Verbirgt sich in den Festen Israels eine prophetische Bedeutung?

Als ich für die Septemberausgabe dieses Jahres über Blutmonde schrieb, begegnete mir eine Idee, die mir nicht unbekannt war, mit der ich mich aber schon seit längerem nicht mehr befasst habe: Die Feste im Alten Testament seien prophetisch, weil sie im Voraus den Verlauf der Heilsgeschichte sichtbar machten. Oder etwas genauer: Die Feste, die im Frühjahr gefeiert werden, fanden ihre Erfüllung im ersten Kommen Jesu; die Feste, die im Herbst gefeiert werden, werden sich in der Zeit seiner Wiederkunft erfüllen. Wirklich? Das macht mich neugierig. Ich widme ihr diese Ausgabe von Create a Learning Site.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als Video Podcast

Zunächst beschreibe ich die Feste, wie sie in der Bibel selbst dargestellt werden. Anschließend versuche ich, die prophetische Deutung dieser Feste zusammenzufassen. Zum Abschluss gibt es eine Kritik dieser Sicht sowie eine Alternative.

Ich beschränke mich dabei auf die sieben Feste, die in 3. Mose 23 (siehe ebenfalls 2. Mo. 23,12-19; 34,18-26; 4. Mo. 28-29; 5. Mo. 16,11-17) beschrieben werden. Ich befasse mich nicht mit dem Purimfest, auch wenn es ebenfalls ein biblisches Fest ist (siehe Esther 9), nicht mit Chanukka, dem Fest zum Gedenken der Wiedereinweihung des Tempels im Jahre 164 v. Chr., oder mit weiteren speziellen Anlässen im Judentum.

Die Feste Israels in 3. Mose 23

1. Das Passafest erinnert an die Nacht, in der Gott die Erstgeborenen Ägyptens schlug, und an den darauf folgenden Auszug aus Ägypten. Es wird am 14. Tag des ersten Monats des israelitischen Kalenders gefeiert. Jesus gab diesem Fest eine neue, auf sich selbst bezogene Bedeutung, indem er es zum Anlass nahm, das heilige Abendmahl als Institution zu begründen: das Zeichen eines neuen Bundes und eines neuen Exodus. Er starb am Kreuz genau an dem Tag, als in Jerusalem die Passalämmer geschlachtet wurden.

2. Das Fest der ungesäuerten Brote folgt direkt auf das Passafest und dauert sieben Tage. Die Israeliten sollen eine Woche lang kein gesäuertes Brot essen und nicht einmal einen Rest Sauerteig in ihren Häusern aufbewahren, zum Gedenken an die hastige Abreise aus Ägypten. Es gibt eine interessante Parallele zum Laubhüttenfest, das auf den Versöhnungstag folgt und ebenfalls eine ganze Woche dauert. In beiden Fällen geht es beim ersten Fest darum, was Gott tut; beim zweiten Fest geht es darum, was Israel daraufhin macht (auf Sauerteig verzichten resp. in Laubhütten wohnen).

Paulus zieht eine Parallele zwischen diesen ersten beiden Festen und dem Leben als Christ:

Darum schafft den alten Sauerteig weg, damit ihr ein neuer Teig seid, wie ihr ja ungesäuert seid. Denn auch wir haben ein Passalamm, das ist Christus, der geopfert ist. Darum lasst uns das Fest feiern nicht im alten Sauerteig, auch nicht im Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern im ungesäuerten Teig der Lauterkeit und Wahrheit. (1. Kor. 5,7f; Luther 1984)

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3. Das Fest der Erstlingsgarben markiert den Anfang der Gerstenernte. Es wird Gott eine Garbe dargebracht als Ausdruck der Dankbarkeit und der Abhängigkeit von Gottes Versorgung. Christus wurde an diesem Tag von den Toten auferweckt, weshalb Paulus ihn den „Erstling unter denen, die entschlafen sind“ nennen kann (1. Kor. 15,20).

