Mein erstes Special Project: Ich lese das Dictionary of the Old Testament Prophets (IVP 1)

Endlich! Ich habe lange auf diese Gelegenheit gewartet. Und ich lade Dich ein, die Lernerfahrung mitzuerleben.

Ich werde das Konzept gleich kurz beschreiben, aber dieses vierminütige Video vermittelt die Idee besser als geschriebene Worte. Somit bitte ich Dich, zunächst das Video anzuschauen und dann diesen Brief fertig zu lesen. Der enthält nämlich auch den ersten Lesebericht, der nicht im Video enthalten ist; Du brauchst für das Gesamtbild also beides, Podcast und Brief.

Konzept des Projekts

Es handelt sich um folgendes Buch:

Mark J. Boda & J. Gordon McConville (eds), Dictionary of the Old Testament Prophets (Downers Grove, IL: IVP Academic, 2012).

Die Grundidee:

  • Ich versuche, dieses Buch in zehn Wochen zu lesen (das bedeutet etwas mehr als 90 Seiten pro Woche).
  • Jede zweite Woche schreibe ich einen Bericht über das, was ich gelernt habe. Zum Teil sind diese Berichte Sonderausgaben des Lernbriefes. Wahrscheinlich werde ich im August zusätzlich einen normalen Monatsbrief zu einem anderen Thema schreiben.
  • Wenn es klappt, erscheint im September der abschließende Bericht, und darin auch meine persönlichen Top Zehn: die Artikel, die ich besonders informativ und hilfreich fand.
  • Ich habe dieses Buch nicht angeschaut, bis ich vor zwei Wochen mit dem Lesen angefangen habe. Es kann also sein, dass ich diesen Plan ändern muss. In dem Fall ist das Teil der Lernerfahrung.

Folgendes möchte ich erreichen:

  • Ich bin wieder auf dem Laufenden über die alttestamentlichen Propheten.
  • Ich gewinne neue Einsichten, die ich mit Dir teilen kann.
  • Zusammen verstehen und schätzen wir die Propheten besser.
  • Es inspiriert Dich, auch etwas Herausforderndes zu lesen.

Soweit das Konzept. Die ersten Wochen lesen liegen inzwischen schon hinter mir; daher folgt jetzt der erste Lesebericht.

Lesebericht 1

Nun ja, ich habe mehr Zeit gebraucht als erwartet: gegen acht Stunden pro Woche statt fünf. Für die Sommermonate ist das aber möglich, daher bleibe ich beim Plan.

Tatsache ist, dieses Lexikon bildet keinen guten ersten Einstieg in das Thema der Propheten. Dazu setzt es zu viel voraus und geht wohl auch zu sehr ins Detail. Es ist für Leser, die es genau wissen wollen, gerade auch, wenn es um Lehrmeinungen der Experten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht.

O warte, nein, es enthält keine Lehrmeinungen aus der Zukunft, da es selbst kein prophetisches Buch ist. Es ist ein Nachschlagewerk. Somit ist es wohl auch gar nicht einfach zum Lesen gedacht. Mir hat es aber Spaß gemacht (hmm… da kannst Du jetzt Deine Schlussfolgerungen über mich ziehen).

Das vielleicht Wichtigste, das mir in diesen zwei Wochen aufgefallen ist: Diese Art zu lesen – zu wissen, ich muss dazu etwas schreiben, oder auch nur, ich will mir dazu Notizen machen – intensiviert die Lernerfahrung enorm. Ich bin viel mehr bei der Sache und weiß anschließend besser, was ich gelesen habe. Das will ich mir merken: Ich habe wesentlich mehr davon, wenn ich mir beim Lesen hin und wieder ein paar Notizen in eine Word-Datei oder in Evernote aufschreibe.

Die meisten Artikel (Einträge; insgesamt enthält das Buch 115 davon) lassen sich in vier Kategorien unterbringen:

  • Einführung in ein prophetisches Bibelbuch
  • Wichtiges Thema in den Propheten (z.B. Engel, Schöpfung, Tod)
  • Hintergrundinformationen
  • Methodologien, d.h., bestimmte Herangehensweisen oder Ansätze der Bibelforschung

Anbei einige Highlights, die ich weitergeben möchte.

Daniel (Kategorie: Einführung in ein Bibelbuch)

Da ich erst beim Buchstaben „E“ angekommen bin, hatte ich davon erst zwei: Amos und Daniel. Beide fand ich schon fast spannend zum Lesen, auch wenn der Daniel-Artikel zur Schlussfolgerung kommt, dass dieses Buch erst im 2. Jahrhundert v. Chr. fertig gestellt wurde, also nicht von Daniel selbst. Er lebte im 6. Jahrhundert, 400 Jahre früher.

