Was machen wir, um uns geistlich zu ernähren?
Diese Frage hat eine unglückliche negative Seite. Viele von uns reagieren mit Schuldgefühlen. Genau betrachtet ist das eine merkwürdige Reaktion. Die meisten von uns werden heute Abend essen. Nehmen wir an, dass wir dies aus irgendeinem Grund vergessen oder nicht dazu kommen. Wie würde es uns dabei gehen? Würden wir mit Schuldgefühlen kämpfen? Oder mit Hunger?
Diesen Brief gibt es auch in Englisch als Video Podcast
Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber für mich ist Frühstück oder Mittagessen nicht eine Verpflichtung, die ich erfüllen muss. Ich esse, weil ich Appetit habe, weil ich Energie brauche für den Tag und, nun ja, weil ich gerne esse.
Es kommt vor, dass ich eine Mahlzeit vergesse. Manchmal gehe ich so auf in dem, was ich mache, dass ich jedes Gefühl für Zeit verliere. Um zwei oder drei Uhr nachmittags kommt Franziska nach Hause und fragt mich, ob ich schon zu Mittag gegessen habe. Die sofortige Auswirkung ist, dass ich meinen Appetit spüre – nicht Schuld.
Warum geht es mir so anders, wenn ich vergesse, Zeit mit Gott zu verbringen? Es kann nicht an seine Reaktion liegen. Wann immer ich an seiner Tür stand, nachdem ich eine oder mehrere Verabredungen verpasst hatte, erwartete mich nicht Vorwurf, sondern ein herzliches Willkommen.
Wie es scheint, spüren wir unseren geistlichen Appetit nicht so klar und bewusst wie den körperlichen. Es braucht deswegen etwas mehr Anstrengung und bewusste Absicht, damit wir geistlich in Form bleiben. Diese Anstrengung ist allerdings wesentlich, da wir sonst schwach und ineffektiv bleiben. Möglicherweise sehr beschäftigt, aber nicht unbedingt mit bleibender Frucht. In diesem Brief beschränke ich mich auf eine Form des geistlichen Inputs: das Wort als Nahrung.
Das Wort als Nahrung
Zwei Bemerkungen bevor es praktisch wird. Erstens, Bibelstudium und Bibelwissenschaft sind nie Selbstzweck. Wenn unser Studium uns nicht in die Gegenwart Gottes führt, haben wir das Ziel verpasst. Das Gleiche trifft zu, wenn unser Studium uns unverändert lässt. Der Bibelgelehrte Gordon Fee hat es so ausgedrückt:
Das eigentliche Ziel aller Theologie ist Doxologie (1) [Doxologie bezeichnet ein Gott verherrlichendes Gebet, oft in feierlicher Form].
Das Thema scheint mir daher angebracht und passend für diesen Rundbrief. Wir alle brauchen das Wort als Nahrung, indem wir „auf den Geist im Text hören“ (2, auch Gordon Fee). Studium und eventuell Unterrichtsvorbereitung reichen da nicht aus.
Zweitens, ich möchte etwas Theoretisches sagen, das mir absolut grundlegend erscheint. Sich am Wort ernähren ist ein Akt des Empfangens. Unsere Einstellung ist deswegen entscheidend wichtig. Es funktioniert nur, wenn wir bereit sind, zu empfangen und uns unterzuordnen. Unsere menschliche Tendenz ist es, informationsorientiert zu lesen. So behalten wir die Kontrolle. Wir entscheiden, was wesentlich ist. Aber wenn es darum geht, die Bibel zu lesen oder Gottes Wort auf anderem Wege zu hören, ist das Hauptziel nicht die Information. Wie es im oft zitierten Wort des Evangelisten D.L. Moody heißt: „Die Bibel wurde nicht zur Information, sondern zur Transformation gegeben.“ (3)
Jesaja 55:1-3a (Luther 1984) ist dazu eine Schlüsselstelle:
Fällt dir auf, wie viele Wörter etwas mit Essen und Trinken zu tun haben? In den letzten Zeilen wird klar, dass es hier aber nicht darum geht, den Bauch zu füllen. Essen und Trinken sind ein Bild dafür, was Gott sagen möchte. Das Wesentliche dabei ist, dies anzunehmen und darauf zu hören. Wenn wir unseren Mund verschließen, bleiben wir hungrig. Wenn wir die Ohren verschließen, fehlt es uns am Leben.