4. Das Wochenfest, auch als Pfingstfest bekannt (nach dem griechischen Wort für 50), findet 50 Tage nach dem Fest der Erstlingsgarben statt, also im Vorsommer. Auch bei diesem Fest handelt es sich um ein Erntefest: Es markiert das Ende der Weizenernte. Die spätere jüdische Tradition verband das Fest mit der Gesetzgebung am Berg Sinai und mit der Idee der Bundeserneuerung; dafür gibt es aber keine klare biblische Grundlage. Am Pfingstfest wurden die Jünger Jesu zum ersten Mal mit dem Heiligen Geist erfüllt, der Anfang der großen Ernte von Erlösten.

5. Das Posaunenfest (Heb. Jom Terua). Jetzt wird es schwieriger. Dieses Fest wird oft Neujahrsfest genannt; diese Bezeichnung findet sich aber nicht in der Bibel. Es ist auch als Rosch haSchana (Heb. Kopf des Jahres, d.h. Jahresanfang, daher Neujahrsfest) bekannt, aber auch dabei handelt es sich um eine spätere jüdische Tradition. Wörtlich heißt es im Buch 3. Mose „ein besonderer Sabbat des Posaunenblasens“. Das Fest findet am ersten Tag des siebten Monats statt.

Viel sagt die Bibel zu diesem Fest nicht; es wird ein Signal geblasen und es ist ein Sabbat, ein Ruhetag. Die Bedeutung wird nicht erklärt; in Anbetracht der Nähe des Versöhnungstages liegt es auf der Hand, dass es sich hier um einen Aufruf zur Buße und zur Vorbereitung handelt. Diese Zurückhaltung im Text ist auffällig, weil sich gerade an diesem Fest so viele prophetische Spekulationen entzünden.

6. Der Versöhnungstag (Heb. Jom Kippur; auch Reinigungstag, siehe die Ausgabe über 3. Mose) findet am zehnten Tag des siebten Monat statt. Es ist der einzige Tag im Jahr, an dem der Hohepriester das Allerheiligste betreten darf, um Heiligtum und Volk von moralischer und zeremonieller Unreinheit zu reinigen. Der Hebräerbrief erklärt ausführlich, wie Jesus dieses Fest aus Sicht des Neuen Testaments erfüllt.

7. Das Laubhüttenfest fängt am fünfzehnten Tag des siebten Monats an. Sieben Tage lang soll das Volk Israel in aus Zweigen, Ästen und Blättern gemachten Hütten wohnen. Das Laubhüttenfest ist einerseits ein Erntefest, das die Vollendung der Ernte und das Ende der Anbausaison feiert. Es ist andererseits auch ein historisches Fest, das der Zeit der Wüstenwanderung gedenkt, als die Israeliten in Zelten wohnten.

Prophetisch? Was könnten sie bedeuten?

Es ist nicht einfach, die unterschiedlichen Erklärungen dazu, welche prophetische Bedeutung die Herbstfeste haben, zusammenzufassen. Es gibt unterschiedliche Ansichten dazu, was ein bestimmtes Fest bedeuten oder vorhersagen könnte. Die Abhandlungen dazu sind nicht immer klar oder leicht verständlich. Manche Webseiten, die ich mir angeschaut habe, waren schlichtweg verwirrend. Dazu gehören besonders solche, die sich ausführlich mit jüdischen Überlieferungen, Bräuchen und Zeremonien befassen und diese mit endzeitlichen Spekulationen kombinieren (zum Beispiel jüdische Hochzeitsbräuche und wie sie auf den Messias und seine Braut, die Gemeinde, angewandt werden können).

Inzwischen bin ich der Überzeugung, dass dieses Thema auch eine Doktorarbeit hergeben würde – wozu mir selbstverständlich die Zeit fehlt. Die ganze Breite der Möglichkeiten kann ich nicht abdecken; ich werde aber versuchen, einen Eindruck zu vermitteln.

