Torsten, mit dem ich viele Jahre in der Schule für Bibelstudium zusammenarbeitete, meint, 3. Mose sei das wichtigste Buch im Pentateuch (Sammelbegriff für die fünf Bücher Mose, auch Thora genannt). Damit hat er natürlich Unrecht. Meine Frau findet, Numeri (4. Mose) sei das wichtigste; aus dem Grund gab es Anfang Jahr eine Ausgabe von Create Learning Site mit sechs Gründen, das Buch Numeri zu lesen. Wenn du mich fragst: Ich tendiere zum Buch Genesis (1. Mose) oder Exodus (2. Mose). Oder ist es vielleicht Deuteronomium (5. Mose)?
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Auf jeden Fall bedeutet Torstens Präferenz (so viel muss ich ihm lassen), dass Levitikus nicht unwichtig sein kann. Vielleicht hat er sogar (ein bisschen) recht: Immerhin bildet Levitikus die Mitte des Pentateuchs. Und im Zentrum dieses zentralen Buches, im 3. Mose 16, lesen wir über den Versöhnungstag (oder besser: Tag der Reinigung). Wenn es darum ging, Israels Beziehung zu Jahwe zu sichern, gab es im ganzen Jahr keinen wichtigeren Tag.
Damit haben wir schon zwei Gründe gefunden, dieses Buch zu lesen:
1. Levitikus ist das Zentrum und in gewissem Sinne das Herz der Thora. Wie Torsten klarmacht, ist dieses Buch im Pentateuch von zentraler Bedeutung und deswegen auch für die gesamte Heilige Schrift fundamental wichtig.
2. In diesem Buch lesen wir vom Versöhnungstag. Wie wir sehen werden, ist „Reinigungstag“ eigentlich eine bessere Bezeichnung für diesen Tag, an dem jede Unreinheit und jede Ungerechtigkeit vom Heiligtum und vom Volk entfernt wurde.
Mit dem Opfersystem, das in der ersten Hälfte dieses Buches beschrieben wird, löst dieser Tag das Problem von Israels Sünden. So deutet er auch in mehreren Hinsichten auf den Opfertod Jesu hin. Gleichzeitig hilft dieses Buch uns, das alttestamentliche Opfersystem zu verstehen.
Wie allgemein bekannt ist, stirbt in der Opfersymbolik das Opfertier anstelle des Opfernden. Das Blut des Opfertieres als Symbol des Lebens wird vergossen und macht so diesen Sinn sichtbar. Der Tod des Opfertieres macht klar, wie ernst und verheerend die Konsequenzen der Sünde sind. Er bietet gleichzeitig eine Lösung für das Problem der Schuld oder der Unreinheit der Israeliten. Das ist allerdings nicht die ganze Geschichte.
Es gibt einen zweiten Aspekt, der einen weiteren Schritt (den Versöhnungstag) zwingend notwendig macht. Indem der Priester mit dem Blut des Opfertieres den Altar befleckt, entfernt er Unreinheit und Schuld vom Opfernden und überträgt sie auf Altar und Heiligtum. Dass das der Zweck dieser Handlung ist, wird laut Roy Gane (2004:104) im Hebräischen klarer als in den meisten Übersetzungen. “Wenn der Priester ihm so Sühne wegen seiner Versündigung erwirkt hat, wird ihm Vergebung zuteil werden“ (3. Mo. 4,26b), heißt es in der Menge-Übersetzung. Es sollte aber heißen: Reinigung (statt Sühne) von (statt wegen) seiner Versündigung. Das Blut als Träger des Lebens überträgt die Sünde vom Opfernden auf den Altar und auf das Heiligtum: Der Sünder lässt seine Schuld dort zurück. Das ist der Grund, dass nicht der Opfernde mit Blut gesprenkelt wird: Damit würde man ihm seine Schuld und Unreinheit wieder zurückgeben (ibid.: 106)!
Das führt aber zu einem Problem. Mit der Zeit häuft sich immer mehr Sünde und Unreinheit im Heiligtum an. Der Versöhnungstag (3. Mo. 16), oder der Reinigungstag, ist die Lösung für dieses Problem. Fünf Tiere braucht es für diese Zeremonie: einen Stier als Sündopfer für den Priester, eine Ziege als Sündopfer für das Volk, eine zweite Ziege für „Asasel“ (16:8; dieses hebräische Wort wird manchmal mit „Sündenbock“ übersetzt; wahrscheinlicher handelt es sich um den Namen eines Dämons) und zwei Schafböcke als Brandopfer.
