Die Inspiration zum Titel dieser Ausgabe kam durch ein Buch von John Walton über das erste Kapitel im Buch 1. Mose: The Lost World of Genesis One. Ich habe diesen Titel schamlos abgewandelt und wiederverwendet, weil er so gut passt zu dem, was ich in dieser Ausgabe sagen möchte: Die Welt, in der 1. Mose geschrieben wurde, war eine andere Welt als die unsere. Genauer gesagt, da es sich offensichtlich um den gleichen Planeten Erde handelt: Die Welt wurde damals völlig anders gesehen.
Bild: Silver Blu3, Earth-October, https://www.flickr.com/photos/cblue98/7203961392, CC BY-SA 2.0
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als Video Podcast
Kein Universum
Ein erster Beweis für diese These: Was kommt dir in den Sinn, wenn du das Wort „die Erde“ liest? Gut möglich, dass du dann das Bild vor Augen hast, das hier gezeigt wird. Wir verstehen die Erde als Planeten und haben eine klare Vorstellung darüber, was ein Planet ist. Wir reden vom Universum und meinen damit einen unvorstellbar großen Raum mit einer unvorstellbar großen Zahl von Sternen (d.h. riesigen und extrem heißen Himmelskörpern wie unserer Sonne). Uns ist bekannt, dass es über unsere eigene Galaxie hinaus unendlich viele weitere Galaxien gibt.
Als das Buch Genesis geschrieben wurde, war noch nichts von alldem bekannt. Die Menschen kannten Mars und Venus, sie hätten diese aber nicht als Planeten in unserem Sinne des Wortes verstanden. Auch hätten sie die Erde nicht in die gleiche Kategorie eingeordnet. Außerhalb der Erde gab es keinen riesigen Weltraum, sondern Wasser: den Urozean, der oft mit dem griechischen Wort chaos, als Gegenteil von kosmos, bezeichnet wurde. Über das Firmament, das normalerweise als feste Kuppel verstanden wurde, befand sich der Wohnort Gottes (oder der Götter).
Keine Wissenschaft
Ich unterrichte oft das Buch Jesaja. Meines Erachtens ist es eines der am wenigsten verstandenen Bücher der Bibel. Im Vergleich zu Jesaja scheint das Buch 1. Mose einfach und leicht verständlich. Diese scheinbare Einfachheit täuscht. Während Jesaja oft nicht verstanden wird, wird 1. Mose oft falsch verstanden. Das kommt besonders daher, dass wir diesem Buch unsere Fragen aufdrängen. Diese Fragen befassen sich vor allem mit Wissenschaft: Biologie, Geologie, Geschichte, Archäologie, Psychologie. Das sind aber Fragen, die sich in der Welt des Buches 1. Mose kein Mensch stellte.
Darüber hinaus tendieren viele von uns zu der Annahme, dass Genesis 1-11 einen direkten wenn auch einfachen Ereignisbericht darstellt und somit wörtlich zu verstehen ist. In Wirklichkeit ist dieser Text alles andere als einfach. Er ist kunstvoll, raffiniert und tiefsinnig. Eine prinzipiell und rigoros wörtliche („literalistisch“ Auslegung verpasst viel und führt leicht zu Fehlschlüssen, besonders wenn wir erwarten, dass dieser Text sich mit unseren modernen Fragen befasst.
Tatsache ist, die alten Israeliten brauchten sich nicht mit der Evolutionstheorie zu befassen. Sie glaubten, dass die Erde alt war, aber „alt“ bedeutete einige Tausend Jahre. Die Frage, ob sie wesentlich älter sein könnte – Millionen oder gar Milliarden von Jahren – stellte sich nicht. Es gab keine Wörter für Zahlen dieser Größe. Deswegen waren sie nicht einmal in der Lage, diese Frage auch nur zu denken. Und was Universum betrifft, die folgenden zwei links führen zu einer bildlichen Darstellung, die zeigt, wie sich die Menschen im alten Orient die Welt vorstellten.
Nichts im Alten Testament deutet darauf hin, dass die Israeliten sich in ihrem Weltbild von ihren Nachbarn unterschieden, oder dass Gott je versuchte, ihre Auffassungen über die natürliche Welt zu korrigieren (e.g. 1.Mo. 1,6-7; Ps. 24,2; Ps. 104,1-9). Stattdessen passt Gott seine Offenbarung ihrem Verständnis an, weil er Wichtigeres offenbaren möchte als wissenschaftliche Detailinformationen.