1. Die Unterscheidung zwischen Frühlingsfesten und Herbstfesten. Wie vorher dargelegt, finden vier der Feste im Frühling und im Vorsommer statt. Christen sind sich weitgehend darüber einig, dass diese Feste in den Ereignissen um Ostern und Pfingsten von Jesus erfüllt wurden. Die restlichen Feste finden im siebten Monat statt. Neu in der Sicht, die hier besprochen wird, ist: Diese Feste wären noch nicht erfüllt worden:

Die Frühlingsfeste bildeten ein Muster für Gottes Erlösungsplan im ersten Jahrhundert. Die Herbstfeste bilden ein Muster für Gottes Wiederherstellungsplan im letzten Jahrhundert. (Juster & Intrater 1991:116)

Somit bleiben uns die letzten drei (Herbst) Feste, die sich im Leben und Werken des Messias noch erfüllen werden… Weil Yeshua (Jesus) die ersten vier Feste wörtlich erfüllte und zwar an den eigentlichen Feiertagen, halten wir die Annahme für angemessen, dass die letzten drei auch erfüllt werden, und dass ihre Erfüllung sich an den eigentlichen Feiertagen ereignen wird. (Sanders & Sanders 2013)

Die ersten vier Feste wurden von Jesus sowohl symbolisch wie auch wörtlich bei seinem ersten Kommen erfüllt … Da die ersten vier Feste genau an den Tagen erfüllt wurden, an denen Gott seinem Volk befohlen hatte, sie zu feiern, liegt die Schlussfolgerung auf der Hand, dass die verbleibenden drei Feste auch an den eigentlichen Feiertagen erfüllt werden. (Brooks o.J.)

Die Schlussfolgerung in den beiden letzten Zitaten, dass die Erfüllung genau an diesen Feiertagen stattfinden wird, findet sich längst nicht bei allen Vertretern dieser Sicht; es gibt keinen Grund, weshalb Gott sich wiederholen muss. Ansonsten illustrieren diese Zitate die grundlegende Annahme: Die Herbstfeste beziehen sich auf die Wiederkunft Christi und das Ende der Welt.

2. Dispensationalistische Varianten [1] tendieren dazu, Jom Terua, das Posaunenfest oderdas jüdische Neujahrsfest, mit der Entrückung der Gemeinde zu verbinden. Der Versöhnungstag deute auf die sichtbare Wiederkunft Christi und die Bekehrung Israels hin. Manche verstehen die zehn Tage vor dem Versöhnungstag, die im Judentum als Tage der Reue und Umkehr gelten, als Bild für die große Trübsal (so Hommel o.J.). Das Laubhüttenfest wird gelegentlich als Sinnbild für das tausendjährige Reich verstanden.

3. Andere, nichtdispensationalistische Varianten verstehen Jom Terua oft als prophetisches Bild für die Wiederkunft Christi. Gelegentlich wird dieses Fest aber auch als Anfang der Endzeit verstanden, eine Endphase, in der Buße und Umkehr immer noch möglich und somit dringend sind; manche erkennen hier eine Parallele zu den eben erwähnten traditionellen zehn Tagen der Reue und Umkehr im Judentum (so Brooks kein Jahr).

Es ist auch möglich, dieses Fest als Prophetie einer großen endzeitlichen Erweckung zu verstehen (so z.B. Finley 2003; diese Erwartung ist in der charismatischen Bewegung weit verbreitet). In diesem Fall bedeutet das Blasen der Posaune eine Art letzter Aufruf; der Versöhnungstag kann dann als Tag des Gerichts verstanden werden. Andere erkennen im Versöhnungstag die Wiederkunft Christi oder den Tag, an dem Israels Bekehrung und Errettung stattfindet (so Sanders & Sanders 2013; Nadler 2015).

4. Auch für das Laubhüttenfest gibt es unterschiedliche Auslegungen. Don Finto (2001:59) erkennt darin „die Zeit, in der die Ernte eingebracht wird, und die somit die enorme Ernte von Seelen kurz vor der Wiederkunft Christi voraussieht“ (ähnlich Nadler 2015: Die Völker der Welt werden eingesammelt). Andere sehen eine Verbindung mit dem Hochzeitsmahl des Messias (Offb. 19,6-9; Juster & Intrater 1991: 272f). Wieder andere erkennen in diesem Fest einfach ein Zeichen für die Gegenwart Gottes, der in der Mitte seines Volkes „zeltet“. Es ist auch möglich, das Fest als Bild oder Vorhersage für das kommende messianische Reich zu verstehen [2].