Einer der Orte, wo Gott spricht, ist die Bibel. Sie ist nicht der einzige Ort, aber ein wichtiger. Diese Einstellung, hören und empfangen zu wollen, ist daher essenziell, wenn wir die Bibel lesen.
Möglichkeiten
Angenommen, wir bringen die richtige Einstellung zum Text, was machen wir jetzt? Wahrscheinlich fällt es vielen von uns nicht leicht, uns regelmäßig mit der Bibel zu befassen. Ein Grund dafür könnte sein, dass wir versuchen das zu tun, was andere tun. Irgendjemand hat uns ein Rezept vermittelt und wir versuchen, dieses Rezept einigermaßen treu umzusetzen. Die Tatsache ist aber, dass wir alle unterschiedlich sind. Was für andere großartig funktioniert, könnte für mich genau das Falsche sein. Jeder von uns muss die eigenen Präferenzen und Erfolgsrezepte entdecken. Hier folgen einige Möglichkeiten:
- Bibelmeditation. Ich erwähne sie zuerst, weil man auch meditieren kann, wenn man nur wenig Zeit hat – und der Gewinn ist groß. Was ich soeben zu Jesaja 55 geschrieben habe, ist ein Beispiel. Wir entscheiden uns für einen Vers oder einen Absatz und lesen ihn mehrmals durch. Wir stellen uns Fragen wie: Welche Personen werden erwähnt? Was wird gesagt? Was bedeutet dieses Wort? Was verstehe ich nicht? Wenn uns keine passende Frage einfällt: Welche Frage ist für diesen Text sinnvoll? Was hat das alles mit mir zu tun? Wir lesen den Text immer wieder durch. Wir versuchen zuerst, den Text zu verstehen; anschließend fragen wir, was Gott uns damit sagen möchte. Geht es darum, etwas besser – oder tiefer – zu verstehen? Gibt es etwas zu tun? Braucht es eine Veränderung? Die beste Bibelmeditation endet als Dialog mit Gott, wobei meistens Gott das eigentliche Thema vorgibt.
- Lectio Divina, eine traditionelle und strukturierte Form der Meditation. Wortwörtlich bedeutet Lectio Divina göttliches Lesen. Zweck ist Gemeinschaft mit Gott durch das Lesen der Schrift, Meditieren und betend Antworten. Papst Benedict XVI beschreibt Lectio Divina als „die sorgfältige Lesung der Heiligen Schrift, begleitet durch Gebet, die zu jenem intimen Dialog führt, in dem der Lesende Gott hört, der spricht, und ihm im Gebet mit vertrauensvollem und offenem Herzen antwortet.“ (4) In der klassischen Form gibt es vier Schritte:
- Lectio: Wir kommen zur Ruhe und stellen uns bewusst in Gottes Gegenwart. Wir lesen langsam und aufmerksam jedes Wort. Wir fragen uns, ob irgendetwas heraussticht oder uns besonders anspricht.
- Meditatio: Wir meditieren über dieses Wort oder über diesen Ausdruck. Während wir nachdenken und überlegen, eröffnen wir im Gebet einen Dialog mit Gott, der nächste Schritt.
- Oratio: Wir beten und führen ein Gespräch mit Gott. Wir teilen ihm unsere Überlegungen mit, stellen Fragen, und hören zu.
- Contemplatio: Wir ruhen in Gott und genießen seine Gegenwart. Während wir ihn verehren, empfangen wir, was er uns geben will.
Natürlich könnte eine solche Art zu lesen auch merkwürdige Blüten treiben. Sie kann zu Überlegungen und Schlussfolgerungen führen, die nichts mehr mit dem Text zu tun haben. Diese Vorgehensweise ist alles andere als induktiv. In der Praxis funktioniert sie allerdings überraschend gut. Gerade denjenigen von uns, die eine Bibelschulung absolviert haben, könnte sie viel bringen. Denn unser theologisches und biblisches Verständnis erleuchten dann diese mehr intuitive Lesart der Schrift. Lectio Divina ersetzt somit nicht das Studium der Bibel, sondern baut darauf auf.
