Eine zweite Chance für Deuteronomium (5. Mose)

Ich werde oft gefragt, welches Buch der Bibel mein Lieblingsbuch sei. Die ehrliche Antwort, auch wenn es nicht das ist, was die meisten hören wollen: Ich weiß es nicht. Es kommen mir mehrere Bücher in den Sinn, aber welches davon mein Lieblingsbuch sein soll, ist eine schwere Entscheidung. Eins weiß ich aber ganz genau: Deuteronomium ist keins dieser Bücher. Ich habe kein besonders herzliches Verhältnis zu diesem Buch. Und das obwohl es für das restliche Alte Testament fundamental wichtig ist. Ich muss also etwas übersehen haben; darum habe ich mich in den letzten Wochen intensiver mit Deuteronomium befasst, um diesem Buch eine neue Chance zu geben.

Bild: http://nyphotographic.com/, cc by-as 3.0

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als Video Podcast. Wie letzten Monat angekündigt, arbeite ich jetzt mit einem besseren Mikrophon; falls Du gerne Podcasts schaut, ist es ein Versuch wert; hier klicken!

Deuteronomium ist der Schlussstein und somit in gewissem Sinne die Krone der Thora (die fünf Bücher Mose). Es ist der Maßstab, der von den Propheten verwendet wird, um Israels Untreue zu beanstanden. Auch in den Geschichtsbüchern (Josua bis Könige) wird dieser Maßstab angewendet. Aus diesem Grund bezeichnet man diese Bücher manchmal gar als deuteronomistisches Geschichtswerk: Sie beurteilen Israels Verhalten ganz offensichtlich nach den Vorschriften des fünften Thorabuches.

Daniel Bock, dessen Kommentar zum Buch Deuteronomium ich vor kurzem gelesen habe, sagt folgendes über die theologische Bedeutung des Buches:

Da dieses Buch die systematischste Darstellung theologischer Wahrheit im ganzen Alten Testament beinhaltet, können wir seine Bedeutung mit dem des Römerbriefes im Neuen Testament vergleichen. (Bock 2012:25)

Der Redakteur dieser Kommentarreihe hat diesen Satz offensichtlich nicht richtig interpretiert; in seinem Vorwort schreibt er:

An einer Stelle erhebt er [der Verfasser, Daniel Bock] den Anspruch, dass es „die systematischste Darstellung theologischer Wahrheit“ in der ganzen Bibel sei, mit dem vielleicht nur der Römerbrief von Paulus es aufnehmen kann. (Ibid.:13)

Also möglicherweise kann nicht einmal der Römerbrief mit Deuteronomium mithalten!? Bocks eigentliche Aussage, die im ersten Zitat, ist realistischer; sie beschränkt sich auf das Alte Testament. Ich bin trotzdem auch von dieser bescheideneren Aussage nicht ganz überzeugt. Mir kommen Genesis (1. Mose) und Jesaja in den Sinn als Bücher mit einem theologischen Gewicht, das mit Deuteronomium mithalten kann oder es gar noch übertrifft. Jesaja mag nicht sehr systematisch sein, seine theologische Bedeutung ist allerdings enorm. Trotzdem hat Bock mich davon überzeugt, dass ich dem Buch Deuteronomium eine zweite Chance geben sollte.

Es gibt einen zweiten Grund, weshalb ich mich entschied, dieses Buch zu studieren. In der Vergangenheit wurde ich manchmal angefragt, das Buch zu unterrichten. Ich habe immer abgelehnt, weil ich es bisher kaum je unterrichtet habe und ich deswegen viel Vorbereitungszeit brauchen würde. Wenn eine Einladung kommt, ist es oft schon zu spät für eine gute Vorbereitung. Darum habe ich mir jetzt die Zeit genommen, falls irgendwann nochmals eine Einladung kommen sollte.

Ein formeller Vertrag zwischen Suzerän und Vasall

Ein Aspekt des Buches Deuteronomium hat mich immer fasziniert. Es zeigt klar die Form und Struktur von Vereinbarungen oder Verträgen zwischen Staaten, wie sie damals üblich waren. Es geht dabei immer um das Verhältnis zwischen einem König (der Suzerän) und einem anderen, weniger mächtigen Herrscher (der Vasall), über den der Suzerän die Oberhoheit hat. Deswegen wird diese Form oft Suzeränitätsbund genannt. Eine Reihe solcher Vertragstexte aus dem zweiten Jahrtausend v. Chr. ist bekannt. In Struktur und Inhalt zeigen sie eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zum Buch Deuteronomium. Falls du irgendwann an einer Schule für Bibelstudium (SBS) oder an einem ähnlichen Kurs teilgenommen hast, kommt dir das wahrscheinlich bekannt vor. Für alle anderen werde ich diese Struktur hier kurz erklären.