Das folgende Zitat illustriert, wie in jüdischen Feiertagen eine Bedeutung sowohl für die Gegenwart wie auch für die Zukunft erkannt werden kann:

Rosch haSchana, genauer bekannt als Posaunenfest oder Tag des Gerichts, sollte begrüßt, nicht gefürchtet werden. Der biblische Name dieses Feiertages ist Jom Terua, was wörtlich Tag des Blasens oder des Stoßes bedeutet. Es ist ein Tag, die Posaunen zu blasen und das Volk Gottes aus dem geistlichen Schlaf zu erwecken. Jom Terua bläst Alarm, um uns vorzubereiten auf Rechenschaft und Gericht zehn Tage später am Jom Kippur (der Versöhnungstag oder Tag des Bedeckens). Der Tag ist Gottes gnadenvoller Aufruf, uns selbst zu beurteilen, damit er das nicht tun muss. Indem wir zu ihm umkehren, freuen wir uns an seinen gerechten Gerichten, die alles wiederherstellen werden. Wir freuen uns am Sühneopfer seines Sohnes, Messias Yeshua. Wir feiern, dass er für immer in unserer Mitte wohnt, wie im Laubhüttenfest fünf Tage später als Schattenbild angedeutet wird. (Teplinsky 2015)

Eine Bewertung

Seit wann gibt es diese Sicht? Ich weiß es nicht genau, sie ist aber ziemlich neu. Mir ist niemand bekannt, der eine solche Sicht schon vor 40 Jahren vertrat. Es ist möglich, dass es ältere Quellen gibt. Ich habe aber nur Literatur ab 1990 gefunden. Ich kann deswegen nicht genau sagen, wann diese Sicht entstanden ist, es scheint allerdings nicht sehr lange her. Natürlich glaubten Christen schon immer, dass die Feste eine typologische Bedeutung hätten, aber nicht, dass die Herbstfeste sich prophetisch auf die Wiederkunft Christi beziehen würden in der Art und Weise, die hier dokumentiert ist.

Sind die Feste Prophetien oder Typen? Es gibt einen Unterschied. Für die historischen Feste gilt, dass zwar nicht das Fest, aber immerhin das Ereignis, an das sie erinnern, eine prophetische Bedeutung hat – allerdings im zweiten Sinne: Es handelt sich um einen Typus oder einen Schatten, der eine Entsprechung (in der Theologie: einen Antitypus) im Neuen Testament hat. Es handelt sich nicht um eine prophetische Vorhersage im engeren Sinn. Das gleiche gilt für Rituale: Sie finden ihre Entsprechung im Erlösungswerk Christi, ohne darüber hinaus konkrete Ereignisse vorherzusagen. Es lassen sich kaum informative Vorhersagen aus solchen typologischen Zusammenhängen ableiten. Einsicht ja, aber Vorhersagen? Solche Typen beziehen sich meist auf Christus und auf sein Erlösungswerk; ihre Erfüllung liegt deshalbzum größten Teil oder vollständig in der Vergangenheit.

Was lässt sich als unvollendet und unerfüllt einstufen? Die Erstlingsgarbe und ihr Bezug auf die Auferweckung Christi setzt eine breitere, noch ausstehende Auferweckung voraus. Das Bild der Ernte am Pfingsttag setzt ebenfalls eine künftige Vollendung voraus. Hier gibt es somit tatsächlich ein prophetisches Element. Es bleibt unklar, welche konkreten Informationen über die Zukunft sich daraus ableiten lassen. Das ist also wesentlich weniger, als in manchen höchst spekulativen Erläuterungen von jüdischen Festen herausgearbeitet wird.

Häufig weist man darauf hin, dass im Neuen Testament bei der Wiederkunft Christi und bei der Auferstehung eine Trompete oder eine Posaune geblasen wird (Mt. 24,31, 1 Thess. 4,16, 1. Kor. 15,52) – aber welche? Gibt es hier einen Bezug auf Jom Terua, das Posaunenfest? Oder geht es hier um die Posaune, die am Anfang jeden 50. Jahres am Versöhnungstag geblasen wird, um das Jubeljahr zu verkünden (3. Mo. 25,9)?

