Prediger: Übersehe ich etwas?

Schon seit längerem verfolgen mich Fragen zum Buch Prediger. Ich habe das Gefühl, dass ich vielleicht etwas übersehe. Das Buch ist alles andere als einfach. Es gibt zum Beispiel die Frage nach dem Autor (war es Salomon?). Wichtiger noch und schwieriger ist die Frage nach dem Sinn des Buches. Es hört sich alles recht negativ an und es gibt mehrere scheinbare Widersprüche im Buch. Ein Beispiel: Geht es dem Gottlosen gut und lebt er lange oder nicht (man vergleiche Prediger 7,15 mit 8,12-13)?

Bild: Tim Walker (25 June 2014), Criss-cross vapour trails, https://www.flickr.com/photos/timjoyfamily/14503111585/CC BY 2.0

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST.

Ich frage mich: Entgeht mir etwas? Gibt es historische Informationen oder sonstige Erklärungen, die ein völlig neues Licht auf das Buch werfen könnten, damit ich es besser verstehe? Ist es jemandem gelungen, dieses Buch zu entschlüsseln, und ich habe es nur noch nicht mitbekommen?

Ich habe keinen goldenen Schlüssel gefunden, der alles im Buch unmittelbar erklärt. Immerhin waren meine Anstrengungen kein Haschen nach Wind; ich verstehe manches im Buch inzwischen besser!

Die Frage nach dem Verfasser

Der Autor des Buches wird kein einziges Mal mit Namen erwähnt. Stattdessen bezeichnet er sich mit dem hebräischen Wort kohelet. Dieses Wort kommt vom selben Stamm wie kahal, das Versammlung oder Gemeinde bedeutet. Außerdem wird es immer mit dem Artikel verwendet: Er ist der Kohelet. Es scheint sich also um einen Titel und nicht um einen Namen zu handeln. Was aber bedeutet diese Bezeichnung?

Manche denken, es gehe um jemanden, der Sprüche und sonstige weise Worte sammelte. Es ist aber wahrscheinlicher, dass es sich hier um Menschen handelte, die sich versammeln, und dass der Kohelet in dieser Versammlung eine Rolle erfüllte. Aus diesem Grund wird das Wort oft mit Prediger, manchmal auch mit Lehrer, übersetzt. Er steht somit in der Tradition der Weisen in Israel, denen wir auch die Bücher Hiob und Sprüche verdanken.

Auch wenn kein Name im Text erscheint, gibt es einige Aussagen, die sich zusammen genommen nur auf Salomon beziehen können. Prediger 1,1 beschreibt den Autor als Sohn Davids und als König zu Jerusalem. In Prediger 1,12 schreibt er: „Ich, der Prediger, war König über Israel [nicht Juda] zu Jerusalem“. Er behauptet, mehr Weisheit und größere Besitztümer erworben zu haben, „als alle, die vor mir zu Jerusalem waren“ (Pred. 1,16; 2,7). Da kommt nur Salomon in Frage.

Nun gibt es aber Probleme mit dieser Identifizierung. Auch sonst eher konservative Ausleger sind nicht immer davon überzeugt, dass Salomon der Verfasser ist. Ich erwähne die zwei wichtigsten Gründe:

  1. Salomons Name erscheint nicht in diesem Buch und der Autor spricht nur in den ersten beiden Kapiteln als König. In den folgenden Kapiteln tritt er als Weiser, nicht als Herrscher in Erscheinung (siehe vor allem Pred. 12,9-10).
  2. Die hebräische Sprache, in der dieses Buch geschrieben ist. Der Text verwendet manche aramäischen und persischen Wörter. Viele schließen daraus, dass dieser Text erst während des Exils oder nachher verfasst wurde. Mein Hebräisch ist leider nicht gut genug, um dieses Argument zu beurteilen.

Wenn aber nicht Salomon der Verfasser ist, gibt es ebenfalls ein Problem. Das Buch wäre unter einem falschen Namen geschrieben. Der Autor verwendet den Namen zwar nicht, seine Aussagen lassen aber keine andere Schlussfolgerung zu: Er ist Salomon oder er täuscht vor, Salomon zu sein, auf jeden Fall in Kapitel 1 und 2. Nicht nur das, er würde dann auch Dinge beschreiben, die er gar nicht getan hat. Wie lässt sich das erklären?

Kann das legitim sein?

Als ich mich mit diesem Bibel Buch beschäftigte, kam das kostenlose Buch des Monats von Logos Bible Software. Es war ein Kommentar zum Buch Prediger von Douglas Miller in der Kommentarereihe Believers Church Bible Commentary. Perfektes Timing.

Miller verweist auf zwei Textformen oder Gattungen, die die Anfangskapitel des Buches Prediger geprägt haben können: königliche Inschriften und königliche Autobiografien. In einer königlichen Inschrift rühmt ein König sich seiner Errungenschaften und großen Taten. Eine königliche Autobiografie wurde in den meisten Fällen erst nach dem Tod des Königs erstellt; sie täuscht somit nur vor, eine Autobiografie zu sein. Wie Miller (2010:25) schreibt:

Die (erdichtete) königliche Autobiografie ist scheinbar die Denkschrift eines Monarchen, der schreibt, damit er die durch Erfahrung errungene Weisheit weitergibt.