- Bibelworte von Hand abschreiben. Wenn wir den Text, der uns beschäftigt, von Hand aufschreiben, sind wir gezwungen, ihn aufmerksam zu betrachten und jedes Wort wahrzunehmen.
- Tagebuch. Während wir meditieren, erfassen wir unsere Gedanken und Überlegungen schriftlich in Form eines Tagebuches. Es könnte uns helfen, bei der Sache zu bleiben und uns weniger ablenken zu lassen.
- Schriftworte auswendig lernen. Irgendwie scheint das Auswendiglernen von Bibelversen seit den siebziger Jahren aus der Mode gekommen zu sein. Aber vielleicht ändert sich das wieder. Und möglicherweise ist es für manche von uns genau das Richtige – daher will ich es hier auf jeden Fall erwähnen.
- Die ganze Bibel durchlesen. Google Bibelleseplan, wenn du dabei Hilfe in Form eines Planes haben möchtest. Wer das schon öfter versucht und nicht geschafft hat: Wie wäre es mit einem kleineren Ziel? Zum Beispiel ein größeres Buch, das du noch nie oder vor langer Zeit gelesen hast.
- Eine andere Ausgabe oder eine Übersetzung in eine andere Sprache lesen. Zur Zeit lese ich die Bibel auf Spanisch, weil ich meine Spanischkenntnisse verbessern möchte. Das ist eine Herausforderung, und ich komme nur langsam voran. Es gibt mir aber auch einen erfrischend neuen Zugang zur Bibel. Ich nehme Aussagen war, von denen ich nicht wusste, dass sie in der Bibel zu finden sind.
- Wer sagt, dass wir allein lesen müssen? Für manche ist es einfacher, mit anderen zusammen zu lesen. Also gründe eine Bibellesegruppe, die sich zu festen Zeiten für eine Stunde oder 30 Minuten zum Lesen trifft.
- Wer sagt, dass wir lesen müssen? Vielleicht fällt es uns leichter, das Hören wörtlich zu nehmen, und besorgen uns eine Hörbibel.
- Mehrfaches Lesen. Wir lesen den Text mehrere Male durch. Wir können zum Beispiel ein kurzes Buch eine Woche lang jeden Tag einmal durchlesen. Am Ende der Woche wissen wir dann ziemlich genau, was in dem Buch steht!
- Kreative Verarbeitung. Wir versuchen das, was uns klar geworden ist, kreativ zu erfassen: eine Zeichnung, ein Lied, eine Skulptur, …
- Die Schrift beten. Wir wandeln den Text um und verwenden ihn als Segen für eine Person, die uns eingefallen ist, oder als Gebet, oder auch als konkretes Glaubensbekenntnis für eine bestimmte Angelegenheit.
- Ein Buch über die Bibel oder über ein biblisches Thema lesen. Manchmal stecken wir fest. Unser Lesen der Bibel bringt uns nichts Neues. Dann kann es hilfreich sein, frische Ideen und Impulse zu erhalten, die uns einen neuen Blick auf altbekannte Bibelstellen ermöglichen. Einen guten Anfangspunkt bieten Gordon Fee und Douglas Stuart, Effektives Bibelstudium: Die Bibel verstehen und auslegen. Vielleicht hilft uns auch ein Andachtsbuch weiter.
- Studienwoche. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, an einer Schule für Bibelstudium oder an einem anderen Bibelkurs eine Woche als Gast teilzunehmen, und so neue Impulse für unser eigenes Lesen zu bekommen.
- Studium. Ein Buch, ein für uns interessantes Thema oder eine uns wichtige Bibelstelle zu studieren, braucht viel Zeit und Aufwand. Aus dem Grund erwähne ich es zuletzt. Falls wir irgendwelche Predigt- oder Unterrichtstermine angenommen haben, bleibt uns eventuell keine Wahl! Aber auch ohne Zeitdruck lohnt es sich, hin und wieder etwas Freiraum für Studium zu schaffen. Es gibt so viel Tolles zu entdecken!
