Im Februar letzten Jahres schrieb ich von meiner Absicht, das Neue Testament in griechischer Sprache zu lesen und regelmäßig auf Tumblr und anderen sozialen Medien von meinen Fortschritten zu berichten. Was ist daraus geworden?
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST
Nun, das Jahr verlief völlig anders, als wir es uns vorgestellt hatten. Relativ kurzfristig kauften wir ein Haus und zogen zurück nach Deutschland. Alles ungeplant und zeitaufwändig. Aus diesem Grund habe ich schon seit Monaten nichts mehr auf Tumblr veröffentlicht. Wir mussten ja umziehen…
Ich las trotzdem weiter, wenn auch nicht ganz so schnell wie erhofft. Bis zum Jahresende schaffte ich es bis zum Kolosserbrief. Wenn diese Ausgabe erscheint, lese ich die Offenbarung, und somit ist das Ende zum Greifen nah, auch das Ende dieses Projektes.
Beim Start im letzten Jahr schrieb ich, dass ich zum Lesen das Logos Bibelprogramm verwenden würde. Das hat mir enorm geholfen. Ich hätte es sonst nicht in diesem Zeitrahmen geschafft. Es ist wunderbar, wenn man ein Wort nur anklicken muss, um seine Übersetzung und eine grammatikalische Analyse erscheinen zu lassen. Allerdings macht diese Möglichkeit einen leicht abhängig. Ohne diese Hilfe wäre ich wahrscheinlich besser im Stande, einen griechischen Text einfach so, ohne Hilfsmittel, zu lesen. Andererseits konnte ich auf diese Weise viel mehr Text lesen, als wenn ich immer wieder ein Lexikon oder eine Grammatik hätte befragen müssen.
Meine Geschwindigkeit beim Lesen hat immerhin zugenommen. Am Anfang, in Matthäus, brauchte ich etwa 25 Minuten um ein Kapitel zu lesen. Im Januar brauchte ich für den 2. Timotheusbrief und Philemon zum Lesen etwa 17 Minuten pro Kapitel. Es gibt immer noch viele neue Wörter, die ich nachschlagen muss, aber das Erkennen von Verbformen fällt mir wesentlich leichter.
Die Bücher
In diesem Abschnitt gebe ich einige meiner Eindrücke weiter.
Matthäus und Markus waren nicht besonders schwierig, Johannes war einfach, aber Lukas war eine Herausforderung. Sowohl sein Vokabular wie auch seine Satzstruktur sind erheblich schwieriger als die der anderen Evangelisten. Dies gilt auch für das Buch Apostelgeschichte. Lukas schreibt ein offensichtlich gehobeneres Griechisch. Ich wusste das zwar in Theorie, jetzt habe ich es direkt erfahren.
Überraschenderweise fand ich den Römerbrief und den 1. Korintherbrief relativ einfach. Ich hatte mich innerlich auf Schwieriges eingestellt (es sind ja Paulusbriefe), es kam dann aber nicht so schlimm. Das Vokabular dieser Briefe enthält viele theologische Begriffe, deren Bedeutung in der Literatur vielfach diskutiert wird. Deswegen waren mir viele dieser griechischen Wörter bekannt. Außerdem habe ich diese Bücher oft unterrichtet, deshalb bin ich mit dem Text gut vertraut.
Den 2. Korintherbrief fand ich hingegen, überraschend schwierig. Ich denke, indiesem sehr persönlichen Brief verwendet Paulus viele nichttheologische Wörter, die mir deswegen oft unbekannt waren. Deshalb musste ich oft nachschlagen.
Galater bis Thessalonicher waren für mich wieder gut lesbar, es waren mir geläufige Begriffe und vertraute Texte. Die so genannten Pastoralbriefe (1. und 2. Timotheus und Titus) waren dafür wieder schwierig zu verstehen. Sie enthalten viel Vokabular, das bei Paulus sonst nicht vorkommt. Viele dieser Wörter sind keine theologischen Begriffe und werden somit in der theologischen Literatur kaum diskutiert; sie waren mir deswegen größtenteils unbekannt.
Und dann kam der Hebräerbrief… Das war für mich mit Abstand das schwierigste Buch im Neuen Testament (die restlichen Bücher, die von Jakobus, Petrus, Johannes und Judas, waren wieder gut lesbar, ausgenommen 2. Petrus – schwierig, aber immerhin nur drei Kapitel). Auch Hebräer hat sein eigenes Vokabular. Dazu kommt, dass der Verfasser das Potenzial der griechischen Sprache für kompakte und komplexe Satzkonstruktionen voll ausnützt. Man muss sich immer wieder gut überlegen, welche Wörter und Satzteile zusammengehören und was Subjekt und was Objekt ist.