Die zwei erstgenannten Tiere werden geschlachtet, und anschließend bringt der Hohepriester von ihrem Blut in das Allerheiligste – der einzige Anlass im Jahr, an dem jemand überhaupt dort hineingehen durfte. Diesmal ist die Wirkungsrichtung der symbolischen Handlung umgekehrt. Sünde und Unreinheit werden nicht vom Sünder auf das Heiligtum übertragen, sondern vom Heiligtum auf das Opfertier:
…und soll so das Heiligtum entsühnen wegen der Verunreinigungen der Israeliten und wegen ihrer Übertretungen, mit denen sie sich versündigt haben. So soll er tun der Stiftshütte, die bei ihnen ist inmitten ihrer Unreinheit. (3. Mo. 16,16; Luther 1984)
Eine genauere Übersetzung (Gane 2004: 272) zeigt deutlich: Es geht darum, die Verunreinigung vom Heiligtum zu entfernen:
So soll er das Allerheiligste von den Unreinheiten der Israeliten und von ihren Übertretungen wie auch allen ihren Sünden reinigen…
Da sowohl der Stier wie auch die Ziege außerhalb des Lagers verbrannt werden, findet eine Entsorgung statt, die allerdings, wie sich zeigt, noch nicht weitreichend genug ist. Es braucht noch die zweite Ziege, damit auch die moralischen Übertretungen Israels gründlich und vollständig entfernt werden. Durch Handauflegung und Schuldbekenntnis werden die Übertretungen auf das Tier geladen, das anschließend samt seiner Ladung in der Wildnis freigelassen wird (3. Mo.16,21f).
Das Opfersystem, wie es die erste Hälfte des Buches Levitikus darstellt, beschreibt somit einen Prozess, in dem in zwei Stufen mit Unreinheit und Sünde abgerechnet wird, wobei das Heiligtum sozusagen als Zwischenlager dient.
3. Durch Levitikus lernen wir die Sprache von Riten und Ritualen zu verstehen. Es handelt sich hier um eine Sprache, die von der westlichen Welt, stark geprägt von der Wissenschaft und der Aufklärung, schlecht verstanden wird. Die Wirksamkeit von Ritualen basiert nicht, wie die Physik und die Biologie, auf Ursache und Wirkung. Ihr Wesen ist die Analogie, der Parallelismus und die Symbolik; effektiv wird das Ritual durch Gottes Wirken, nicht durch die Naturgesetze. Durch seine Symbolik wirkt das Ritual ganz tief im Inneren des Menschen und bewirkt so ein geistliches Verständnis und geistliche Veränderung. Gleichzeitig liefern Rituale Worte, Bilder und Handlungen, die Erlösung und andere geistliche Aspekte anschaulich und somit verständlich machen.
4. Durch Levitikus verstehen wir etwas Fundamentales über Gott und über uns selbst als Menschen. Weil dieses Verständnis mit der Betonung auf Reinheit, Trennung und „abgestufte Heiligkeit“ (mehr dazu gleich) zu tun hat, überschneidet Punkt 4 sich mit Punkt 3: es geht hier zum Teil auch um die Sprache der Rituale. Da die Themen Reinheit und Heiligkeit im Buch so zentral sind, sollten sie hier aber besonders erwähnt werden.
Levitikus lehrt uns, dass Gott rein und heilig (und dadurch auch furchterregend) ist – und dass wir es nicht sind. Das Ergebnis: Wir ahnen, dass es eine tiefe und breite Kluft gibt, die Menschen und Gott voneinander trennt: Er ist unnahbar.
Wenn Nadab und Abihu Gottes Anweisungen ignorieren und nach eigenem Ermessen handeln, verzehrt sie ein Feuer (3. Mo. 10). Es handelt sich um eine von insgesamt nur zwei Erzählungen im ganzen Buch. Damit liegt auf der Hand, dass diese Geschichte illustriert, um was es im Buch geht. Gott sollte man nicht leichtsinnig begegnen; es braucht Vorsicht und Vorbereitung. Das ist zugegebenermaßen weniger als die halbe Wahrheit; die andere, wichtigere Hälfte ist seine Liebe und Geduld.
Diese Wahrheit zeigt sich unter anderem in der abgestuften Heiligkeit, in der das Heiligtum klar vom Lager getrennt ist. Das Heiligtum selbst teilt sich in drei weitere Stufen auf: den Vorhof, das Heilige und das Allerheiligste. Die zunehmende Kostbarkeit des verwendeten Materials (außen Kupfer und Silber, innen Gold) unterstreicht die zunehmende Heiligkeit. Das gleiche gilt für die abnehmende Zugänglichkeit dieser Stufen: Nur wer rein ist, darf den Vorhof betreten, nur Priester dürfen die Stiftshütte betreten, nur der Hohepriester darf einmal im Jahr das Allerheiligste betreten.
Diese Wahrheit zeigt sich ebenfalls in den Bestimmungen über rein und unrein (3. Mo. 11-15). Es sind gerade auch diese Vorschriften, die auf uns so befremdend wirken. Dass man keine Ratten und keine Geier essen sollte, das können wir noch nachvollziehen, aber was ist das Problem bei manchen der anderen Tiere? Wieso durfte Israel sie nicht essen? Und warum war eine Frau unrein, die ihre Tage hat oder ein Kind gebärt?
Über diese Fragen ist schon viel gestritten worden, und eine Einigung ist noch nicht in Sicht. Es ist unwahrscheinlich, dass es hier um Gesundheit und Hygiene geht. Zu viele Elemente in diesen Kapiteln können so nicht erklärt werden. Manche argumentieren, dass diese Dinge unrein waren, schlichtweg weil Gott es sagte. Es gebe somit keine logische Erklärung und nicht unbedingt einen Nutzen; es gehe um Gehorsam.