Ich hörte zum ersten Mal von dieser Vertragsform, mehrere Jahre bevor ich die SBS absolvierte, als ich auf einem Flohmarkt ein Buch zu diesem Thema fand. Es war eine meiner ersten Entdeckungen im Bereich Bibelwissenschaft – Anfang der achtziger Jahre. Durch sie erhielt ein ganzes Bibelbuch plötzlich einen neuen und tieferen Sinn.

cals 28 Vazal van Jahweh

Der Suzeränitätsbund entwickelte sich im Bereich der internationalen Politik und Diplomatie. Es handelte sich um einen Versuch, aus einem Teufelskreis auszubrechen. Mächtige Herrscher und Reiche brachten weniger mächtige Herrscher unter ihre Gewalt. Diese erprobten dann aber immer wieder den Aufstand, um aus diesem Verhältnis auszubrechen. Dann musste der Suzerän seinen Vasallen aufs Neue unterwerfen. Der Suzeränitätsbund als Vertragsform versuchte die Beziehung zwischen den beiden Nationen zu ordnen und bot eine Alternative zur rohen Gewalt. Dieser Bund stellte deswegen für die internationale Politik der damaligen Zeit einen wichtigen Schritt vorwärts dar.

Der Grundriss eines solchen Vertrages sah folgendermaßen aus (in Klammern der entsprechende Abschnitt in Deuteronomium):

Präambel, eine Art Einleitung, die oft den Vermittler des Bundes vorstellt (5.Mo. 1,1-5).

Historisches Vorwort. Dieser Abschnitt listet auf, welche Wohltaten der König seinem neuen Vasallen erwiesen hat. Im Falle Israels gehören dazu der Auszug aus Ägypten, Gottes Versorgung in der Wüste und die ersten Siege über die Könige östlich des Jordans, Sihon von Heschbon und Og von Baschan (5.Mo 1,6-4,43; es handelt sich um die erste Rede des Moses).

Bedingungen. In diesem Abschnitt werden die jeweiligen Verpflichtungen der beiden Parteien festgelegt. In Deuteronomium gibt es einen allgemeinen Teil, der zur und Bundestreue aufruft (5.Mo. 5-11), gefolgt von detaillierten Einzelbestimmungen (5.Mo. 12-26). Es handelt sich um die zweite Rede des Moses, bis 29,1.

Sanktionen in Form von Segen und Fluch. Die Folgen von Treue und Untreue werden aufgelistet. Der entsprechende Abschnitt in Deuteronomium findet sich in den Kapiteln 27-29.

Anweisungen für den Fortbestand der Bundesbeziehung (5.Mo. 31,9-32,47). Üblicherweise gehörten dazu:

  • Das Hinterlegen einer Kopie des Vertragstextes im nationalen Heiligtum des Vasallen (5.Mo. 31,24-26).
  • Die regelmäßige öffentliche Vorlesung des Vertragstextes (5.Mo. 31,9-13). Laut Deuteronomium soll dies alle sieben Jahre stattfinden

Zeugen. Normalerweise handelte es sich dabei um die Götter des Königs und seinen neuen Vasallen. Diese Möglichkeit scheidet natürlich im Falle eines Bundes zwischen Gott und Israel aus. In Deuteronomium werden folgende Zeugen aufgeführt:

  • Himmel und Erde (5.Mo. 30,19; 31,28)
  • „Dieses Buch des Gesetzes“ (5.Mo. 31,26)
  • Die einzigartige Form eines prophetischen Liedes (in 5.Mo. 32), das explizit als Zeuge bezeichnet wird (5.Mo. 31,19)

Die dritte Rede des Moses (5.Mo. 29,2-30,20 oder -31,8) hat keine Entsprechung in der üblichen Vertragsform. Es handelt sich hier um eine feierliche Zeremonie zur Erneuerung eines Bundes. Auch dieser Teil des Buches entnimmt seine Form der Idee eines Suzeränitätsbundes und zeigt mehrere der soeben aufgelisteten Elemente auf.