Was Jesus in Matthäus 24,31 sagt, scheint sich auf Jesaja 27,13 zu beziehen. In diesem Vers geht es um die Zeit der Erlösung und Wiederherstellung des Gottesvolkes: Alle, die dazu gehören, werden eingesammelt und zusammengebracht. Dieser Befreiungsakt passt wesentlich besser zum Jubeljahr als zum Posaunenfest. Letzteres will ja eher zur Aufmerksamkeit ermahnen als eine neue Freiheit verkünden. Aus dem Grund enthält das Jubeljahr, nicht das Posaunenfest, ein unerfülltes Element, auch wenn Jesus das Jubeljahr weitgehend (aber eben nicht vollständig) erfüllte, am deutlichsten in Lukas 4,16-19. Aus christlicher Sicht erfüllt sich der volle Segen des Jubeljahres in Christus.

Posaunen stehen gelegentlich in Verbindung mit der Theophanie, der sichtbaren Erscheinung Gottes, wie auf dem Berg Sinai (2. Mo. 19:16ff). Allerdings wird das Posaunenfest im Alten Testament nicht als Ankündigung des baldigen Einzugs Gottes verstanden. Aus dem Grund deutet es wohl auch nicht auf die Wiederkunft Christi hin.

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Woher die ganze Begeisterung über Rosch haSchana? Dieser hebräische Ausdruck bedeutet das Haupt (der Anfang) des Jahres. Er kommt in der Bibel nur ein einziges Mal vor: in Hesekiel 40,1. In diesem Vers geht es schlichtweg um eine Datierung, nicht um ein Fest. Erst in der späteren jüdischen Überlieferung wird dieser Ausdruck als feste Bezeichnung für Neujahr verwendet.

Ich wies schon darauf hin, dass die Bibel wenig über das Posaunenfest sagt. Deshalb ist es umso erstaunlicher, wie viel darüber heute geschrieben und gesprochen wird.

Im 3. Mose 23 wird nicht einmal klar, ob dieses Fest überhaupt der Anfang eines neuen Jahres markiert. Es handelt sich ja um den ersten Tag des siebten Monats; wieso würde das Jahr mit dem siebten Monat anfangen? Auch das hat wohl mehr mit der jüdischen Kultur als mit der Bibel zu tun. Der siebte Monat markierte das Ende der landwirtschaftlichen Saison. Etwa um diese Zeit begann die Regenzeit. Aus dem Grund entwickelte der siebte Monat sich zum Anfangspunkt des landwirtschaftlichen oder bürgerlichen Jahres. Der erste Monat, in dem das Passafest stattfand, markierte den Anfang des religiösen Jahres. Diese Aufspaltung lässt sich gut mit unserem Kalenderjahr und mit dem Schuljahr oder mit dem Kirchenjahr vergleichen; auch diese fangen zu unterschiedlichen Zeiten an.

Es gibt in der Bibel immerhin gewisse Belege dafür, den siebten Monat als Anfang des Jahres zu verstehen. 2. Mose 23,16 datiert das Laubhüttenfest „am Ausgang des Jahres“. Laut 3. Mose 25,9 fangen Sabbatjahr und Jubeljahr im siebten Monat an: Die Posaune, die das Jubeljahr einleitet, soll am Versöhnungstag geblasen werden. Das macht Sinn, weil ein solches Jahr mit dem natürlichen und landwirtschaftlichen Zyklus übereinstimmen muss und somit nicht im April anfangen kann. Das reicht aber nicht aus, um das Posaunenfest in ein biblisches Silvester und Neujahrsfest zu verwandeln. Die Begeisterung, womit manche Christen heutzutage Rosch haSchana begehen, hat wenig mit der Bibel zu tun.