Am wahrscheinlichsten erscheint mir, dass zwei Faktoren eine Rolle spielen. Erstens hat viel sogenannt Unreines etwas mit Tod und Sterblichkeit zu tun hat. Dazu gehören Blut und auch Sexualität und Geburt, da Beginn des Lebens und Zeugung die andere Seite der Sterblichkeit bilden. Dieses Sterbliche sollte nicht mit dem unsterblichen Gott und seinem Heiligtum in Verbindung gebracht werden. Der zweite Faktor ist Unvollkommenheit. Sie trifft besonders auf Tiere zu, die einem Ideal nicht ganz entsprechen, wie zum Beispiel: Es hat durchgespaltene Klauen, aber ist kein Wiederkäuer, oder umgekehrt (3. Mo. 11,3-7). Oder: Ist zwar ein Wassertier, hat aber keine Schuppen (3. Mo. 11,9f).
Wie auch immer die Logik hinter diesen Bestimmungen aussieht, sie helfen uns, unser Denken neu auszurichten: Es gibt rein und unrein, heilig und unheilig – und Gott gehört zur einen, wir zur anderen Seite dieser Gegensätze.
5. Durch Levitikus lernen wir die Bedeutung von Heiligkeit verstehen: das zentrale Thema im Buch. Auch dabei handelt es sich um eine Kategorie („heilig“), die uns nicht ohne weiteres einleuchtet; in der modernen Welt spielt sie keine große Rolle, wenn überhaupt. Die Grundbedeutung von Heiligkeit ist Trennung oder Absonderung zu einem besonderen Zweck. Das macht zum Beispiel die Stiftshütte heilig.
Wenn das Wort Gott beschreibt, will es zum Ausdruck bringen: Gott ist der gänzlich Andere und Vollkommene. Wenn es um Menschen geht, gibt es diese Idee der Perfektion oft ebenfalls als Nebenbedeutung, vor allem im moralischen Sinne. Der Heiligkeitskodex in 3. Mose 17-27 (und besonders in 3. Mo. 18-22) enthält deswegen nebst Kultvorschriften auch viele ethische Gebote, die häufig ihre Gültigkeit erhalten haben. Diese Mischung macht es allerdings schwer, zu entscheiden, was im Text auf welche Weise für uns heute Sinn und Gültigkeit hat. Es gibt keine einfachen Antworten. Nur, weil etwas in 3. Mose vorgeschrieben oder verboten wird, heißt nicht in jedem Fall, dass wir es mehr oder weniger genauso machen sollten. Wir können aber auch nicht unbedingt davon ausgehen, dass wir es nicht machen sollten!
Wer sich auf diese Vorschriften einlässt und mit ihnen ringt, wird allerdings feststellen, dass sie auch heute noch das lebendige und lebenspendende Wort Gottes sind.
6. Levitikus lehrt uns die Heiligung der Zeit. Dieses Buch redet nicht nur vom geheiligten Raum (die Stiftshütte und das israelitische Lager). Es gibt auch eine geheiligte Zeit: die Feste und den Sabbat (vor allem 3. Mo. 23). Der Sabbat belegt, dass es im Leben um mehr geht als Arbeit; mehr noch: Es geht im Leben um mehr als nur dieses Leben. Die Feste feiern einerseits Gottes Versorgung durch die Schöpfung und die Ernte, und andererseits erinnern sie an Gottes Handeln beim Auszug der Israeliten aus Ägypten und während ihrer Wanderung durch die Wüste. Solche Festtage geben der Zeit einen höheren Sinn und erinnerten die Israeliten daran, um was es in ihrer Existenz letztendlich ging.
7. Das Buch zeigt uns, was Gott wirklich will: eine Stiftshütte als heiligen Raum, ausführliche Vorschriften über „heilig“ und „rein“, ein Opfersystem und eine Priesterschaft, um mit Verfehlungen und Übertretungen umzugehen (weil Gott sonst sein besonderes Verhältnis zu Israel abbrechen müsste) – schließlich geht es bei diesem ganzen Aufwand um eins: Gott möchte bei den Menschen wohnen.
Eine Idee: Vielleicht hast du deinen Urlaub noch vor dir (und wenn nicht, sicher gibt es bald ein Wochenende?). Wie wäre es, einige Stunden zu reservieren, um dieses Buch durchzulesen?
Literaturangaben
Abbildungen: The Pictorial Bible and Commentator: Presenting the great truths of God’s word in the most simple, pleasing, affectionate, and instructive manner (1878), 167 und 362. https://www.flickr.com/photos/internetarchivebookimages/14783943313/ und https://www.flickr.com/photos/internetarchivebookimages/14761839654/. No known copyright.
Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1984)
Die Heilige Schrift übersetzt von Hermann Menge (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1939, 1994)
Roy E. Gane, NIV Application Commentary: Leviticus, Numbers (Grand Rapids, MI: Zondervan, 2004)
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