Die letzten Monate waren Franziska und ich beschäftigt mit unserem Umzug. Obwohl immer noch viel zu tun ist, kehrt allmählich eine gewisse Normalität ein. Ich hoffe, ab jetzt wieder mehr Zeit in Create a Learning Site investieren zu können. Für diesen Monat verwende ich den Vortrag, den ich im November 2016 in Kiew während der Biblical Studies Consultation hielt.
Es gibt ein Video dieses Vortrags (in Englisch). Es handelt sich um meine eigene Aufnahme mithilfe eines iPads, also das Video-Pendant zu einem Selfie. Dieses Video enthält zwei live Demos, die im nachfolgenden Text nicht enthalten sind. Es könnte sich deswegen lohnen, auf das Video umzuschalten (etwa 26 Minuten).
Wie machen wir Menschen hungrig? Ich meine das nicht im körperlichen Sinne. Das ist einfach. Wenn wir Menschen lange genug am Essen hindern, werden sie irgendwann hungrig. Wenn es aber um die Bibel geht, funktioniert das nicht so. Es gilt eher das Gegenteil: Wenn Menschen lange nicht mehr die Bibel lesen oder keine Gelegenheit zu Bibelmeditation haben, verlieren sie das Interesse daran völlig.
Wie werden Menschen in diesem Sinne hungrig? Dazu kommt mir nur eine Antwort in den Sinn: Gib ihnen eine Kostprobe!
Ich werde mich in diesem Text auf das Thema Bibelmeditation beschränken und fünf Möglichkeiten vorstellen, wie man eine solche Kostprobe geben könnte. Sie lassen sich im Unterricht einsetzen, zum Beispiel am Anfang als Eisbrecher, irgendwo in der Mitte, um die Routine zu durchbrechen, oder am Schluss als Teil einer Reflexion zur praktischen Umsetzung. Sie lassen sich auch als Teil eines Gottesdienstes oder sonstigen Meetings verwenden. Sie zeigen einen einfachen Weg, Menschen dazu zu bringen sich mit dem Wort Gottes zu befassen und ihnen gleichzeitig Ideen für ihre persönliche Bibelmeditation mit auf den Weg zu geben.
1. Geführte Meditation
Beim Unterrichten von 3. Mose verwendete ich zum ersten Mal eine geführte Meditation. Das erste Kapitel dieses Buches befasst sich mit Anweisungen für das sogenannte Brandopfer. Ich bat die Studenten, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, dass sie ein Opfertier zur Stiftshütte bringen und dieses Opferritual durchführen würden, während ich die Prozedur langsam und Schritt für Schritt beschrieb. (Als große Überraschung bei diesem Opfer entpuppt sich oft die Tatsache, wie viel vom Opfernden und nicht vom Priester beigetragen werden muss.)
Eine geführte Meditation funktioniert gut für viele Rituale und besonders auch für Erzählungen.
2. Geführte Gruppenmeditation
Eine geführte Meditation für eine Gruppe ist fast für jede Bibelstelle geeignet. Ich probierte sie zum ersten Mal mit 3. Mose 16, das Kapitel über den Versöhnungstag. Ich las das Kapitel Satz für Satz laut vor und ließ nach jedem Vers etwas Zeit, damit die Zuhörer reagieren konnten, entweder mit einer Beobachtung zum Text oder mit einer Einsicht oder mit einem zusätzlichen Gedanken.
Das ist ganz einfach, und die Übung bringt einen frischen Wind in den Unterricht. Sie bietet die Möglichkeit, dem Text neu und anders zu begegnen. Außerdem lernen die Teilnehmer Einsichten und Überlegungen der anderen kennen.
3. Lectio Divina
Der Ausdruck (göttliches oder geistliches Lesen) ist lateinisch und kommt aus dem mittelalterlichen Klosterleben. Ursprünglich bestand Lectio Divina aus vier Elementen oder Schritten:
- Lesen
- Meditieren
- Beten
- Betrachten (Contemplatio); in diesem Kontext hat der Begriff nicht die Bedeutung nachzusinnen; es geht vielmehr darum, geistlich wahrzunehmen oder zu empfangen, wovon der Text redet; der Begriff hat einen mystischen Inhalt
Die vier Schritte lassen sich auch als Fragen umformulieren; man kann sie ändern, wie man will. Für Teilnehmer ist es oft hilfreich, ein einfaches Blatt mit dem Text und den Fragen vor sich zu haben. Eine Alternative, die etwas mehr Arbeit erfordert: Schreibe oder drucke den Text auf eine passende Form oder ein relevantes Bild, damit die Teilnehmer etwas Sichtbares und Fassbares bekommen.
