Special Project: Ich lese das NT in griechischer Sprache

Es gibt Zeiten, da wirkt mein tägliches Bibellesen wie ausgetrocknet. Ich erwische mich dabei, wie ich mehr oder weniger genau das Gleiche denke, wie beim letzten Mal, als ich die betreffende Bibelstelle las. Ich bewege mich auf ausgefahrenen Gleisen. Wenn sich so etwas über längere Zeit fortsetzt, ist es Zeit für eine Veränderung. Vor 27 Jahren nahm ich eine solche Erfahrung zum Anlass, bei Jugend mit einer Mission eine Schule für Bibelstudium (SBS) zu besuchen. Diese neun Monate Einführung in das Bibelstudium beflügelten mich und ermöglichten viele Jahre ertragreiches persönliches Bibellesen.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als Video Podcast

Eine weitere, weniger drastische Veränderung war, die ganze Bibel einmal in Spanisch zu lesen. Das war sehr zeitaufwendig, denn mein Spanisch ist nicht großartig. Es half mir aber, die Bibel in einer neuen Übersetzung und in einer anderen Sprache zu lesen. Es ermöglichte mir eine frische Begegnung mit dem Text. Das Problem ist nämlich oft, dass der Text mir allzu vertraut ist, deshalb sehe ich gar nicht mehr, was ich lese.

Ich befinde mich wieder an diesem Punkt. Es ist Zeit für eine Veränderung, und ich werde sie für ein Special Project verwenden. Dieses Jahr will ich das Neue Testament in der ursprünglichen griechischen Originalfassung lesen. Weil es sich um ein Special Project handelt, werde ich über meine Erfahrungen berichten, wenn auch nicht auf Create a Learning Site und nicht in Deutsch. Mehr dazu später.

Griechischkenntnisse

Zunächst möchte ich meine Grundlagen in der griechischen Sprache kurz beschreiben. Ich absolvierte vor vielen Jahren (1991) einen dreimonatigen Vollzeiteinführungskurs in die Sprache des Neuen Testamentes. Seitdem benutzte ich diese Kenntnisse immer wieder im Bibelstudium und in der Unterrichtsvorbereitung, wenn auch längst nicht so oft, wie ich eigentlich sollte. Ich merke, dass mein Wissen in Grammatik und in Vokabular etwas eingerostet ist, ein zusätzlicher Grund dieses Projekt durchzuführen.

Ich werde zum Lesen das Logos Bibelprogramm verwenden, weil ich damit blitzschnell Wortbedeutungen nachschlagen kann. Außerdem gibt das Programm die Möglichkeit, Informationen über die Morphologie eines Wortes, d.h. seine Form, Beugung und grammatische Funktion, abzurufen. Mit dieser Hilfe wird es mir hoffentlich ermöglichen, in einem Jahr fertig zu werden.

Wo publiziere ich die Ergebnisse?

Ich will Berichte über dieses Projekt nicht auf Create a Learning Site veröffentlichen und werde auch keine E-Mails darüber verschicken. Create a Learning Site bleibt die Plattform, über die einmal im Monat längere und inhaltsvollere Artikel erscheinen.

Stattdessen möchte ich Tumblr ausprobieren. Diese Blog Site wurde speziell für Kurzeinträge entwickelt. Außerdem ist sie eher alternativ und etwas rebellisch; sie enthält relativ wenige qualitativ gute christliche Beiträge. Über Tumblr lassen sich die Beiträge gleichzeitig auf Facebook und Twitter veröffentlichen. Das lässt jedem die Wahl, über welche Plattform er oder sie sich über meine Fortschritte informieren möchte.

Ich habe schon einen Probelauf abgeschlossen, um die Machbarkeit dieses Vorhabens auszuprobieren. Ich habe das Matthäusevangelium gelesen, und das war eine positive Erfahrung. Im Februar werde ich somit mehrere Kurzbeiträge veröffentlichen, die sich auf Matthäus und auf diesen Probelauf beziehen. Im März geht es dann weiter mit dem Markusevangelium. Wann immer ich auf etwas Interessantes stoße, werde ich darüber auf Tumblr berichten, allerdings nur in Englisch.