Deswegen…
Was für andere Bücher der Bibel gilt, gilt auch hier. Wir können das Buch 1. Mose nur in seinem historischen und kulturellen Kontext richtig verstehen. Glücklicherweise sind wir heute wie nie zuvor in der Lage, dies zu tun, weil in den letzten 200 Jahren viele Tausende von Dokumenten des alten Orients in Mesopotamien entdeckt wurden, darunter mehrere umfangreiche Bibliotheken. Bekannt ist vor allem die Bibliothek, die vom assyrischen König Aschurbanipal (668-627 v.Chr.) in Ninive gegründet wurde und die 1851 entdeckt wurde. Die Vielzahl an Texten ermöglicht es uns, die verlorene Welt, in der das Buch Genesis geschrieben wurde, wenigstens im Ansatz zu rekonstruieren.
Diese Welt, die den meisten von uns unbekannt ist, war Bibelforschern, die im späten 19. Jahrhundert und am Anfang des 20. Jahrhunderts lebten, noch viel weniger bekannt. Die Sprachen der alten Sumerer, Babylonier, Ägypter und Kanaaniter wurden erst in den letzten 200 Jahren zum ersten Mal entziffert. Erst nach diesen Entwicklungen in der Erforschung der alten Sprachen konnte man Einblick in die enge Verwandtschaft zwischen dem AT und der Literatur und den Ideen dieser Kulturen gewinnen. Damit öffnete sich ein außergewöhnliches Fenster für das Verständnis dessen, was die biblischen Verfasser meinten. Diese Verbindungen haben unser Verständnis der Anfangskapitel im Buch Genesis maßgeblich geprägt. (Heiser 2012)
Die größte Überraschung unter diesen Entdeckungen sind mehrere poetische Erzählungen über die Schöpfung, eine große Flut oder über beides. Diese Darstellungen zeigen eindeutige Parallelen zu Einzelheiten oder sogar zu ganzen Erzählungen in den Anfangskapiteln in 1. Mose. Es ist offensichtlich, dass sie wenigstens zum Teil die Welt ähnlich verstehen und wahrnehmen. So gehen sie alle davon aus, dass die Welt aus Wasser geschaffen wurde und weiterhin auf allen Seiten von Wasser umgeben ist, wie die oben erwähnten Links zeigen. Zu der Zeit glaubte dies wohl jeder, und 1. Mose stellt diese Sicht nicht in Frage.
Eklatante Unterschiede
Auffälliger als die Ähnlichkeiten sind allerdings die Unterschiede – nicht im „wissenschaftlichen“ Verständnis, sondern in Weltanschauung und Theologie. Die Erzählungen im ersten Teil von Genesis erzählen damals bekannte Geschichten so, dass sie eine radikal andere theologische (und politische!) Botschaft verkünden. Grundlegend für die Versionen aus Mesopotamien sind Polytheismus, Astrologie und Magie. Zu dieser These bildet die Urgeschichte in Genesis die Antithese.
- Ein Beispiel. Für viele Völker der alten Welt waren die Sonne, der Mond und die Sterne Götter, die oft auch verehrt wurden. Nicht so in 1. Mose 1. Diese Himmelskörper funktionieren als Lichtquelle und sind da, um die Zeit anzuzeigen. 1. Mose degradiert diese sogenannten Götter zu Lampen, Kalender und Uhr.
- Ein weiterer Unterschied. Die Leiden der Menschheit ergeben sich nicht daraus, dass die Götter unbeständig und unzuverlässig sind und somit impulsiv und willkürlich agieren. Die Menschheit verdankt ihre Notlage vor allem sich selbst.
- Ein drittes Beispiel. Gott selbst ist nicht Teil der Schöpfung. Anders als die Götter hat er keinen Anfang. Am Anfang führt er keinen Kampf auf Leben und Tod gegen die personalisierten Chaosmächte, wie es die babylonischen Götter taten – und sie erzitterten dabei vor Angst.
Subversiver und polemischer Antimythos
Es wird somit klar, dass die Urgeschichte in Genesis nicht einfach wiederholt, was andere glaubten. Ihr Zweck ist subversiv und polemisch – polemisch, weil sie ein etabliertes System von Glaubensüberzeugungen niederreißen möchte; subversiv, weil sie dabei subtil und indirekt vorgeht, indem sie die gefestigten Überzeugungen unterminiert.