Immerhin formuliert der Autor es vorsichtig und lehnt eine Frühdatierung nicht kategorisch ab: „Die Belege für die Datierung der endgültigen Form von Daniel sind nicht eindeutig. Sowohl für eine Früh- wie auch für eine Spätdatierung lässt sich eine begründete und redliche Beweisführung aufstellen“ (p. 120).

Überraschend ist, dass der Artikel für diese Spätdatierung kaum Argumente liefert. Das alte Argument, dass die Sprache des Buches auf eine späte Datierung hinweist, weil sie zu modern ist (relativ gesprochen), wird vom Verfasser weitgehend widerlegt. Es bleibt dann fast nur, dass die meisten Gelehrten heutzutage nun mal dieser Meinung sind.

Außerdem gibt es Überlegungen zu Daniel 11, die eventuell in diese Richtung deuten. Es handelt sich um ein einzigartiges Kapitel der Bibel. Datiert im Jahr 536 v. Chr. (Dan. 10,1), wird hier detailliert beschrieben, was sich in den nächsten vier Jahrhunderten ereignen wird. Kein anderer Abschnitt in den Propheten gibt auch nur annähernd so viele Details über künftige Ereignisse. Die Propheten sind ja nicht die christliche oder jüdische Alternative zu Wahrsagern und Astrologen. Sie veröffentlichen keine Zukunftsprognosen, sondern rufen zu Umkehr auf. Daher kann ich schon nachvollziehen, dass Ausleger hier zögern: Das Kapitel scheint „out of character“, es passt nicht ins Bild dessen, was und wie Gott sonst offenbart.

Also doch eine Fertigstellung im 2. Jahrhundert (und Daniel 11 als Geschichtsschreibung, die als Vorhersage umformuliert wurde)?

Hier ist noch ein interessantes Detail: Bei Qumran, in der Nähe vom Toten Meer, wurden ab 1948 viele alte Schriftrollen gefunden. Darunter sind insgesamt acht Schriftrollen des Propheten Daniel (er war offensichtlich beliebt in Qumran). Die älteste wurde auf Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. datiert. Nur wenige Jahrzehnte nach der vermeintlichen Fertigstellung des Buches wurde es von dieser jüdischen Gemeinschaft also als authentisch akzeptiert.

Also wurde das Buch doch lange vor dem Ende des 2. Jahrhunderts fertiggestellt?

Das letzte Wort über die Datierung Daniels wird wohl noch eine Weile auf sich warten lassen…

Apokalypse

Der Artikel über Apokalyptik passt nicht richtig in eine der vier Kategorien, die ich oben aufgelistet habe. Vielmehr wird hier eine Gattung oder ein Genre definiert und erklärt. Eine solche Aufklärung ist wichtig, weil der Begriff Apokalypse oft inkonsequent verwendet wird. Dazu kommt noch, dass unsere Gesellschaft gerne vieles, was mit Zerstörung zu tun hat oder generell schlimm ist, mit dem Begriff apokalyptisch belegt, was die Verwirrung noch vergrößert.

Vielfach wird heute eine Definition verwendet, die 1979 von der Society of Biblical Literature vorgeschlagen wurde. Sie ist schwer und dicht, aber sie ist es wert, langsam und mehrmals gelesen zu werden:

A genre of revelatory literature with a narrative framework, in which revelation is mediated by an otherworldly being to a human recipient, disclosing a transcendent reality which is both temporal, and so far as it envisages eschatological salvation, and spatial insofar as it involves another, supernatural world. (p. 36)

[Übersetzung:] Eine Gattung offenbarender Literatur mit einem erzählenden Rahmen, in der ein jenseitiges Wesen einem menschlichen Empfänger eine Offenbarung vermittelt, die eine transzendente Wirklichkeit aufdeckt, die sowohl zeitlich bedingt ist, da sie eine eschatologische [endzeitliche] Errettung vorsieht, wie auch räumlich, da sie eine andere, übernatürliche Welt betrifft.

Nebst Daniel gibt es im Alten Testament weitere Abschnitte, die diese Definition teilweise erfüllen und daher oft als Vorläufer oder Prototypen betrachtet werden, wie z.B. Sacharja 1-8 und Hesekiel 40-48.

