Was ich von N.T. Wrights Wälzer über Paulus lerne, Teil 2
In Römer 10 redet Paulus vom Gegensatz zwischen der Gerechtigkeit, die auf Werke basiert, und der Gerechtigkeit aus dem Glauben. Beide begründet er mit einem Vers aus der Thora. Für die Gerechtigkeit durch Werke zitiert Paulus 3. Mose 18,5:
Denn der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben; ich bin der HERR. (Luther 84)
Für die Gerechtigkeit aus Glauben zitiert er 5. Mose 30,12-14:
Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust. (Luther 84)
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als Video Podcast
Auf den ersten Blick überzeugt diese Begründung nicht. Das Gesetz schreibt Gehorsam als Weg zum Leben vor. Wie kann das gleiche Gesetz auch verwendet werden, um Erlösung aus dem Glauben zu begründen?
Schlimmer noch, für seine Beweisführung verwendet Paulus einen Vers, der sich im Zusammenhang auf das Gesetz zu beziehen scheint, nicht auf den Glauben oder auf das Evangelium. Wäre „das Wort“ in 5. Mose 30,14 im Kontext nicht eher das Gesetz als die Botschaft Jesu? Reißt Paulus somit wahllos Texte aus ihrem Zusammenhang, um sie als Beleg für seine Sicht der Dinge zu (miß)brauchen?
Eine mögliche Erklärung, die mir lange eingeleuchtet hat, ist diese. Das Gesetz hat zwei Seiten oder zwei Auswirkungen. Es hängt davon ab, wie wir die Gebote betrachten. Sehen wir sie als Weg, wie wir auf Gottes Gnade reagieren, dann ist alles in Ordnung. Betrachten wir das Gesetz allerdings als Weg, irgendwie Gottes Gunst zu erwerben oder unseren Status als Gottes Volk zu beweisen oder aufrechtzuerhalten, dann wird das gleiche Gesetz ein Instrument des Todes, nicht des Lebens.
Im Großen und Ganzen scheint mir das immer noch korrekt, es erklärt jedoch nicht, wie 5. Mose 30,12-14 als Hinweis auf Christus und sein Wort verstanden werden kann. Was hat Paulus sich dabei gedacht!?
Genau das ist die Frage, auf die N.T. Wright in seinem Buch Paul and the Faithfulness of God eine Antwort sucht, wenn auch im breiteren Sinne: Was hat Paulus gedacht? Welches war seine Weltanschauung, seine Denkweise, seine Theologie?
Dabei wird schnell klar: Paulus war ein zu disziplinierter Denker, als dass er einen Vers aus dem Zusammenhang gerissen hätte, um ihn zu verwenden, wie ein Betrunkener eine Laterne: nicht des Lichtes wegen, sondern als Stütze.
In diesem zweiten Aufsatz über Wrights Buch zu Paulus (den ersten findest du hier) geht es darum, wie Paulus mit diesem Zitat umgeht.
Erzählung
N.T. Wright sieht Erzählung oder Geschichte als Schlüssel zur Gedankenwelt des Paulus und der meisten anderen Juden seiner Zeit. Sie verstanden sich als Teil einer langen Geschichte. Von dieser Geschichte wird im Alten Testament ausführlich berichtet; die Bibel ist ja vor allem ein Geschichtsbuch.
Dies trifft sogar für den Teil der Bibel zu, den wir aufgrund seines griechischen Namens das Gesetz nennen. Sein hebräischer Name, Thora, bedeutet Weisung oder Unterricht. Dieser Name passt besser zum Inhalt, da große Teile der Thora keine Gesetzestexte sind. Besonders die ersten anderthalb Bücher enthalten Geschichten, nicht Vorschriften. Wenn Paulus das Gesetz explizit als Gesetz zitiert, handelt es sich oft um eine Erzählung, nicht ein Gebot. Achte zum Beispiel darauf, wie oft er die Geschichte Abrahams aufgreift.
Die vielen Einzelerzählungen im Alten Testament bilden zusammen eine große, alles umfassende Geschichte, die in Englisch manchmal mit dem Begriff meta-narrative bezeichnet wird: die Geschichte (narrative) hinter den Geschichten. Sie verkörpert Israels Weltanschauung oder Weltsicht.
