Ein Jahr Create a Learning Site Deutschland; und: 1. Johannes

Die erste Ausgabe von Create a Learning Site (Thema: die schwierige zweite Hälfte des Buches Sacharja) erschien als Blog Post und als E-Mail am 5. Mai 2014. Somit feiern wir jetzt den ersten Geburtstag. Es hat mir richtig Spaß gemacht, immer wieder über neue Themen nachzuforschen und euch weiterzugeben, was ich lerne. Schön, dass ihr dabei wart!

Ich frage mich, welche Ausgabe euch am besten gefallen hat, und wie Create a Learning Site sich im nächsten Jahr weiter entwickeln soll. Aus dem Grund habe ich auf Google eine kurze Umfrage vorbereitet. Es würde mir helfen, wenn ihr euch ein paar Minuten Zeit nehmt, um mir über dieses Formular eine Rückmeldung zu geben.

Im nächsten Jahr möchte ich meine Entdeckungsreise im Bereich Bibelstudium auf jeden Fall fortsetzen, und ich hoffe, dass ihr mich dabei weiterhin begleitet. Ich fange gleich damit an: In dieser Ausgabe berichte ich von meiner Lernerfahrung mit dem 1. Johannesbrief.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als Video Podcast

1. Johannes: den Knoten entwirren

Der 1. Johannesbrief ist eines der merkwürdigsten Bücher im Neuen Testament. Wir nennen es einen Brief, aber nichts im Text deutet darauf hin, dass es sich wirklich um einen Brief handelt. Vergleichen wir Anfang und Ende des 1. Johannesbriefes mit einem der Paulusbriefe, dann wird sofort klar, dass alle üblichen Strukturelemente (Verfasser, Empfänger, Gebet usw.), die im Neuen Testament einen Brief definieren, hier fehlen. Der Text liest sich vielmehr wie eine Unterweisung oder ein Wort der Ermahnung, ähnlich wie der Hebräerbrief. Abgesehen von einigen Schlussversen fehlen dort ja auch alle Hinweise auf einen Brief.

Außerdem vermisst man im 1. Johannesbrief – und das unterscheidet ihn vom Hebräerbrief – einen klaren Aufbau oder Gedankengang. Es ist weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick eine Struktur erkennbar. Stattdessen dreht Johannes immer wieder seine Kreise um einige wenige Themen, denen er Aussage um Aussage widmet, scheinbar ohne viel Zusammenhang. Das Buch mutet an wie eine Handvoll trockener Sand: Es lassen sich weder Struktur noch Form erkennen. Wäre Johannes einer meiner Studenten, und hätte er diesen Text als Hausarbeit oder Referat eingereicht, dann hätte ich ihn womöglich durchfallen lassen…

Ich war in der Vergangenheit oft etwas frustriert beim Lesen dieses Buches. Ich bevorzuge einen gut strukturierten und logisch aufgebauten Text, der bei A anfängt und bei Z aufhört. Dies ist einer der Gründe, weshalb ich die Johannesbriefe nicht oft unterrichtet habe. Die verwendete Sprache ist wunderbar einfach; fängt man aber an, über den Inhalt nachzudenken, dann stellt sich heraus, dass der Text eine ganz harte Nuss ist. Es ist ein Paradox: 1. Johannes ist kindlich einfach geschrieben und doch unbegreiflich. Auf jeden Fall habe ich das Buch so empfunden. Es enthält fantastische und tiefe Aussagen, die aber keinen Gedankengang aufbauen – genauso wie eine Handvoll trockener Sand auch keine Form hat und sofort auseinander fällt.

In den letzten zweieinhalb Jahren bot sich mir eine zweite Chance. Ich hatte nämlich Gelegenheit, das Buch an zwei verschiedenen Schulen zu unterrichten. Das zwang mich dazu, mich noch einmal mit den Gedankenkreisen des Johannes zu befassen. Und inzwischen begann es bei mir zu dämmern.

Im nächsten Abschnitt werde ich zunächst einige Aspekte des historischen Hintergrundes besprechen, um zu zeigen, worauf Johannes eigentlich reagiert. Anschließend will ich versuchen zu erklären, wie ich das Buch jetzt verstehe. Ich muss das vorsichtig formulieren, da dieser Prozess für mich bestimmt noch nicht beendet ist; ich bin noch weit davon entfernt, das Problem Johannes abzuhaken und als gelöst zu betrachten!