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Weshalb ein Schofar? Eine weitere kuriose Tatsache: An den alttestamentlichen Feiertagen sollte nach dem Gesetz gar kein Schofar (das hebräische Wort für das Instrument, das aus einem Widderhorn hergestellt wird) geblasen werden. Laut 4. Mose 10,1-10 sollte Mose zwei silberne Trompeten oder Posaunen herstellen; hier wird ein anderes hebräisches Wort als Schofar verwendet. Diese Trompeten sollten unter anderem an Feiertagen geblasen werden:

Auch an euren Freudentagen und Festen sowie an euren Neumonden sollt ihr zu euren Brandopfern und zu euren Heilsopfern die Trompeten blasen, damit sie euch zu gnädigem Gedenken bei eurem Gott verhelfen: ich bin der HERR, euer Gott! (4. Mo. 10,10; Menge)

Interessanterweise sollte bei der Ankündigung des Jubeljahres am zehnten Tag des gleichen Monats tatsächlich der Schofar geblasen werden (3. Mo. 25,9).

Weshalb wird dann am Rosch haSchana ein Schofar geblasen, wenn das Gesetz eigentlich ein anderes Instrument vorschreibt? Dazu habe ich unter anderem diese Erklärung gelesen: „Das Blasen der Posaunen war zum Gedenken der Gnade Gottes Abraham gegenüber, als Gott einen Widder als Opfer an die Stelle seines Sohnes Isaak setzte (1. Mo. 22). Aus dem Grund bläst das jüdische Volk heute am Rosch haSchana ein Widderhorn“ (Sanders & Sanders, 2013). Mit allem Respekt der jüdischen Tradition gegenüber, kommt mir diese Erklärung doch etwas weithergeholt vor; sie ist keine überzeugende Bibelauslegung.

Eine Alternative: Jesus erfüllt alle Feste

Über diese Dinge kritisch zu schreiben ruft bei mir gemischte Gefühle hervor. Einerseits achte und schätze ich die jüdische Geschichte und die jüdische Tradition. Andererseits kommt mir die in dieser Ausgabe dokumentierte Vermischung von jüdischen und christlichen Glaubensüberzeugungen und Gebräuchen, oft noch ergänzt mit prophetischen Spekulationen (entweder dispensationalistischer oder messianisch-charismatischer Prägung) recht merkwürdig vor. Ich sehe keine guten Gründe für die Unterscheidung zwischen den Festen im Frühling als erfüllt und denen im Herbst als noch nicht erfüllt – nicht erfüllt, weil sie erst in der Zeit der Wiederkunft Christi in Erfüllung gehen sollen.

Ich schlage eine Alternative vor. Jesus erfüllte alle Feste, auch die im Herbst. Am deutlichsten trifft dies auf den Versöhnungstag zu, wie im Hebräerbrief ausführlich dargelegt wird [3]. Kaum ein anderes Fest wurde so klar, so weitgehend und so eindrücklich von Jesus erfüllt.

Das Posaunenfest lässt sich weniger leicht erklären, da wir ja nur über wenige Informationen verfügen. Ich gehe davon aus, dass die Posaune, die laut NT bei der Wiederkunft geblasen wird, sich auf Jesaja 27 und auf das Jubeljahr beziehen und uns hier nicht weiterhilft. Wir müssen anderswo eine Erklärung suchen. Die textliche und zeitliche Nähe zum Versöhnungstag führt uns auf die richtige Spur. Umkehr war und ist eine Voraussetzung, damit das Sühneopfer seine Wirkung entfalten kann. Jesus predigte Buße und Umkehr, wie seine Nachfolger nach ihm. Niemand muss also auf eine Posaune warten; der Aufruf zur Buße ist schon da, und er ist immer dringend.

Wie sollten wir das Laubhüttenfest verstehen? Hier wird die Parallele zwischen einerseits Passafest und dem Fest der ungesäuerten Brote und andererseits dem Versöhnungstag und dem Laubhüttenfest wichtig. Wir reagieren auf Jesus als unser Passalamm, indem wir die Sünde aus unserem Leben entfernen. Wir reagieren auf sein Sühneopfer, indem wir aus Ägypten und Babylon ausziehen (der zweite Exodus) und uns in die Wüste begeben, auf der Reise von dieser Welt in die zukünftige (unser Kanaan). Die Folge: Wir leben auf dieser Erde als Fremdlinge, wie wenn wir im Exil wären.