Das Buch endet mit dem prophetischen Segen, der Mose über die Stämme Israels ausspricht (5.Mo. 33), und mit einem Bericht über seinen Tod (5.Mo. 34). Diese Abschnitte finden keine Entsprechung im üblichen Suzeränitätsbund.

Es ist faszinierend, dass Gott eine bestehende menschliche Vertragsform übernimmt, um seine besondere Beziehung zum Volk Israel offiziell zu machen.

Für mich neue Einsichten I

Eine für mich neue Einsicht, die ich durch die erneute Beschäftigung mit Deuteronomium gewann, hat auch mit seiner Struktur zu tun. Das Buch kann man als Erklärung der Zehn Gebote verstehen; seine Struktur folgt diesen „Zehn Worten“, wie sie im Text genannt werden (5.Mo. 4,13; 10,4; siehe auch 2.Mo. 20,1 und 5.Mo 5,22). Sie werden in Deuteronomium 5, am Anfang der zweiten Rede aufgelistet; ihre Erläuterung beginnt in Kapitel 6. Genau genommen ist der Begriff Erklärung oder Erläuterung wohl zu stark gewählt; oft handelt es sich eher um eine lockere Anordnung von thematisch verwandten Geboten.

Im Folgenden verwende ich die Aufteilung nach Walter Kaiser (2016). Er zählt die Einleitung der Zehn Gebote („Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft“, 5.Mo. 5,6) als das erste der Zehn Worte; was oft als zwei Gebote gezählt wird (keine anderen Götter; kein Bildnis; 5.Mo. 5,7-8), versteht er als eins:

  1. Er ist der HERR (5.Mo. 6,1-11,32). Fürchte ihn, liebe ihn, diene ihm und gehorche ihm. In einem Wort, hier geht es um Hingabe. Diesen Abschnitt könnte man statt als Kommentar auf das einleitende erste Wort auch als allgemeine Einführung oder als Erklärung und Erweiterung des ersten Gebotes verstehen: keine anderen Götter.
  2. Keine anderen Götter und kein Bildnis (5.Mo. 12,1-13,18). Dieser Abschnitt besteht darauf, dass es nur einen einzigen Ort der Gottesverehrung in Israel geben darf, im Gegensatz zum Götzendienst, der viele Götter, Statuen und Kultstätten kennt.
  3. Den Namen des Herrn nicht missbrauchen (5.Mo. 14,1-29). Da es in diesem Kapitel um reine und unreine Tiere und um den Zehnten geht, ist die Verbindung zum dritten Gebot unklar. Vielleicht geht es um die positive Kehrseite des Verbots: Heiligt seinen Namen (man vergleiche das Vaterunser). In diesem Fall heiligt man seinen Namen, indem man den Zehnten abgibt und auf unreine Tiere als Speise verzichtet.
  4. Den Sabbattag halten (5.Mo. 15,1-16,17). Es geht vor allem um das Erlassjahr, auch Sabbatjahr genannt, und um die drei Hauptfeste: Zeiten, die, wie der Sabbat, Gott geweiht sind.
  5. Vater und Mutter ehren (5.Mo. 16,18-18,22). Dieses Gebot wird auf andere Führungsrollen und auf Gerechtigkeit erweitert, auch wenn nicht alles zu diesem Thema passt (Verbot von Ascherabildern, 5.Mo. 16,21-22; Verbot von fehlerhaften Opfertieren, 5.Mo. 17,1; möglicherweise besteht die Verbindung im „Ehren“ von Eltern und Gott).
  6. Mord (5.Mo. 19,1-22,8). In diesem Abschnitt ist die thematische Verbindung stark, und die Abhandlung über Blutschuld und Zeugen dient tatsächlich zur Erläuterung des Gebotes. Die Verbindung zu den Kriegsgesetzen in Deuteronomium 20 ist etwas lockerer, aber nachvollziehbar.
  7. Ehebruch (5.Mo. 22,9-23,14). Nicht alles passt, vieles aber hat mit Ehe und Sexualität zu tun.
  8. Diebstahl (5.Mo. 23,15-24,7). Es geht vor allem um Eigentumsrecht.
  9. Falsches Zeugnis (5.Mo. 24,8-25,4). Mehr noch als im dritten Abschnitt bleibt die thematische Verbindung unklar. Manches würde besser in Abschnitt 8 (Eigentumsrecht) passen.
  10. Begehren (5.Mo. 25,5-26,19). Kaiser nennt das Thema „Ehrlichkeit und Pflicht“. Die thematischen Verbindungen sind hier ebenfalls eher schwach.