Historischer Hintergrund

Offensichtlich hat der Verfasser es mit einer Gruppe von Menschen zu tun, die die Sünde nicht wichtig nehmen oder vielleicht sogar meinen, ohne Sünde zu sein. Die Liebe ist ihnen ebenfalls nicht wichtig. Darüber hinaus lehnen sie bestimmte Glaubenssätze in Bezug auf Jesus ab, und darin liegt wahrscheinlich der Grund für ihr Verhalten. Die nächsten drei Zitate aus dem Buch zeigen ihre Überzeugung besonders deutlich:

Wer ist ein Lügner, wenn nicht der, der leugnet, dass Jesus der Christus ist? Das ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet. (1. Joh. 2,22; siehe auch 5,1)

Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: Ein jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist, der ist von Gott; und ein jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, der ist nicht von Gott. Und das ist der Geist des Antichrists, von dem ihr gehört habt, dass er kommen werde, und er ist jetzt schon in der Welt. (1. Joh. 4,2f)

Dieser ist‘s, der gekommen ist durch Wasser und Blut, Jesus Christus; nicht im Wasser allein, sondern im Wasser und im Blut; und der Geist ist’s, der das bezeugt, denn der Geist ist die Wahrheit. (1. Joh. 5,6)

Aus der Kirchengeschichte wissen wir etwas mehr über die Zustände in Kleinasien, wo Johannes aktiv war. Zu jener Zeit entwickelten sich dort zwei neue Glaubensrichtungen: der Doketismus und die Lehre des Kerinth (die gelegentlich auch als Sonderform des Doketismus betrachtet wird).

Doketismus kommt vom griechischen Wort dokein, das scheinen bedeutet. Das Göttliche kann sich unmöglich dadurch verunreinigen, so die Grundüberzeugung des Doketismus, dass es die menschliche Natur annimmt und Teil der materiellen Welt wird. Auch kann das Göttliche weder leiden noch sterben. Daher schien Jesus zwar menschlich, war es aber nicht oder höchstens in einem speziellen und eingeschränkten Sinn.

Kerinth behauptete, dass Jesus ein normales menschliches Wesen gewesen war. Bei seiner Taufe war der himmlische Christus in der Form einer Taube auf ihn heruntergekommen. Anders gesagt, er unterschied zwischen Jesus und Christus. Kurz vor der Kreuzigung verließ Christus Jesus, weil der göttliche Erlöser unmöglich sterben konnte. Somit blieb der menschliche Jesus zurück, um am Kreuz zu sterben.

Die Bibelwissenschaft ist sich nicht einig, auf welche der beiden Irrlehren Johannes sich bezieht, oder ob er vielleicht sogar beide gleichzeitig im Blick hat. Es macht den Eindruck, dass 1. Johannes 4,2f (wie oben zitiert) besser zum Doketismus passt, und 1. Johannes 2,22 zu den Ansichten des Kerinth.

1. Johannes 5,6 passt sowohl zum Doketismus, der glaubte, dass Jesus getauft wurde (das Wasser), aber nicht, dass Jesus starb (das Blut), als auch zu Kerinth, der behauptete, dass Christus Jesus vor seinem Tod verlassen hätte, und somit ebenfalls das Wasser (Taufe) bejaht, aber das Blut (Sterben) nicht.

Form

Soweit der historische Hintergrund. Was habe ich durch meine erneute Auseinandersetzung mit dem 1. Johannesbrief dazugelernt? Ich habe versucht, die Aussagen im Buch zu kategorisieren und sie anders anzuordnen oder zu organisieren, in der Hoffnung, so einem Zusammenhang oder einer durchgehenden Grundaussage auf die Spur zu kommen.

Dabei ist mir aufgefallen, dass viele Aussagen eine von drei Formen haben:

  • Sätze, die mit „wenn“ anfangen
  • Sätze, die mit „wer“ anfangen
  • Sätze mit „wir wissen“
  • Sätze, die mit „daran“ anfangen

Insgesamt handelt es sich um etwa 55 Aussagen im Text, die es dem Leser ermöglichen, festzustellen, ob etwas das eine oder das andere ist. Anders gesagt, ein wesentlicher Teil des Buches besteht aus Beurteilungskriterien oder Tests. Schon vor langer Zeit wurde erkannt, dass diese sich hauptsächlich mit drei Themen befassen:

  • Wahrheit: richtig Glauben
  • Liebe zu Gott und zu den Geschwistern
  • Moral: richtig Handeln

Zwei tragende Säulen

Darüber hinaus ist es vielen Lesern des Buches aufgefallen, dass es zwei Kernaussagen über Gott enthält, die zwar sehr kurz und einfach sind, aber gleichzeitig überaus tiefsinnig. Im Deutschen enthält jede Aussage nur drei oder vier kurze Worte:

  • Gott ist Licht (1. Joh. 1,5)
  • Gott ist die Liebe (1. Joh. 4,8 und 16)

Nahezu alles weitere in diesem Buch ergibt sich aus diesen zwei Kernaussagen. Ist es überhaupt möglich, etwas Tiefsinnigeres über Gott zu sagen, als das, was in diesen sieben Worten steht?