Es gibt so viele Berührungspunkte – sowohl Ähnlichkeiten wie auch absichtliche Unterschiede – zwischen 1. Mose und anderen Texten des alten Orients, dass es mindestens ein ganzes Buch brauchen würde, dem gerecht zu werden. An dieser Stelle möchte ich nur auf einige dieser alten Quellen hinweisen, damit du immerhin Zugang zu einer Probe bekommst (in englischer Übersetzung). Am Schluss dieser Ausgabe gibt es darüber hinaus noch den Link zu einer ausführlicheren Einführung in dieses Thema, die ich für die e-SBS auf Video aufgenommen habe.
Eridu Genesis, genannt nach der sumerischen Stadt Eridu, wo der Text gefunden wurde, erzählt von der Schöpfung, von den ersten Königen und den ersten Stadtgründungen und von einer Flut, die beinahe die ganze Menschheit zerstört hätte.
Text Eridu Genesis: http://www.piney.com/EriduGen.html
Atrahasis (der Name der Hauptperson, die die Flut überlebt) gleicht Eridu Genesis in vielen Punkten, ist aber ausführlicher. Der Grund für die Flut: Die Menschen vermehren sich und machen so viel Lärm, dass die Götter schlecht schlafen. Hier wird sichtbar, wie anders 1. Mose die Flutgeschichte theologisch deutet. Am Schluss bedauern die Götter ihre Entscheidung; da niemand ihnen Opfer darbringt, müssen sie hungern.
Artikel zu Atrahasis: http://www.ancient.eu/article/227/
Enuma Elisch ist die längste der hier aufgelisteten Erzählungen. Dieser Text enthält eine ausführliche Beschreibung des Kampfes zwischen Marduk, der Hauptgott der Babylonier, und Tiamat, einem Ungeheuer, das den Urozean darstellt, und den anderen Chaosmächten an ihrer Seite.
Einführung und Text: http://www.ancient.eu/article/225/
Das Gilgamesch Epos enthält eine Flutgeschichte, die dem Gilgamesch von Utnapischtim, dem Überlebenden der Flut, erzählt wird. Sie zeigt augenfällige Ähnlichkeiten zu der Flutgeschichte in 1. Mose.
Die Flutgeschichte in Englisch: http://www.ancienttexts.org/library/mesopotamian/gilgamesh/tab11.htm
Die Flutgeschichte in Deutsch: https://www.lyrik.ch/lyrik/spur1/gilgame/gilgam11.htm
Zusammen zeigen diese Texte, dass Genesis 1-11 damals weitverbreitete Geschichten erzählt und diese dabei gleichzeitig auf revolutionäre Weise neu interpretiert.
Genesis 1-11 ist nach unserem Verständnis ein oft höchst kritischer Kommentar zu Auffassungen über die natürliche und die übernatürliche Welt, die im Altertum gängig waren. Sowohl die Einzelgeschichten wie auch die gesamte Endfassung scheinen eine Polemik gegen viele der allgemein akzeptierten Vorstellungen über die Götter und die Menschheit zu sein. Diese klare polemische Ausrichtung von Genesis 1-11 sollte aber nicht die Tatsache verdecken, dass biblisches und außerbiblisches Gedankengut in bestimmten Punkten eindeutig übereinstimmen. Stärker noch: Genesis und der alte Orient haben wahrscheinlich mehr gemeinsam als sie jeweils mit den Vorstellungen der Moderne gemeinsam haben.
Es wurde schon erwähnt, dass Genesis 1-9 einen knappen Umriss der Weltgeschichte von der Schöpfung bis zur Flut enthält, zu dem das Atrahasis-Epos und noch auffälliger die sumerische Flutgeschichte eine Parallele bilden. Innerhalb dieses Umrisses sind sich die Flutgeschichte in Gilgamesch (vielleicht übernommen aus einer Version des Atrahasis-Epos, die verloren gegangen ist) und in Genesis erstaunlich ähnlich. Das heißt nicht, dass der Verfasser von Genesis je das Gilgamesch-Epos gehört oder gelesen hat: Diese Überlieferungen waren zu jener Zeit im Nahost Teil des intellektuellen Standards, genauso wie viele Menschen heute eine Ahnung von den Ideen in Darwin’s Origin of Species haben, auch wenn sie das Buch nicht gelesen haben. (Wenham 1998: xlvii-xlviii)
Genesis: ein unerschöpfliches Buch
Mir ist klar, dass diese Ausgabe nur eine erste Einführung in das Buch Genesis wie auch in die Welt des alten Orients sein kann.