In seiner Analyse dieser Weltanschauung deutet Wright darauf hin, dass es sich in Wirklichkeit um drei Geschichten oder um drei Ebenen in der Geschichte handelt. Es geht vorrangig um die Geschichte Israels, aber diese Geschichte ist Teil der größeren und umfassenderen Menschheitsgeschichte. So fängt die Bibel in 1. Mose 1-11 ja auch an, mit Schöpfung, Fall und Abstieg der Menschheit. Die Geschichte Israels beginnt erst am Ende von Kapitel 11, wenn Abraham die Bühne betritt. Damit wird klar: Israel ist Gottes Weg, die Menschheit zu erlösen, damit die in die Brüche gegangene Geschichte doch noch ein gutes Ende nimmt. Hinter dieser Menschheitsgeschichte liegt noch eine weitere Geschichte oder eine weitere Ebene: die der Schöpfung. Damit gelangen wir zur kosmischen, alles umfassenden Dimension der Heilsgeschichte.
Wrights Perspektive unterscheidet sich erheblich von der traditionellen Vorgehensweise der westlichen Theologie. Diese interessiert sich vor allem für abstrakte Ideen, wie Rechtfertigung, Heiligung, Auserwählung usw. Das Ziel ist, diese Ideen zu einem kohärenten und mehr oder weniger zeitlosen System zusammenzufügen. Mit der Reformation und mehr noch mit der Aufklärung kam zusätzlich eine starke Fokussierung auf den individuellen Menschen. Die zentrale Frage wurde: Wie wird ein Mensch gerettet? Paulus und seine Zeitgenossen dachten ganz anders: Zuerst kam die Gemeinschaft (Israel), nicht das Individuum; der Rahmen war eine Geschichte, nicht ein System von abstrakten Ideen.
Diese Geschichte sucht ein Ende
Problematisch an der Geschichte Israels ist allerdings: Die Heilsgeschichte steckt fest. Israel schafft es nicht, seine Mission als Heilsbringer zu erfüllen. Stattdessen gibt es ein Gericht und eine Verurteilung, und Israel geht ins Exil. Die Frage stellt sich, wie Gott diese Geschichte doch noch zu einem guten Ende führen will, denn genau das hat er versprochen.
Die Juden zur Zeit Jesu waren sich dieser Geschichte bewusst. Es gibt viele Beispiele aus jener Zeit, in denen die Geschichte neu erzählt wird. Solche Erzählungen gibt es schon im Alten Testament, zum Beispiel in Hesekiel 20, in manchen historischen Psalmen und nicht zuletzt im Buch Chronik.
Ein wichtiger Zweck dieser Neuerzählungen war, herauszufinden oder aufzuzeigen, wie die Geschichte sich fortsetzen und wie sie enden würde. Die Juden jener Zeit entwickelten ganz unterschiedliche Ansichten darüber, wie Gott die Geschichte zu ihrem Abschluss bringen würde und was danach kommen sollte (die Version Jesu, von Paulus weiterentwickelt, war nur eine unter vielen). Sie waren sich aber darüber einig, dass es ein solches von Gott herbeigeführtes Ende geben musste, denn Gott würde sein Versprechen halten.
N.T. Wright macht klar: Römer 9-11 passt genau in dieses Bild. Hier erzählt Paulus die Geschichte Israels aus einer neuen Perspektive (wie zum Beispiel auch der jüdische Geschichtsschreiber Josephus; im Neuen Testament gibt es Apostelgeschichte 7 und Hebräer 11 als Beispiele). Es bleibt aber die Geschichte Israels. In Römer 9 werden Abraham, Isaak, Rebekka, Jakob und Esau, Mose und Pharao erwähnt, dann die Propheten und ihre Sicht auf Israels Gegenwart und Zukunft. „Die Geschichte scheint dann sozusagen in den Sand fest zu laufen: Auch wenn Israels Nachkommen zahlreich sind wie das Sand am Meer, nur ein Überrest wird gerettet werden (9,27); aber dann kommen wir zum Messias selbst (10,4) und damit zu der langersehnten Erfüllung der Verheißung aus 5. Mose 30 (10,6-10) und zu weiteren Schlüsselprophetien (10,11-13). Es sollte zu keiner Kontroverse führen, darauf aufmerksam zu machen: Hier handelt es sich um Israels Geschichte, selbstverständlich erzählt, wie jede Erzählung, aus einem spezifischen Blickwinkel“ (Loc. 31696-704).