Diese beiden Feste werden somit nicht so sehr von Jesus, sondern vielmehr von uns erfüllt.

Es ist aber gleichzeitig so, dass Jesus unter uns „zeltete“ (so wörtlich Joh. 1,14). Später im Johannesevangelium begibt Jesus sich für das Laubhüttenfest nach Jerusalem. Wie wir gesehen haben, erinnert dieses Fest an die Wüstenwanderung. Zur Zeit Jesu gab es als Teil des Festes eine Zeremonie, bei der Wasser ausgegossen wurde; Gott hatte das Volk während der Wüstenwanderung ja mehrmals auf wunderbare Weise mit Wasser versorgt. Auch hat man zu jener Zeit die Stadt Jerusalem nachts mit Fackeln beleuchtet, im Andenken an die Feuersäule, die die Israeliten begleitete (siehe Keener 1993 zu Joh. 7,37 und 8,12).

Es ist in diesem Kontext und an diesem Fest (Joh. 7,2), dass Jesus aufsteht und zwei außergewöhnliche Aussagen über sich macht:

Aber am letzten Tag des Festes, der der höchste war, trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. (Joh. 7,37f)

Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh. 8,12)

Die Schlussfolgerung, dass Jesus auch dieses Fest erfüllt, liegt nahe.

Welche Feste sollten wir feiern?

Noch eine letzte Frage: Welche Feste sollten wir als Christen feiern? Nun, es gibt dazu kein Gesetz in der Bibel, auf jeden Fall keins, das für Christen bindend ist (Kol. 2,16f; vergleiche Gal. 4,10); du bist zur Freiheit berufen. Allerdings lebt die weltweite Christenheit meist mit einem anderen landwirtschaftlichen Zyklus als dem in Israel. Die Kirche blickt auf andere, wenn auch verwandte Ereignisse zurück, die ihre Erlösung begründeten. Meines Erachtens macht es Sinn, dass die christliche Gemeinde dem Vorbild Israels folgt, indem sie im Laufe des Jahres dieser zentralen Ereignisse gedenkt. Es geht dabei aber nicht um den Auszug aus Ägypten, sondern um das Heil in und durch Christus.

Somit wünsche ich dir frohe Weihnacht (und falls es dir entspricht, auch ein gutes Chanukka)! Aber „lasst euch nun von niemandem ein schlechtes Gewissen machen … wegen eines bestimmten Feiertages, Neumondes oder Sabbats. Das alles ist nur ein Schatten des Zukünftigen; leibhaftig aber ist es in Christus“ (Kol. 2,16f; Luther 1984).

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Fussnoten

[1] Der Dispensationalismus, auf Deutsch auch Heilszeitenlehre, ist eine vollständige Theologie mit vielen Elementen. Zum Verständnis dieser Ausgabe ist vor allem wichtig, dass diese Theologie einen mehr oder weniger strikten Unterschied macht zwischen Israel und die Gemeinde , und dass sie eine Entrückung der Gemeinde vor der so genannten großen Trübsal erwartet (in manchen Versionen in der Mitte dieser Trübsal). Die große Trübsal findet laut dieser Theologie in den letzten sieben Jahren vor der sichtbaren Wiederkunft Christi statt. Da sich in diesem Szenario zwischen Entrückung und Wiederkunft noch vieles ereignet, ist es möglich, das Posaunenfest, das ja nicht das letzte, sondern das erste Fest des siebten Monats ist, trotzdem als Typus der Entrückung zu verstehen. Populär-theologische Darstellungen dieses Szenarios enthalten oft ausführliche Spekulationen darüber, was sich kurz vor und während der großen Trübsal alles ereignen wird. Ich finde den Dispensationalismus nicht überzeugend, das ist aber ein anderes Thema.

[2] Aus rein biblischem Blickwinkel betrachtet ist mir nicht klar, weshalb das Laubhüttenfest auf das messianische Reich hindeuten soll. Das Fest wird zwar in Sacharja 14,16-19 erwähnt; dort geht es aber nur darum, dass die Völker der Welt kommen werden, um dieses Fest in Israel mit zu feiern. Sacharja 14 erklärt die Bedeutung dieses Festes nicht.