Die zwei Aussagen bilden sogar eine gewisse Zweiteilung in der Struktur des Buches. „Gott ist Licht“ dominiert im ersten Teil, „Gott ist die Liebe“ im zweiten. Ein klares Strukturdiagramm lässt sich allerdings trotzdem nicht erstellen. Erstens, die beiden Themen, Licht und Wahrheit, überschneiden sich in Kapitel drei. Zweitens, die Themengruppe Wahrheit, Verführer, Irrtum usw., die mit „Gott ist Licht“ in Verbindung steht, taucht auch in der zweiten Hälfte des Buches mehrmals auf.

Ein Netz von Ideen

Die Struktur des Buches ist deswegen nicht linear, sondern kreisförmig. Johannes bewegt sich zwischen seinen Hauptthemen hin und her und umkreist sie, bis er sie mehr oder weniger von jeder Seite betrachtet hat.

Eine solche Struktur lässt sich schlecht in Form eines Diagramms oder einer Tabelle erfassen, wie es für viele andere Bücher der Bibel möglich ist. Die Struktur des Buches besteht nicht aus Abschnitten, die aufeinander aufbauen, sondern aus einem Netz von Ideen. Wir brauchen für dieses Buch daher ein Strukturdiagramm seiner Hauptideen. Die zwei Kernaussagen über Gott bilden einen Anfangspunkt. Wenn wir sie mit den drei Arten von Tests kombinieren, ergibt sich folgendes:

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Dieses Diagramm fasst den Kern des Buches zusammen. Es macht auch sichtbar, dass die Hauptthemen und die drei Tests in einer engen Beziehung zueinander stehen. Die Tests ergeben sich nicht nur aus den zwei Kernaussagen über Gott, sie ergeben sich auch gegenseitig aus einander. Man kann sie deswegen nur gemeinsam erfüllen. Wenn einer dieser Tests nicht erfüllt ist, sind die anderen auch nicht wirklich erfüllt. Schauen wir uns das ein bisschen genauer an.

Richtig Handeln heißt seine Gebote zu befolgen. Das ist die Folge davon, dass man Gott kennt und im Licht ist, und dass man Gott liebt: Wenn wir Gott kennen, wenn wir im Licht wandeln, wie er im Licht ist, wenn wir ihn lieben, dann halten wir seine Gebote (siehe z.B. 1. Joh. 5,1-3). Somit ergibt sich das Befolgen seiner Gebote, also richtig Handeln auch aus richtig Glauben und richtig Lieben.

Seine Gebote befolgen heißt aber gleichzeitig, dass wir an seinen Sohn glauben und dass wir die Brüder lieben:

Und das ist sein Gebot, dass wir glauben an den Namen seines Sohnes Jesus Christus und lieben uns untereinander, wie er uns das Gebot gegeben hat. (1. Joh. 3,23)

Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe. (1. Joh. 4,21)

Richtig Glauben und Lieben führt dazu, dass wir seine Gebote befolgen – das heißt, dass wir an ihn glauben und dass wir lieben. Es handelt sich hier um einen tiefsinnigen Zirkelbezug!

Ich ringe immer noch mit der Logik des Johannes; mein Verstand kann sie irgendwie nicht richtig erfassen. Aber immerhin ist mir zunehmend klar, wie großartig Johannes darlegt, was es heißt, als Christ zu leben. Oder in seinen Begriffen: in der Wahrheit und in der Liebe zu leben.

Nächste Ausgabe: Endlich! Mein eBuch zu Resourcen im Internet für Bibelstudium und Bibellehre als kostenloses Download!

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Literatur- und Urheberangaben

Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1984)

Photo: „tree bark with knot“; chuckyoufarlie3, http://chuckyoufarlie3.deviantart.com/art/tree-bark-with-knot-279124480. Copyright Lizenz: Creative Commons, Attribution 3.0 Unported (CC BY 3.0)

Photo: „woman reading Bible scripture from her iPad“, Prixel Creative; Lizenz erworben von Lightstock (https://www.lightstock.com/)

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