Im letzten Jahr nahm ich mir die Zeit, Gordon Wenhams zweibändigen Kommentar zum Buch 1. Mose in der Reihe Word Biblical Commentary zu lesen. Da ich mich seit 30 Jahren immer wieder mit 1. Mose befasse, meinte ich zu Beginn dieser Lektüre, dass ich dieses Bibelbuch einigermaßen gut kannte. Ich stellte aber fest, dass ich das Buch nach 30 Jahren immer noch unterschätze. Ich war überrascht, wie viele für mich neue Details ich kennen lernte und wie viele neue Einsichten in Hinblick auf Sprache und Komposition ich gewann.
Das alles ist allerdings nur ein Anfang, soviel ist mir jetzt klar. Das Buch der Schöpfung bleibt unerschöpflich.
Ein letztes Beispiel: Kritik auf Babylon
Zum Schluss noch ein letztes Beispiel dafür, wie stark 1. Mose in der Welt des alten Orients verwurzelt ist. Die Babylonier betrachteten ihre Stadt als das Zentrum der Welt und als Wohnort des Hauptgottes, Marduk. Die sogenannten Ziggurats in diesem Teil der Welt wurden wahrscheinlich, auch wenn sie nicht in den Himmel ragten, als Wohnort eines Gottes oder als Begegnungsort zwischen einem Gott und Menschen verstanden. Der Name Babel oder Babylon bedeutet in der Sprache der Babylonier Tor der Götter, ein weiteres Indiz, für wie wichtig die Babylonier ihre Stadt hielten.
Die biblische Erzählung über den Turm zu Babel macht mit dieser Vorstellung kurzen Prozess. Babel wird zum Zentrum einer Zerstreuung: Von hier aus verteilen die Völker sich über die damals bekannte Welt. Der Turm, der angeblich bis in den Himmel ragt, ist in Wirklichkeit so niedrig, dass Gott aus dem Himmel herunterkommen muss, damit er sehen kann, was die Menschen anstellen. Der Name Babel klingt wie das hebräische Wort für Verwirrung. Der Name wird somit umgedeutet: nicht Tor der Götter, sondern Ort der Verwirrung. Gott ist vom menschlichen Streben, ein Weltreich zu gründen, nicht beeindruckt. Babylon wird kurzerhand degradiert und in dieser beißenden Satire lächerlich gemacht:
Wie auch anderswo in Genesis 1-11 findet sich in dieser Erzählung eine kräftige Polemik gegen die mythische Theologie des Altertums. Diese Polemik ist oft indirekt statt explizit. Nur die ersten Leser und die Gelehrten von heute, die sich in den Flutberichten Mesopotamiens auskennen, sind in der Lage, die gewaltigen Unterschiede zwischen den Darstellungen von Noah und Utnapischtim [dem Noah-ähnlichen Überlebenden der Flut im Gilgamesch-Epos] oder zwischen dem Gott Israels und den Göttern Mesopotamiens, die sich angstvoll vor der Flut ducken und sich nachher wie Fliegen auf das Opfer stürzen, zu würdigen. Aber Genesis 11 legt jede Zurückhaltung ab: Der Angriff auf die Anmaßungen Babylons ist offen und unverschleiert. (Gordon Wenham 1998: 244)
Zum Schluss: Zwei Jahre!
Ich hätte es fast vergessen: Diese Ausgabe markiert zwei Jahre Create Learning Site! Mir macht es unheimlich Spaß, jeden Monat ein Thema oder ein Buch durchzuarbeiten und euch am nächsten Monatsanfang darüber zu berichten. Also: auf ein drittes Jahr zusammen lernen!
Literaturangaben
Heiser, M. S. (2012) “Genesis and Ancient Near Eastern Cosmology”. In: Barry, J. D., Heiser, M. S., Custis, M., Mangum, D., & Whitehead, M. M. Faithlife Study Bible (Bellingham, WA: Logos Bible Software)
Walton, J. (2009) The Lost World of Genesis 1: Ancient Cosmology and the Origins Debate (Downers Grove, IL: IVP Academic)
Wenham, G. J. (1998) Word Biblical Commentary, Vol. 1: Genesis 1–15 (Dallas, TX: Word)
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