5. Mose 30: Der Schlüsseltext
Paulus ist nicht der einzige, der zurückgreift auf die Schlusskapitel im Buch 5. Mose als Schlüsselstelle, um etwas über das Ende der Geschichte herauszufinden. Wenn andere, außerbiblische Quellen die Geschichte Israels neu erzählen, wird oft ebenfalls auf 5. Mose 30 verwiesen. Was also enthalten die letzten Kapitel dieses Buches?
- 5. Mose 27 gibt Anweisungen für eine Zeremonie auf dem Berg Ebal und dem Berg Garizim, bei der Segen und Fluch ausgesprochen werden sollen.
- Kapitel 28 enthält eine ausführliche Übersicht über Segen und Fluch als Konsequenz der Treue oder Untreue zum Bund.
- Kapitel 29 ist eine ernsthafte Warnung, eine Warnung, die davon ausgeht, dass die angedrohten Konsequenzen des Ungehorsams Realität werden.
- Kapitel 30 enthält den Wendepunkt. Es geht davon aus, dass die harten Konsequenzen aus den vorherigen Kapiteln Wirklichkeit wurden und Israel sich im Exil befindet. Jetzt aber bekehren die Israeliten sich zu ihrem Gott und er bringt sie zurück in ihr Land. In Vers 6 finden wir die Schlüsselverheißung:
Und der HERR, dein Gott, wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen, damit du den HERRN, deinen Gott, liebst von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf dass du am Leben bleibst. (5. Mose 30,6; Luther 84)
Wir sollten aber 5. Mose 27-30 nicht als zeitunabhängiges Schema verstehen, wie wenn diese Kapitel besagen würden: Zu jeder Zeit könnten die Israeliten sündigen und unter den Fluch gelangen, aber auch sich bekehren und zum Segen zurückkehren, wenn nötig wiederholt. Stattdessen finden wir in diesen Kapiteln einen linearen Ablauf, eine Reihe von Ereignissen, die von A bis B bis Z so stattfinden werden. Sie beschreiben prophetisch, was dem Volk Israel passieren wird. Diese Sicht wird in 5. Mose 32, dem Lied des Moses, bestätigt. In poetischer Form prophezeit Mose, wie das Volk Israel sich von Gott abwenden, ins Exil gehen und letztendlich in sein Land zurückgeführt werden wird. Wie Wright schreibt:
Vielleicht gelangen wir so zum Herz dessen, was ich sage: im Rahmen der fortdauernden Geschichte, von der fast alle Juden meinten, dass sie darin eine Rolle spielten… verstanden viele Juden zur Zeit des zweiten Tempels jenen Teil der sich fortsetzenden Geschichte, in der sie lebten, im Sinne des sogenannten deuteronomistischen Schemas Sünde-Exil-Wiederherstellung, wobei sie selbst sich irgendwo in der mittleren Phase des Exils befanden. (Loc. 3959-62)
Die Worte, die Paulus in Römer 10 zitiert, folgen in 5. Mose nur wenige Sätze nach dieser Verheißung:
Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern … Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust. (5. Mo. 30,11-14; Luther 84)
Aus dem Grund versteht Paulus dieses Wort nicht als eine weitere Anforderung an Israel, dem Gesetz zu gehorchen, sondern als etwas völlig Neues. Das Wort, das sie befolgen sollen, ist jetzt in ihrem Herzen und nicht nur auf steinernen Tafeln geschrieben. 3. Mose 18,5 formuliert das allgemeine Prinzip hinter dem Gesetz, wie es vor dem Exil und während des Exils galt. Für Paulus ist diese Phase gerade zu einem Ende gekommen; mit Jesus hat die Phase der Wiederherstellung angefangen. 5. Mose 30 beschreibt diese neue Phase, in der Israel nicht länger unfähig ist, das Gesetz zu leben. Es gibt somit eine narrative Abfolge, ein Nacheinander, das es zu beachten gilt.
