vor seiner Verhaftung genau diese Bibelstelle (Mt. 26,31) und erklärte somit, dass er selbst dieser Hirte sei. Es ist allerdings nicht einfach, Vers 8 und 9 zu deuten. Zwei Teile werden ausgerottet und ein Drittel wird geläutert, geprüft und erhört. Es ist unwahrscheinlich, dass hier einen zukünftigen Holocaust vorhergesagt wird, obwohl das ein beliebtes Thema der Endzeitliteratur ist. Wahrscheinlicher ist, dass es sich hier um Israels Verhältnis zu seinem Hirten im 1. Jahrhundert handelt. Es ist ein bekanntes Thema in den Propheten, dass nur ein Überrest – aber in diesem Fall ein großer Überrest – überlebt.

Diese Hirtenpassagen sind eine Parallele zu den Stellen in Jesaja, die von einem leidenden Gottesknecht reden. Auf den ersten Blick unterbrechen sie den Gedankengang. Sowohl in Jesaja wie auch in Sacharja ist die Verbindung zum unmittelbaren Kontext nicht sofort klar. Würde man sie herausnehmen, würde nicht offensichtlich etwas fehlen. Und doch sind gerade diese Stellen absolut zentral und wesentlich für die Vision einer kommenden Erlösung. Es ist der leidende Dienstknecht alias der abgelehnte Hirte, der Israel (und die Welt) von der Sünde erretten wird.

Buße

Wie es scheint, findet inmitten dieser Umbrüche eine tiefe Buße und einen tiefen Umkehr statt, die zur Reinigung und Läuterung des Landes und zu einer neuen Heiligkeit führen. Auch dies kennzeichnet die Endzeit, die Zeit nach Jesus: Sie ist nicht nur konfliktreich, sondern auch von echter Umkehr bestimmt.

Der Angriff

Obwohl das Thema einer großen Schlacht durchgehend präsent ist, bespreche ich es zuletzt, da es den abschließenden Höhepunkt des Buches in Kapitel 14 mit einschließt. Im Übrigen, in diesem Kapitel ist es am wenigsten klar, was wir erwarten oder uns vorstellen sollten. Es gilt also Vorsicht bei der Auslegung! Das Kapitel ist voller apokalyptischer Sprache und Bilder, die wirkungsvoll und beeindruckend sind, die sich aber schwer definieren lassen. Immerhin gibt es einiges, was sich sagen lässt.

  • Sacharja 14 mag in vielen Details unklar wirken, aber wenigstens hat es eine deutliche Struktur. Es gibt einen klaren Wechsel zwischen Beschreibung der Schlacht (1-5; 12-15) und Beschreibung der neuen Weltordnung, das neue Zeitalter, das auf den endgültigen Sieg über das Böse folgt. In dieser neuen Welt wird Jahwe einer sein, er wird der einzige sein, und er wird in Wahrheit und in Reinheit verehrt.
  • Es gibt im Alten Testament einen historischen Präzedenzfall für den Angriff in Kapitel 12 und 14. Es handelt sich um ein Muster aus der Vergangenheit, das verwendet wird, um Sacharjas Zukunft zu beschreiben. Im Hintergrund steht der assyrische Angriff unter Sanherib im 8. Jahrhundert. Wie Jesaja vorhergesagt hatte, wurde Jerusalem auf wunderbare Weise durch Gottes Eingreifen gerettet. In den letzten Tagen würde Gott das nochmals tun.
  • Uns sollte bewusst sein, wie solche Themen im Neuen Testament neu definiert werden. Es gibt kein geographisches Zentrum mehr. Das Böse wird im Neuen Testament wesentlich besser verstanden. Der alttestamentliche Konflikt zwischen Israel und den Nationen verwandelt sich in einen Konflikt mit den geistlichen Mächten hinter diesen Nationen. Wo Gott im AT die Nationen wegen ihrer Aggression gegen Israel richtet, wird daraus im NT sein totaler Sieg über alles Böse. Es stellt sich sogar heraus, dass diese Nationen wie Israel ebenfalls Gegenstand der Liebe Gottes sind. Auch sie werden gerettet. Die Schlacht ist gegen die Mächte und Gewalten, und sie sind es, die verurteilt und vernichtet werden. Der unbußfertige Teil der Welt (und Israels) sind davon zwar betroffen, allerdings wegen dieser Unbußfertigkeit, nicht aus ethnischen Gründen. Offenbarung 19 und 20 bieten eine ausführliche Neuinterpretation dieses Themas. Im Grunde genommen könnte man das ganze Buch Offenbarung als eine solche Neuinterpretation verstehen. Offensichtlich gilt der Angriff Christus und sein Volk. Daraus folgt, dass es eventuell gar keinen Weltkrieg gegen Israel und Jerusalem als Erfüllung von Sacharja geben muss.
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Alles in allem bietet Sacharja eine besonders grafische Darstellung dieses bekannten prophetischen Themas der letzten Schlacht. Der beste Vergleich für diese Darstellung, die mir in den Sinn kommt, ist expressionistische Kunst (daher die Frage unter dem Bild am Anfang: „Verstehst du es?“). Ziel des Expressionismus ist nicht ein Bild, das der Wirklichkeit möglichst genau entspricht. Es geht darum, Gefühle, Eindrücke und Emotionen zu erfassen und zu übertragen: Wie fühlt sich etwas an? Sacharja bedient sich dazu besonders greller Farben. Es geht also nicht darum, ein nahezu fotografisches Bild künftiger Szenen zu malen. Es handelt sich nicht um einen Tatsachenbericht im Voraus. Vielmehr geht es darum, dass wir etwas von der Angst und Erschütterung nachvollziehen können, und gleichzeitig trotzdem Kraft gewinnen.

Denn Gott wird retten, das ist sicher. Das mag mit großen Turbulenzen und Umstürzen einhergehen. Aber wenn, dann spricht Gott uns gleichzeitig eine tiefe Stärkung zu.

Dieser Zuspruch gilt für jeden von uns. Wenn uns eine Schlacht oder ein Kampf bevorsteht, dann hat Sacharja uns etwas zu sagen: Gott bevollmächtigt dich! Ein Grundsatz, der sich leicht auch großschalig anwenden lässt. Zum Beispiel aktuell in der Ukraine. Egal ob deine erste Sprache Russisch oder Ukrainisch ist: Gott befähigt und stärkt dich zum Kampf! Nicht um einen Krieg zu führen, sondern gerade um ihn nicht zu führen. Auf jeden Fall nicht, ohne zu durchschauen, welche der eigentliche Krieg und der wirkliche Feind sind.

Gott bevollmächtigt dich!

(1) Zitiert in A. Wolters, “Zechariah 14: A Dialogue with the History of Interpretation”, Mid-America Journal of Theology (2002), 13:41.

Nächste Ausgabe: Das Wort als Nahrung?

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