Das Argument, Paulus könne nicht der Verfasser dieses Buches sein, weil der Stil im Griechischen so anders sei, leuchtet mir jetzt voll ein. Anders als bei den Pastoralbriefen geht es hier nicht nur um Unterschiede in der Wortwahl. Sein Vokabular je nach Kontext zu ändern ist nicht allzu schwierig. Stil und Satzbau so total zu verändern ist wesentlich schwieriger. Vieles im Hebräerbrief war neu und ich brauchte viel Zeit, den Satzbau nachzuvollziehen und den Sinn zu erfassen. Hebräer unterscheidet sich gerade auch im Satzbau deutlich von den anderen Büchern im Neuen Testament.
Griechisch lesen
Unsere Bibelübersetzungen sind gut. Das ist eine der Schlussfolgerungen, die ich aus meiner Erfahrung mit dem griechischen Text ziehe. Ich hatte selten den Eindruck, dass die Übersetzungen, mit denen ich vertraut bin, den Text nicht richtig wiedergeben. Gelegentlich fragte ich mich, warumdie Übersetzer die Zeitform des Verbes verändert oder eine nicht auf der Hand liegende Wortwahl getroffen hatten. Dies führte allerdings nicht zu großen Unterschieden in der Bedeutung und Aussage des Textes.
Ich empfand allerdings oft, dass der griechische Text genauer, tiefsinniger und kraftvoller wirkt. Dieser Eindruck ist natürlich subjektiv, so empfand ich es aber: Die Worte sind in Griechisch voller Kraft. Und sie haben eine feine Genauigkeit, die in einer Übersetzung oft schwer zu erfassen ist.
Die griechische Sprache kombiniert häufig Wörter, zum Beispiel indem einem Wort eine oder zwei Präpositionen hinzugefügt wurden, um so den Sinn zu ändern und zu präzisieren. Das machen wir in Deutsch zwar ebenfalls, aber anders. Deswegen macht es Sinn, darauf zu achten. Zwei Beispiele:
1. Zurechtweisung. 2. Timotheus 3,16 verwendet das Wort epanórthōsis. Es wird meist mit Besserung übersetzt. Das Wort bildet sich aus orthós, das gerade (aufrecht) bedeutet, sowohl wörtlich als im übertragenen Sinne. Deswegen kann es auch wahr oder korrekt bedeuten. Dazu kommen zwei Präpositionen:
- Epí, oft mit der Bedeutung auf oder über, aber auch benutzt, um Bewegung oder Zielrichtung zu definieren.
- Aná, das hoch oder aufwärts bedeuten kann, aber auch neu oder erneut. Darüber hinaus kann es die Bedeutung eines Wortes in einer Weise verändern, die sich nicht immer leicht definieren lässt.
Kombiniert ergibt sich so ein besonders kraftvolles Wort für gerademachen, das eine positive Richtung mit einschließt: neu und aufwärts.
2. Sich ferne halten und sich hervortun (auch: sich hingeben). In Titus 3,9 (und je nach Übersetzung auch in Titus 3,2) ermahnt Paulus Titus und die Gemeinde, sich von manchem „fern zu halten“. In Titus 3,8 und 3,14 ruft er sie auf, „sich mit guten Werken hervorzutun“. Hier wird ein Gegensatz sichtbar, besonders in Vers 8 und 9. Der Kontrast ist im Griechischen allerdings klarer. Paulus verwendet zwei Wörter, die sich beide vom Verb hístēmi, stehen, ableiten:
- Proístēmi. Das Präfix pro bedeutet oft für oder vorher. Es geht darum, eine positive Einstellung einzunehmen, daher sich hervortun.
- Periístēmi. Das Präfix perí bedeutet oft rund oder herum. In diesem Fall gibt es dem Verb einen negativen Sinn: „herumstehen“ bedeutet hier nichts tun oder eben sich fernhalten.
Im Griechischen ist der Gegensatz ein Wortspiel und deswegen klarer als in der Übersetzung.
Den Bibeltext in Griechisch zu lesen führt also nicht dazu, dass wir eine andere Bedeutung finden. Es führt aber immer wieder dazu, dass wir Nuancen im Text entdecken.
Und jetzt?
Dieses Projekt hat mir den Text wieder frisch und neu vor Augen geführt. Harte Arbeit, aber fantastisch. Was kommt als nächstes?
Die naheliegende Antwort: das Alte Testament. Ich fürchte jedoch, dass ich meine Hebräischkenntnisse zunächst auffrischen und erweitern müsste, damit ich den Text auf Hebräisch lesen könnte. Es gibt aber die alte Übersetzung des Alten Testamentes ins Griechische, die Septuaginta. Sie war die Bibel der Urkirche. Es wäre eine interessante Übung, diese Bibel zu lesen. Ich überlege es mir noch.
Mit diesem Bericht geht es mir nicht darum, dass du jetzt das Neue (oder das Alte!) Testament in griechischer Sprache lesen wirst, es sei denn, du möchtest das. Vielleicht gibt es aber etwas Anderes, das du gerne lernen oder lesen möchtest? Ein Thema oder eine Frage, die dich beschäftigt? Ein Buch, das du in diesem Jahr lesen könntest und das für dich eine Herausforderung darstellt?
Wie wäre es, dein eigenes Projekt zu starten, wie klein auch immer: Create a Learning Site? Der Aufwand wird sich lohnen.