Das Buch Prediger ahmt diese Form nicht einfach nach; es wird aus ihr eine Parodie. Die betreffenden Könige und ihre Schreiber nahmen sich wichtig und bezogen eine Pose der Autorität und der Weisheit. Wenn aber Kohelet die Rolle Salomons einnimmt, so Miller, bleibt von all dem nur Schall und Rauch übrig.

Bei dieser Annahme lässt Kohelet Salomon sein Leben posthum reflektieren, wie wenn es sich um ein Forschungsprojekt handeln würde. Es gibt in Prediger 1,2-3 eine eindeutige These (alles ist ganz eitel) und eine Forschungsfrage: Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Es folgt eine Reihe von Experimenten mit Beobachtungen und Ergebnissen, die kritisch reflektiert werden. Und es gibt die Schlussfolgerung, dass die anfängliche These sich eindeutig bestätigt. Jeder, der schon mal einen Forschungsbericht geschrieben hat, sollte die Form wiedererkennen.

Also doch ein pseudonymes Werk? Unter einer Bedingung wäre es nicht problematisch, unter einem falschen Namen zu schreiben: Wenn die ursprüngliche Leserschaft die literarische Form kannte und erkennen konnte, dass der wirkliche Autor nur eine Rolle spielt, um der Frage nachzugehen: Wie hätte Salomon über sein eigenes Leben geurteilt? Es lässt sich nicht feststellen, ob die Leser dazu in der Lage waren, es ist aber denkbar. Die andere Möglichkeit bleibt, dass Salomon doch der Autor war. Es kommt mir vor, dass diese Möglichkeit sich nicht gänzlich ausschließen oder widerlegen lässt.

Autoren und Redakteure

Zwei Beobachtungen haben zu Theorien geführt, dass mehr als eine Person als Autor oder als Redakteur zum Buch beigetragen haben. Der größte Teil des Buches ist in der Ich-Form geschrieben. Anfang und Schluss des Buches reden aber vom Kohelet in der dritten Person. Handelt es sich um eine spätere Ergänzung des Buches? Und könnte es sein, wie manche denken, dass die abschließenden Verse im Buch eine Kritik oder eine Korrektur der Ansichten Kohelets darstellen?

Tremper Longman vertritt in seinem Kommentar zum Buch (1998) diese letzte Ansicht, nämlich dass ein späterer Schriftgelehrter in Kapitel 12 die allzu negativen Ansichten Kohelets korrigiere und eine Warnung herausgebe.

Ich verstehe aber nicht, weshalb jemand, der ein Buch überarbeitet, dessen Ansichten er problematisch findet, diese größtenteils unverändert stehen lässt und es nicht schafft, klarer darzustellen, dass diese Ansichten gefährlich und zum Teil falsch sind und man sie kritisch lesen sollte. Sein „So nicht!“ kommt nicht an; die meisten Leser verpassen es.

Die zweite Beobachtung betrifft die scheinbaren Widersprüche im Text. Auf den ersten Blick ist Prediger negativ. Wenn alles eitel oder sinnlos oder absurd ist, je nach Übersetzung, wie passt dann der Rat, das Leben zu genießen? Ist das nicht ebenso sinnlos? Manche Ausleger meinen, ein späterer Schriftgelehrter versuche so, den Zynismus des Kohelet abzuschwächen. Manche allzu schockierende Aussagen würden so eine ausgleichende Gegenaussage bekommen, die eher traditionellen Ansichten entspreche.

Das überzeugt mich nicht. Kohelet ist nicht zynisch und er ist kein Nihilist, sondern ein Realist. Das Leben trifft manche Menschen besonders hart, und man kann zurecht fragen, ob es je besser wird. Außerdem, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, führt eine strittige Übersetzung dazu, dass Kohelet negativer erscheint, als er in Wirklichkeit ist.

Die scheinbaren Widersprüche im Buch entspringen nicht der Verwirrung des Verfassers und finden ihren Ursprung auch nicht darin, dass mehrere Personen zu diesem Buch beitrugen. Sie stammen daher, dass das Leben selbst paradox ist. Es handelt sich gar nicht um echte Widersprüche. So ist das Leben.