Leider setzt dann doch wieder die Verwirrung ein, indem der Artikel auch Bibelstellen wie Jesaja 24-27 und Sacharja 9-14 als Proto-Apokalypsen auflistet. Sacharja 14 wird sogar als „vollständig entwickelte Apokalypse“ bezeichnet (p. 42). Dabei erfüllen diese Abschnitte nur eine einzige der oben aufgelisteten Kriterien: Sie handeln von einem endzeitlichen Eingreifen Gottes. Und gerade diese Überzeugung, dass Gott eingreifen und ein neues Zeitalter einläuten würde, war im nachexilischen Judentum weit verbreitet. Sie war nahezu eine Eigenschaft des ganzen damaligen Judentums (inklusive Jesus, Paulus und Urkirche) und war nicht auf diese eine Gattung begrenzt.

Es scheint also fehl am Platz, solche Bibelstellen (wie auch die sogenannte Endzeitrede Jesu in Markus 13) als „apokalyptisch“ zu bezeichnen.

Chaos und Kosmologie (Kategorie: Hintergrundinformationen)

Gerade in den beiden Artikeln „Chaos“ und „Kosmologie“ ist mir wieder klar geworden, wie wichtig Hintergrundinformationen über die damalige Zeit, Kultur und Denkweise sein können. Diese Menschen lebten fast wörtlich in einer anderen Welt. Schon nur das Wort Kosmologie macht dies klar. Kosmos ist das griechische Wort für die geordnete Welt, also die Welt, die wir bewohnen können. Für uns bezeichnet das Wort Kosmos allerdings vor allem das Universum, nicht, oder nicht nur, die bewohnbare Erde. Die Erde verstehen wir als Planeten mit der Form einer Kugel.

Ein solches Konzept wie Universum oder All gab es damals allerdings noch gar nicht, weder bei den alten Griechen, noch bei den Israeliten im Alten Testament. Die Erde verstanden sie als eine Scheibe, umringt vom chaotischen Meer, das somit als eine unheimliche und bedrohliche Macht wahrgenommen wurde.

In der Mythologie verschiedener Völker wurde dieses Meer personifiziert und als wüstes Monster oder Ungetüm dargestellt. Gegen diese böse Chaos-Macht, dass die Götter sich durchsetzen mussten. Sowohl die Propheten wie auch die Psalmen „spielen“ mit diesem Element, vor allem auch um Gottes endgültigen Sieg über die Völker und das Böse in der Welt darzustellen:

Zu der Zeit wird der HERR heimsuchen mit seinem harten, großen und starken Schwert den Leviatan, die flüchtige Schlange, und den Leviatan, die gewundene Schlange, und wird den Drachen im Meer töten. (Jes. 27,1; Luther 84)

Die Wortwahl ist der in einem kanaanitischen Mythos über Baals Kampf gegen den Meeresgott Yamm sehr ähnlich. Da kann es sich nicht um Zufall handeln: Jesaja borgt ein mythologisches Bild, füllt es allerdings neu aus.

Auch im Neuen Testament finden sich diese Mythen wieder: Der Drache und das erste Tier (das aus dem Meer kommt) in Offenbarung 12-13 greifen sie klar auf, auch wenn die Offenbarung sie ebenfalls neu ausfüllt.

Zum Schluss ein Beispiel, wie Hintergrundwissen beim Verstehen helfen kann. Es zeigt gleichzeitig, wie reich und kraftvoll die prophetische Bildsprache ist – ein rhetorisches Schmuckstück, auch wenn es sich um eine Gerichtsprophetie handelt.

So spricht der HERR: Gleichwie ein Hirte dem Löwen zwei Beine oder ein Ohrläppchen aus dem Maul reißt, so sollen die Israeliten herausgerissen werden, die zu Samaria sitzen in der Ecke des Ruhebettes und auf dem Lager von Damast. (Am. 3,12; Luther 84)

Mir war vorher schon klar, dass diese Aussage etwas Ironisches hat: Viel lässt sich da ja nicht retten! Zwei Beine und ein Ohrläppchen, da kann man nicht von Rettung reden.

Es kommt aber noch schöner. Oder härter. Es geht hier um die Reste, die ein Schafshirte dem Löwen in einem solchen Fall unbedingt entreißen möchte. Denn nur so kann er belegen, dass das fehlende Tier tatsächlich von einem Raubtier zerrissen wurde. Es wird von Israel also gerade nur so viel übrig bleiben, dass dieser Rest belegt, dass Gottes Gericht tatsächlich stattgefunden hat.

Leider hat das Lexikon bisher nur wenige derartige Leckerbissen dargeboten; davon dürfte es mehr geben!

Nächste Ausgabe zu diesem Projekt (IVP 2)

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