Wenn es sich um einen Gottesdienst mit 300 oder mehr Teilnehmern handelt, bedeutet PowerPoint natürlich weniger Arbeit. Wir sollten aber nicht unterschätzen, welche Wirkung es hat, wenn wir den Menschen etwas in die Hand geben.
Die Teilnehmer haben somit den Text vor sich. Du liest ihn mehrmals vor (oder lässt ihn vorlesen). Anschließend liest du die Fragen und lässt bei jeder Frage etwas Zeit. Dabei führst du sie vom Lesen und von der Beobachtung hin zu einer individuellen Überlegung, einer Antwort an Gott.
4. Nachdenken, reden oder beten über einen Bibelvers
Dieselbe Schriftstelle und die gleiche Form lässt sich auch so einsetzen: Die Teilnehmer denken kurz darüber nach, reden darüber mit ihrem Nachbarn oder verwenden sie als Grundlage für ein Gebet, alleine oder zusammen mit jemand anderem. Bei Psalm 18,3 zum Beispiel („Herr, mein Fels, meine Burg“) könnte man sagen: „Rede mit deinem Nachbarn darüber, was das bedeutet, der Herr ist meine Burg“. Oder: „Wie könnte Gott für dich heute eine Burg sein? Tauscht euch zu zweit aus und betet füreinander.“
5. Demo
Die letzte Form ist eine Demo. Bibelmeditation als Demo vorzuführen ist nicht einfach, es gibt aber keinen besseren Weg, andere in die Praxis der Bibelmeditation einzuführen.
Die Idee kam mir aufgrund eines Coach-Trainings, an dem Franziska und ich vor mehreren Jahren teilnahmen. Ein Teil dieser Ausbildung war ein Seminar. Fünf Tage lang behandelten wir Themen, die zum Coaching-Prozess gehören: Wie stellt man gute Fragen, wie hört man gut zu, wie setzt man Ziele usw. Die meisten Einheiten bestanden aus etwas Theorie, einer Demo und einer Übung. Manchmal fingen wir mit der Demo an, manchmal kam die theoretische Einführung zuerst. Zu fast jeder Demo und jeder Übung gehörte ein kurzes Debriefing, worin Wahrnehmungen und Betrachtungen ausgetauscht wurden.
Diese Vorgehensweise macht Sinn. Beim Coaching geht es um praktische Fähigkeiten. Diese erlernt man weniger durch Theorie, eher durch Beobachtung und Übung. Bei Bibelmeditation ist es nicht anders. Darum brauchen wir Demos von guter Meditation.
Eine solche Meditation darf nicht vorbereitet sein, sondern findet spontan statt. Wenn ich mir ein paar Stunden Zeit nehme, um eine kurze Bibelmeditation vorzubereiten, werde ich meistens etwas Gutes, vielleicht sogar etwas Tiefsinniges anzubieten haben. Das hat aber nichts damit zu tun, wie wir im Alltag mit nur wenig Zeit persönlich über die Schrift meditieren können.
Bei einer solchen Demo versuche ich, laut zu denken. Ich finde das nicht einfach. Ich verarbeite normalerweise nicht, indem ich rede. Laut denken fühlt sich somit immer ein bisschen forciert an, ein bisschen unnatürlich. Ich weiß auch nicht, wohin der Prozess mich führen wird. Andererseits können Menschen so meinen Denkprozess über einen Text nachvollziehen und miterleben, was in mir vorgeht.
Der Vers oder die Schriftstelle wird von meinen Zuhörern vorgeschlagen. Ich bitte oft um zwei oder drei Vorschläge und wähle mir einen aus. Nachdem ich den Vers mehrere Male laut vorgelesen habe, fange ich an, mit mir selbst und zunehmend auch mit Gott über diesen Vers zu reden.
Normalerweise ende ich mit einem kurzen Debriefing, indem ich frage, was den Leuten aufgefallen ist und was sie mitnehmen.
[Siehe das Video für eine Demo (in englischer Sprache).]
Fazit
Wie machen wir Menschen hungrig? Wir geben ihnen eine Kostprobe oder, in anderen Worten, mit einer Demo.
Ich ende mit einer Demo der vierten Form: Lass Menschen nachdenken, reden oder beten über einen Bibelvers. Es geht hier um eine freie Übertragung von Matthäus 4,4, um meinen Schlusspunkt zu illustrieren:
Es ist unsere Aufgabe, Menschen geistlich zu ernähren, aber auch, ihren geistlichen Appetit anzuregen.
Ich bitte dich zum Abschluss, kurz über dieses (leicht abgeänderte) Zitat nachzudenken:
Der Mensch lebt nicht vom Bibelstudium allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.
Literaturangaben
Deutsche Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Bild: Eugenio Hansen, OFS (23 Aug. 2010), “Lectio Divina” (CC BY-SA 3.0)