Nebenbei erwähnt: Die Verwendung der dritten Person am Anfang und am Ende des Buches muss nicht unbedingt auf einen anderen Schriftsteller als Kohelet hinweisen. Es ist möglich, in der dritten Person von sich selbst zu reden oder zu schreiben. Bileam macht das in einem seiner Orakelsprüche:

und er hob an mit seinem Spruch und sprach:
Es sagt Bileam, der Sohn Beors,
es sagt der Mann, dem die Augen geöffnet sind;
es sagt der Hörer göttlicher Rede,
der des Allmächtigen Offenbarung sieht,
dem die Augen geöffnet werden, wenn er niederkniet: … (4.Mo. 24,3-4)

Die Bedeutung eines Schlüsselbegriffes

Jetzt kommen wir zur wertvollsten Einsicht, die ich ebenfalls durch den Kommentar von Douglas Miller gewann. Er schrieb seine Doktorarbeit zu diesem Bibelbuch. Der Kern seiner Forschung betraf den Schlüsselbegriff des Buches, in Hebräisch hebel. Dieses Wort erscheint 38 mal im Buch, unter anderem direkt am Anfang und kurz vor dem Schluss. Es liegt deshalb nahe, dass es sich in diesen Versen um die These und um die Schlussfolgerung des Buches handelt:

Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. (Pred. 1,2)

Es ist alles ganz eitel, spricht der Prediger, ganz eitel. (Pred. 12,8)

Der Begriff hebel wird unterschiedlich übersetzt: eitel, sinnlos, absurd, leer usw. Deshalb entsteht der Eindruck, dass Kohelet das Leben völlig negativ bewertet.

Douglas Miller hat sich die Mühe genommen, jeder Verwendung des Begriffes in Prediger und jeder möglichen Übersetzung ausführlich nachzugehen. Dabei stellt sich heraus, dass keine der soeben aufgelisteten Übersetzungen in jedem Fall verwendbar ist. Zu jeder Verwendung des Begriffes gibt es Aussagen, wo diese Übersetzung keinen Sinn ergibt. Ein Beispiel:

So freue dich, Jüngling, in deiner Jugend und lass dein Herz guter Dinge sein in deinen jungen Tagen. Tu, was dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt; aber wisse, dass dich Gott um das alles vor Gericht ziehen wird.

Lass den Unmut fern sein von deinem Herzen und halte fern das Übel von deinem Leibe; denn Kindheit und Jugend sind eitel. (Pred. 11,9-10)

Hier gibt es einen Widerspruch – falls hebel hier tatsächlich sinnlos oder absurd bedeutet. Denn weshalb würde man sich dann freuen? Der Widerspruch löst sich auf, wenn wir hebel verstehen, dass Jugend flüchtig und vorübergehend ist: Man freue sich darin, solange sie dauert. Diese alternative Übersetzung passt aber nicht in anderen Aussagen mit hebel: Manches ist sinnlos, dauert aber fort.

Miller argumentiert deswegen, dass wir den Begriff als Symbol oder als breite Metapher verstehen sollten. Das entspricht der ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Er schlägt vor, mit Dampf oder Rauch zu übersetzen. Eine solche Metapher kann gut mehr als eine Bedeutung oder mehr als einen Vergleichspunkt haben. Dampf und Rauch sind:

    • Flüchtig, vorübergehend, vergänglich
    • Substanzlos
  • Schlecht (die Augen reizend)

Dampf oder Rauch ist eine Übersetzung, die in jedem Fall passt. Damit zeigt sich, dass Prediger das Leben nicht so negativ betrachtet wie andere Übersetzungen vermuten lassen. Das Leben ist vergänglich und vielem mangelt es an Substanz; damit ist das Leben aber noch nicht sinnlos oder absurd. Es macht deswegen Sinn, das Leben zu genießen und dabei Gott zu gedenken. Damit ist nicht alles gesagt; das Buch Prediger ist aber auch nur ein kleiner Teil der Bibel. Wie Miller schreibt:

Kohelet erklärt nicht das ganze Leben als sinnlos oder absurd; er verwendet Dampf, um ein Leben voller Verworrenheit, Spannungen und Schwierigkeiten zu beschreiben; in diesem Zusammenhang bietet er Hilfe an, um mit den guten und schlechten Seiten des Lebens umzugehen. (Miller 2010:264)

Die Hauptsumme dieser Lehre (frei nach Pred. 12,13)

Das Buch Prediger ist ein notwendiges Gegengewicht zu der herkömmlichen und einfacheren Weisheit im Buch Sprüche, wo es den Gerechten meistens gut geht und dem Gottlosen nicht. Das Leben ist ein Durcheinander voller Paradoxe (nicht Widersprüche). Kohelet zeigt die Paradoxe auf, indem er scheinbar widersprüchliche Aussagen macht. Es kommt immer darauf an. Je nach Situation kann sowohl das eine wie auch das Gegenteil wahr sein.

So betrachtet funktioniert das Buch als Argument gegen vereinfachende Antworten. Eine Anwendung für heute: Einer Glaubenslehre, die besagt, dass es Christen immer gut gehen sollte (Gesundheit, Wohlstand, Segen), würde der Verfasser des Buches Prediger bestimmt kritisch gegenüberstehen.

Das Leben ist nicht so. Es folgt keinen allzu simplen Regeln oder Dogmen.

Literaturangaben

Deutsche Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Longman, Tremper, III (1998), New International Commentary on the Old Testament: The Book of Ecclesiastes (Grand Rapids, MI: Eerdmans)

Miller, D. B. (2010), Believers Church Bible Commentary: Ecclesiastes (Scottdale, PA; Waterloo, ON: Herald Press)

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