Ich vermute, dass das Laubhüttenfest und das messianische Reich deswegen miteinander in Verbindung gebracht werden, weil die Wüstenwanderung Israels im AT als Typus für die Erfahrung der Gemeinde in der Gegenwart als Zwischenphase zwischen Erlösung und Vollendung verstanden wird. Israels anschließende Niederlassung und Existenz im Land Kanaan lässt sich dann als Typus der neuen Schöpfung und des messianischen Reiches verstehen; zu der Zeit, so könnte man meinen, wird auch die Gemeinde dieses Fest feiern, wie Israel dies im Land Kanaan tat. Israel feierte das Fest aber rückblickend, nicht als Ausdruck einer messianischen Erwartung. Und falls die Gemeinde oder die Völkerwelt das Fest nach der Wiederkunft feiern würde, wäre auch das im Rückblick.

Nebenbei erwähnt, ich glaube nicht, dass Sacharja 14,16-19 sich wörtlich erfüllen wird; man vergleiche Sacharja 14,20f: es handelt sich hier um eine Sprache, die vom alten Bund geprägt und bestimmt ist, die aber versucht, Wirklichkeiten aus dem Zeitalter des neuen Bundes zu beschreiben; oder meinst du, dass wir wieder einen Tempelkult mit Tieropfern einführen werden?

[3] Manche argumentieren deswegen, dass Jesus erst an einem noch zukünftigen Versöhnungstag mit seinem Blut in das himmlische Allerheiligste hineingehen wird (z.B. Brooks; sie braucht dazu einen verzweifelt wirkenden Versuch, den Hebräerbrief weg zu erklären); diese Sicht ist aber nicht weit verbreitet.

Literaturangaben

Deutsch Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Deutsche Bibelgesellschaft (1994), Die Heilige Schrift übersetzt von Hermann Menge (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Carol Brooks (ohne Jahr), “The Feasts of Israel” http://www.inplainsite.org/html/seven_feasts_of_israel.html

Gavin Finley (2003), “The Feast of Trumpets” http://endtimepilgrim.org/trumpets.htm

Don Finto (2001), Your People Shall Be My People (Ventura, CA: Regal Books)

Jason Hommel (ohne Jahr), “Summary of reasons why Christians expect to see the rapture happen on the Feast of Trumpets / Rosh Hashanna” http://www.bibleprophesy.org/introtrumpets.htm

Dan Juster & Keith Intrater (1991), Israel, the Church and the Last Days (2. Ausgabe) Shippensburg, PA: Destiny Image Publishers)

Craig S. Keener (1993), The IVP Bible background commentary: New Testament (Downers Grove, IL: InterVarsity Press)

Sam Nadler (2015), “For All, Here is God’s Redemptive Plan in the Feasts of Israel” http://www.charismanews.com/opinion/standing-with-israel/51612-for-all-here-is-god-s-redemptive-plan-in-the-feasts-of-israel (besucht 29. Okt. 2015)

Alf Sanders & Julie Sanders (2013, “The Fall Feasts of the Lord” (besucht 27.Okt. 2015) http://www.pray4zion.org/thelast3fallfeastsofthelord.html

Sandra Teplinsky (2015), “5 ‘To-Dos’ For Fall Feast-Related Events” http://www.charismanews.com/opinion/standing-with-israel/51666-5-to-dos-for-fall-feast-related-events (besucht 29. Okt. 2015)

Urheber Bilder

Chart: Gavin Finley, http://www.endtimepilgrim.org

Matzes: joshbousel, https://www.flickr.com/photos/joshbousel/136221616/ CC BY-NC-SA

Rosch haSchanah: Templar1307, https://www.flickr.com/photos/healinglight/3931327293 CC BY-NC-ND

Schofar: Fonzie’s cousin, https://www.flickr.com/photos/89927155@N00/2200241358/  CC BY-NC-SA

Chanukka Candles: Woodleywonderworks, https://www.flickr.com/photos/wwworks/2112524066/ CC BY

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