Fallgrube 1: Der Aorist

Manche Fallgruben, die einem bei der Deutung griechischer Texte begegnen können, sind mir bekannt. Viele fragwürdige Bibelauslegungen basieren auf der „Magie“ der griechischen Sprache. Es ist erstaunlich,welche wundersamen Interpretationen man mit Hilfe griechischer Wörter und Verbformen belegen kann.

Ich werde hier zwei Beispiele von Fallgruben aufführen, die beide weit verbreitet sind. Erstens, man legt oft große Bedeutung darauf, dass ein bestimmtes Verb im „Aorist“ und nicht im Imperfekt verwendet ist. In Griechisch deutet ein Imperfekt darauf hin, dass eine Handlung eine gewisse Dauer hat oder sich wiederholt. In vielen Fällen kann man diese Verbform, wenn auch etwas übertrieben, mit der folgenden Konstruktion übersetzen: „Er war am Laufen“, oder: „Er war laufende“ (statt: „Er lief“).

Heißt dies, dass der Aorist punktuell ist, und somit eine Handlung beschreibt, die nur einmal oder gar ein für alle Mal stattfindet? Das wird immer wieder behauptet. Der Aorist bildet für diese Schlussfolgerung allerdings keine Begründung. (Möglicherweise findet eine bestimmte Handlung tatsächlich nur einmal statt; das lässt sich aber nicht aus der Verbform ableiten.)

Wenn ein Verfasser ein Verb in der Aorist-Form verwendet, bedeutet das nur, dass er darauf verzichtet, solche Informationen zu vermitteln. Er lässt uns wissen, dass eine gewisse Handlung stattfand, ohne uns mitzuteilen, ob diese Handlung eine gewisse Dauer hatte oder ob sie sich wiederholte. Genau aus dem Grund heißt diese Form Aorist: Sie ist nicht-begrenzt oder unbestimmt.

Der Aorist zieht keine Grenzen. Er sagt uns nichts über die Art der Handlung unter Betrachtung. Er ist nur „punktuell“ in dem Sinne, dass die Handlung ohne Bezug auf Dauer, Unterbruch, Abschluss oder irgendetwas anderes betrachtet wird … Der Aorist kann ordnungsgemäß für jede Art von Handlung verwendet werden: einmalig oder mehrfach, momentan oder erweitert, unterbrochen oder nicht unterbrochen, abgeschlossen oder offen. Der Aorist verzichtet einfach auf eine solche Festlegung. (Stagg 1972:222; dieser Artikel von Frank Stagg über den „missbrauchten Aorist“ ist sehr lesenswert)

Fallgrube 2: Wortstudien

Das zweite Beispiel griechischer Magie hat mit Wortbedeutung zu tun. Ein Ausdruck kann oft mehr als eine mögliche Bedeutung haben. Er kann darüber hinaus viele feine Nuancen und denkbare Assoziationen aufweisen. Das berechtigt aber nicht dazu, diese alle in der Auslegung mitspielen zu lassen. Der Verfasser dachte beim Schreiben mit Sicherheit nicht an alle möglichen Nuancen. Wahrscheinlich hatte er nur eine ganz bestimmte Wortbedeutung im Sinn. Eventuell waren es zwei, falls er bewusst zweideutig formulierte.

Oft ist es nicht einfach oder sogar unmöglich, die beabsichtigte Bedeutung mit Sicherheit zu bestimmen. Das Wort wird aber auf keinen Fall jede Bedeutung gleichzeitig haben. Dieses Grundprinzip der Textauslegung wird in der Bibelauslegung nicht selten vergessen. Man kann zu viel aus einem Text herauslesen wollen, wie der nachfolgende Kommentar von einem Sprachwissenschaftler aus dem Jahre 2790 (sic) zu einem neu entdeckten englischen Text deutlich macht:

Betrachten wir also die feinen Anspielungen in der Aussage: „Her supervisor approached her [ihr Leiter kam auf sie zu]“. Das Verb approach hat eine vielseitige Verwendung. Es kann darauf hindeuten, dass etwas ähnlich aussieht oder sich in einem ähnlichen Zustand befindet (this painting approaches the quality of a Picasso); es kann sich um eine sexuelle Anspielung handeln (the rapist approached his victim); es kann Unterwürfigkeit zum Ausdruck bringen (he approached his boss for a raise). Das abgeleitete Substantiv lässt sich in unterschiedlichen Kontexten verwenden: Bautechnik (z.B. Zugang zu einer Brücke), Sport (ein technischer Begriff im Golfspiel) und sogar Krieg (ein Schutzengrabe, der eine Armee bei der Belagerung einer Burg schützt).