Sobald wir dies erkennen, verstehen wir, wie Paulus die Gnade aus dem Gesetz begründen kann. Paulus hat das Alte Testament nicht nach irgendwelchen isolierten Beweisversen durchsucht, nach vereinzelten Aussagen und Beispielen, die er für seine eigenen Zwecke verwenden kann. Er hat sein Zitat überhaupt nicht aus dem Zusammenhang gerissen; im Gegenteil, er hat erkannt, wie sich der Kontext verändert hat – was die meisten von uns, ich inklusive, wahrscheinlich übersehen haben. Er hat festgestellt, dass 5. Mose 30 zu einem ganz anderen, neuen Teil der Erzählung gehört: In diesem Kapitel geht es um die Zeit der Wiederherstellung.
Wenn Paulus die Schrift zitiert, trennt er nicht einen Vers aus seinem Kontext, um diesen Vers (oder vielleicht auch zwei) das ganze Gewicht der Beweislast tragen zu lassen, ohne Rücksicht darauf, ob dieser Vers eine solche Last überhaupt tragen kann! Im Gegenteil: Oft dient das kurze Zitat als Wegweiser zu etwas viel Größerem, zum Beispiel zum Textabschnitt, in dem der Vers sich befindet, zur Geschichte Israels (wie hier) oder auch zu einer größeren theologischen Idee (wie z.B. der Ausdruck „in Christus“; zwar kein Zitat, aber immerhin ein ganzes Konzept in nur zwei Wörtern zusammengefasst).
Paulus hat erfasst, dass der Tod und die Auferstehung Christi den Anfang der neuen Phase der Wiederherstellung darstellen. Deswegen ist das Evangelium das Wort, das angenommen und geglaubt werden sollte. In den Propheten findet Paulus Unterstützung für diese Ansicht: „Wer des HERRN Namen anrufen wird, der soll errettet werden“ (Joel 3,5, zitiert in Röm. 10,13; Luther 84). Auch hier handelt es sich nur um einen einzelnen Vers, der uns aber verbindet mit dem gesamten prophetischen Konzept eines neuen Zeitalters und einer wiederhergestellten Schöpfung.
Nur so kann Israel – oder irgendjemand sonst – je das eigentliche Ziel und den eigentlichen Sinn des Gesetzes erfüllen: Gott von ganzem Herzen zu lieben. Und das kann nur ein Werk Gottes sein, nicht das Ergebnis menschlicher Anstrengung. Die Grundlage ist Gottes Gnade und unser Vertrauen, nicht Werke des Gesetzes. Was Paulus mit 5. Mose 30 macht, ist zugegebenermaßen trotzdem ein kühner Sprung, weil der neue Gehorsam so vollkommen anders aussieht als der alte Weg, die Thora einzuhalten und zu leben. Der neue Weg ist aber in Harmonie mit dem tieferen Sinn der Geschichte:
Paulus verwendet 5. Mose 30, um zu sagen: Ah, aber in der Verheißung einer Erneuerung des Bundes, die befähigt, bietet Gott selbst einen neuen Weg, „das Gesetz zu tun“, einen Weg, der „in deinem Mund und in deinem Herzen“ sein wird, einen Weg, der in Form seines „Wortes“ von Gott selbst kommt, und der dich befähigt, es zu „tun“. Das ist der gewaltige Anspruch, den Paulus erhebt in dieser kühnen und kreativen Verwendung von 5. Mose, die trotzdem mit dem Bund in Einklang steht. (Loc. 32017-20)
Wie sieht die Geschichte aus, die dein Leben bestimmt? Und wie wirkt sie sich in deinem Alltag aus?
Literaturangaben
N.T. Wright, Paul and the Faithfulness of God (Minneapolis, MN: Fortress Press, 2013)
Disclosure of Material Connection: Some of the links in the post above are “affiliate links.” This means if you click on the link and purchase the item, I will receive an affiliate commission.
Wenn du über diese Links etwas kaufst, hilfst du mir, die Kosten für Create a Learning Site abzudecken.