Es handelt sich also nicht um ein konsequent umgesetztes Anordnungsprinzip, es gibt aber immerhin eine Tendenz, die Themen nach diesem Rahmen der Zehn Worte anzuordnen.

Für mich neue Einsichten II

Einige weitere Einsichten, die ich gewonnen habe:

1 In Deuteronomium lernen wir Mose als Pastor kennen. Sein Herz schlägt nicht für Gesetze, sondern für das Volk, und er will die Menschen dazu bringen, dass sie die Vorschriften des Bundes einhalten, damit es ihnen gut geht. Mose ist immer noch der Hirte, der er im Land Midian wurde, auch wenn die Herde jetzt ein Volk und keine Schafsherde ist.

2. Was machen Pastoren? Unter anderem: Sie predigen. Sie erklären und ermahnen und fordern heraus und ermutigen. Das ist genau, was im Buch Deuteronomium geschieht. Es handelt sich um eine Predigt des Moses, seine letzte. Wie in jeder Predigt, geht es dabei um die Auslegung von Bibeltext; so auch hier:

Jenseits des Jordan … fing Mose an, dies Gesetz auszulegen (5.Mo. 1,5)

3 . Wahrscheinlich hast du es schon gehört, es ist aber eine Wiederholung wert: Gesetz ist eine eher mangelhafte Übersetzung für das hebräische Wort Thora, auch wenn es im Neuen Testament so übersetzt wird. Unterricht oder Weisung trifft es besser. Etwa ein Drittel der Thora besteht aus Geschichten und passt deswegen gar nicht in die Kategorie „Gesetz“. Nicht einmal Deuteronomium präsentiert sich uns als Gesetzgebung oder Gesetzbuch. Es handelt sich um eine Predigt. Diese Predigt ist in einen historischen Bericht, in eine Erzählung, eingebettet. Anders gesagt, uns wird die Geschichte erzählt, wie Mose seine Ansprache hielt. Deuteronomium ist nicht das reine Manuskript seines Vortrages. Genau genommen ist das Buch wie Genesis und der größere Teil des Buches Exodus eine Erzählung.

Der Name Deuteronomium, der für dieses Buch oft verwendet wird, bedeutet wörtlich Zweites Gesetz. Das ist aber keine besonders glücklich gewählte Bezeichnung. Erstens, wie jetzt klar sein sollte, ist das Buch kein Gesetzbuch. Zweitens ist es eine Auslegung oder Erklärung der ersten (und einzigen) Thora, nicht eine zweite Version.

4. Wenn Deuteronomium nebst Liebe für und Hingabe an Gott irgendetwas vermitteln will, dann muss es Gerechtigkeit sein. Das Buch will eine Leidenschaft für diesen Wert vermitteln, da die Gerechtigkeit Gott so wichtig ist:

Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du nachjagen, damit du Leben hast und das Land in Besitz nehmen kannst, das der Herr, dein Gott, dir gibt. (5.Mo. 16,20 Einheitsübersetzung)

Deuteronomium ist keine vollständige Übersicht über alles, was gut und schlecht oder richtig und falsch ist. Vielmehr will das Buch eine Herzenseinstellung Gott und den Menschen gegenüber vermitteln als Grundlage für eine gerechte Gesellschaft.

Mehr zum Buch (in englischer Sprache): https://www.thegospelcoalition.org/article/help-me-teach-the-bible-scott-redd-on-deuteronomy.

Literaturangaben

Block, D. I. (2012), The NIV Application Commentary: Deuteronomy (Grand Rapids, MI: Zondervan)

Deutsche Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Katholische Bibelanstalt (1980), Die Bibel: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift: Altes und Neues Testament (Stuttgart: Katholische Bibelanstalt)

W. C. Kaiser, Jr (2016), “Deuteronomy, Book of” in J. D. Barry et. al. (eds), The Lexham Bible Dictionary (Bellingham, WA: Lexham Press)

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