Der Text wirft auf großartige Weise Licht auf die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Das Wort patient (von patience, Bedeutung: Ausdauer oder Geduld) deutet darauf hin, dass kranke Menschen damals viel leiden mussten: Sie erduldeten nicht nur die eigentliche Krankheit, sondern auch die mittelmäßigen Fähigkeiten der Ärzte und sogar (zu urteilen nach anderen zeitgenössischen Dokumenten) die Last der zunehmenden finanziellen Kosten. (Moisès Silva, zitiert in Ward 2009; auch dieser Beitrag ist lesenswert)

Schauen wir mal ob ich es besser hinkriege und diese und andere Fallgruben in meinem Leseprojekt vermeiden kann.

Vorschau

Als Kostprobe folgt jetzt das, was ich Anfang November 2015 anlässlich der beiden ersten Kapitel des Matthäusevangeliums schrieb.

In Matthäus 1,11 findet sich im griechischen Text ein interessantes Wort für „Gefangenschaft“ (von Israel in Babylon). Das Wort ist metoikesias und setzt sich zusammen aus den griechischen Begriffen meta und oikos. Oikos bedeutet „Haus“. Es findet sich in deutschen Begriffen wie Ökonomie und Ökologie wieder. Meta ist eine Präposition, die in diesem Fall auf eine Veränderung hindeutet. Ins Deutsche übertragen: Hausänderung oder Wohnortwechsel.

Mir ist klar, dass diese Veränderung, anders als diese deutschen Begriffe vermuten lassen, grausam und von Gewalt begleitet war; es handelt sich nicht um einen friedlichen Umzug. Trotzdem: Manchmal brauchen wir es, dass Gott uns entwurzelt und an einen anderen Ort führt. Das tat er mit Israel um das Jahr 586 v. Chr. Er tat es vor gut fünf Jahren mit uns persönlich. Die Erfahrung war nicht schön. Ich muss aber zugeben, dass die Veränderung unser Leben bereichert hat.

Diese Überlegung hat nur bedingt mit dem griechischen Text des Matthäus zu tun; sie kommt der Wortmagie, die ich oben kritisierte, gefährlich nahe. Das Wort fasziniert mich aber, wie auch das nächste (in künftigen Beiträgen werde ich versuchen, mich mehr vom Text und weniger von solchen Wortanalysen führen zu lassen). Immerhin wird so klar, dass die häufige Übersetzung „Gefangenschaft“ (u.a. Luther und Menge) fragwürdig ist; besser trifft es die Gute Nachricht Übersetzung mit „Wegführung“.

In Matthäus 2,23 lässt sich die Familie Jesu in Nazareth nieder. Es wird dazu ein Verb verwendet, das sich ebenfalls vom griechischen Wort oikos ableitet: katoikeo. In diesem Fall wird dieses Wort mit der Präposition kata (nieder, herunter) kombiniert, was dem Verb eine feine Nuance verleiht, auch wenn oikeo (ohne kata) im Großen und Ganzen eine ähnliche Bedeutung hat.

Das Verb bedeutet nicht einfach nur irgendwo zu leben oder den Ort zu wechseln. Es bedeutet, dass man sich irgendwo niederlässt und dort auch wirklich wohnt.

Es ist ein feiner aber wichtiger Unterschied, ob wir irgendwo nur verweilen, oder uns dort niederlassen und unser Zuhause dort finden. Die Familie Jesu tat wohl das zweite.

Literaturangaben

Frank Stagg (1972), “The Abused Aorist”, Journal of Biblical Literature, Vol. 91(2):222-231

Mark Ward (2009), “Hat Steal”, http://byfaithweunderstand.com/2009/08/25/hat-steal/?utm_source=academic.logos.com&utm_medium=blog&utm_content=greekisnotmath&utm_campaign=logospro2015, 14. Dezember 2015

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