Da ich so viele Jahre in der SBS mitgearbeitet habe, wird es keine Überraschung sein, dass ich vom induktiven Bibelstudium begeistert bin. Mir ist aber klar, dass man die vollständige SBS-Methode unmöglich im normalen Alltag umsetzen kann. Der Kern lässt sich allerdings in drei einfachen Schritten erfassen:
- Beobachtung: Was steht im Text?
- Auslegung: Was bedeutet das?
- Anwendung: Was sollte ich auf Grund dieses Textes tun? Wie antworte ich?
Auch wenn wir viel zu tun haben, ist es nicht unmöglich, einen Bibelvers, eine Bibelstelle oder vielleicht sogar ein kleineres Buch zu lesen und uns diese drei Fragen zu stellen.
Sinn dieser Auflistung ist natürlich nicht, dass wir alle erwähnten Aktivitäten aufgreifen. Es geht vielmehr darum, ein Gespür dafür zu vermitteln, dass es eine breite Palette von Möglichkeiten gibt. Und uns zum Nachdenken zu bringen: Was in dieser Liste entspricht mir?
„So werdet ihr leben!“
Jetzt noch ein Wort für diejenigen unter uns, die, wie ich, berufsmäßig predigen oder unterrichten. Wir Glückspilze! Wir nehmen uns Zeit, die Bibel zu studieren, und dürfen das Arbeit nennen. Aber gerade für uns möchte ich diese Warnung wiederholen: Es reicht nicht aus, die Bibel zu studieren. Im Großen und Ganzen behalten wir dabei die Kontrolle. Es ist nicht zwingend notwendig, dabei die Einstellung des Hörens und Empfangens einzunehmen, die ich erwähnte. Studieren ist gut und richtig, aber es braucht mehr. Das trifft selbst zu, wenn wir Anwendung als den dritten Schritt des induktiven Bibelstudiums miteinschließen. Denn vielleicht entscheide ich hier auf der Grundlage meines Verständnisses und setze mir Ziele basierend auf dem, was ich ändern möchte. Was, wenn überhaupt, hat Gott dabei einzubringen?
Vielleicht brauchen wir nicht mehr Studierzeit, sondern vielmehr Zeit, um zuzuhören und zu empfangen. Das Wort braucht Raum, damit es sein Werk in uns tun kann. Meditation und Reflexion müssen unser Studieren begleiten.
Ich schließe mit einem weiteren Essensvergleich. Wenn wir zurückblicken, gibt es bestimmt besondere Mahlzeiten, an die wir uns erinnern. Sie waren außergewöhnlich und wahrscheinlich Teil eines speziellen Anlasses. Ich denke an das Buffet zu unserer Hochzeit, meine erste Weihnacht in der Schweiz, und die Pfannkuchen, die meine Großmutter für mich backte, als ich noch Kind war.
Aber seien wir ehrlich, es sind nicht diese relativ wenigen, besonderen Mahlzeiten, an die ich mich erinnern kann, die es mir ermöglicht haben, erwachsen zu werden. Was hast du am 28. Juni 1998 gegessen? Ich weiß es auch nicht mehr. Es sind die tausenden Mahlzeiten, an die ich mich nicht erinnere, die mich zu der Person gemacht haben, die ich jetzt bin.
Das, was wir jeden Tag tun, ist am wichtigsten. Laut Paulus „wirkt“ Gottes Wort in uns, die glauben (1. Thess. 2,13). Es ist tatsächlich wunderbar fähig und wirkt stille Verwandlung in uns – aber nur, wenn wir ihm Zeit geben.
Wie wäre es also, heute neu zu überlegen, wie diese Zeit für dich aussehen könnte?
Literaturangaben:
(1) Gordon Fee, Listening to the Spirit in the Text (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2000), kindle position 93.
(2) Ibid., Title.
(3) Auf jeden Fall behauptet im Internet jeder, D.L. Moody habe dies gesagt. Ich habe aber keine Literaturangabe für dieses vermeintliche Zitat finden können.
(4) Zitiert in: Wikipedia, „Lectio Divina“. http://en.wikipedia.org/wiki/Lectio_Divina 9. Mai 2014.
Nächste Ausgabe: Special Project!