Der Tempel als Abbild des Universums

 Ich bin fertig mit Greg Beale’s Buch, The Temple and the Church’s Mission (deutscher Titel: Der Tempel aller Zeiten: Die Wohnung Gottes und der Auftrag der Gemeinde – eine biblisch-heilsgeschichtliche Studie). Ich empfinde dabei sowohl Begeisterung wie auch Erleichterung. Begeistert hat mich die faszinierende und gut belegte These des Buches. Erleichtert bin ich, weil das Buch alles andere als leicht zu lesen war. Es geht auf jedes exegetische Detail ein und lässt keine Information aus, die von Belang sein könnte – bis man irgendwann wirklich genug hat. Gleichzeitig ist es aber so tiefgründig und interessant, dass man trotzdem nicht aufhören will.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST

In dieser Hinsicht erinnert mich das Buch an God’s Empowering Presence: The Holy Spirit in the Letters of Paul, ein Buch von Gordon Fee. In diesem Buch befasst sich Fee mit jeder Erwähnung von „Geist“ oder „geistlich“ in den Paulusbriefen. Paulus erwähnt diese zwei Begriffe oft; das Buch ist mehr als doppelt so umfangreich wie das von Beale. Beide Bücher sind gleichzeitig eine Tortur und eine Faszination.

Interessanterweise gibt es beide Bücher auch in vereinfachter Kurzform (Fee sogar in deutscher Übersetzung). Falls das, was du hier liest, deinen Appetit anregt: Die Titelangaben findest du am Ende dieses Textes.

Nebenbei erwähnt: Es gibt viele Verbindungen zwischen den beiden Themen, Geist und Tempel. Durch seinen Geist, so Fee, ist Gott gegenwärtig und spendet Kraft (daher der englische Titel: der Geist ist God’s Empowering Presence). Durch diese Gegenwart wird jeder von uns individuell wie auch die Gemeinde insgesamt zum Tempel Gottes, dem Ort seiner Gegenwart. Anders gesagt, durch den Heiligen Geist wird die Gemeinde zu dem Ort in der Welt, wo Gott seine Gegenwart manifestiert.

Tempel und Stiftshütte: Ein zentrales Thema der Bibel

Vom Anfang der Bibel an ist es Gottes Absicht, bei den Menschen zu wohnen und ihr Gott zu sein. Stiftshütte und Tempel bildeten einen konkreten und anschaulichen Ausdruck dieses Zieles.

Es ist deswegen nicht überraschend, dass die Bibel endet mit der Vision eines himmlischen Tempels, der auf die Erde herniederkommt (Offb. 21-22). Offenbarung 21 spricht zwar von der heiligen Stadt Jerusalem, nicht von einem Tempel. Es heißt sogar, dass Johannes gar keinen Tempel sah; der Grund ist aber: „Der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, er und das Lamm“ (Offb. 21,22). Es ist die Gegenwart und Herrlichkeit Gottes, die die ganze Stadt erfüllen und sie so zu einem Tempel machen.

Obwohl Johannes die Stadt nicht explizit als Tempel bezeichnet, macht er klar, dass wir sie als solchen verstehen sollten. Die Stadt ist 12.000 Stadien lang und breit und hoch (Offb. 21,16). Sie ist somit ein gigantischer Würfel. Diese geometrische Form erscheint in der Bibel nur an einer einzigen weiteren Stelle: das Allerheiligste im Tempel Salomons (1.Kö. 6,20).

Das neue Jerusalem ist daher ein riesiges Allerheiligstes und der endgültige Tempel, ein Tempel, der gleichzeitig auch eine Stadt und ein Garten ist.

1. Der Tempel ist ein Garten

Diese Feststellung ist Beales Ausgangspunkt: Die Bibel endet mit einem Tempel, der gleichzeitig ein Garten ist. Nicht irgendein Garten, sondern der wiederhergestellte Garten Eden. Das neue Jerusalem ist ein erweitertes Paradies, komplett mit Baum des Lebens und dem Wasser des Lebens, das aus Gottes Gegenwart im Tempel heraus fließt. Diese Feststellung ist die erste von vier, die zusammen die Grundthemen für Beales Buch bilden: Der Tempel ist ein Garten.

Schon im Alten Testament finden sich in der Stiftshütte und im Tempel vielfältige Gartenmotive wieder, die ebenfalls an den Garten Eden erinnern. Der siebenarmige Leuchter mit seinen Knospen und Blüten ist wie ein Baum, vielleicht sogar der Baum des Lebens (2.Mo. 25,31-40). Das Allerheiligste im Tempel Salomons wurde mit Palmblättern und Cherubim dekoriert: „An allen Wänden des Allerheiligsten ließ er ringsum Schnitzwerk machen von Cherubim, Palmen und Blumenwerk, innen und außen“ (1.Kö. 6,29). Die zwei Säulen am Tempeleingang waren mit Lilien und Granatäpfeln dekoriert (1.Kö. 7,15-22), die Türen mit Palmen und Blumenwerk (1.Kö. 6,32) und die Wasserbehälter mit Cherubim, Löwen und botanischen Motiven (1.Kö. 7,36).

So betrachtet ist die Vision eines Tempel-Gartens im Buch Offenbarung keine große Überraschung.

2. Der Garten (Eden) ist ein Tempel

Die zweite Feststellung: Die Bibel beginnt mit einem Garten, der gleichzeitig ein Tempel ist. Beale (2004: 66-80) legt überzeugend dar, dass der Garten Eden der erste Tempel war. An diesem Ort war Gott gegenwärtig. Adam sollte im Garten dienen oder ihn bearbeiten und ihn bewahren, hebräische Wörter, die auch für den Priesterdienst verwendet werden. Der Eingang befand sich im Osten und wurde von Cherubim überwacht. In 1. Mose 3 und Hesekiel 28 ist die Rede von Gold und Edelstein, wie auch bei der Stiftshütte und beim Tempel. Vom Garten Eden aus floss ein Strom, der den Garten und die Welt bewässerte, genauso wie eines Tages aus dem wiederhergestellten Tempel ein Strom entspringen würde.

Die Verbindung von Garten und Tempel im Alten Testament erklärt, was sonst eine merkwürdige Vermischung von Metaphern sein würde. In 1. Korinther 3,5-17 erläutert Paulus seinen Dienst und den des Apollos zunächst in landwirtschaftlichen Begriffen: Er habe gepflanzt und Apollos habe begossen. Direkt anschließend erläutert er den Unterschied in Begriffen aus dem Bau.

Diese Vermischung ergibt Sinn, wenn wir uns klarmachen, dass Paulus nicht von Bau im Allgemeinen, sondern vom Tempelbau redet, wie in 1. Korinther 3,16-17 klar wird. Wenn der Tempel gleichzeitig ein Garten ist, macht es Sinn, dessen Weiterentwicklung sowohl als Bauaktivität wie auch als natürliches Wachstum darzustellen.

Eine ähnliche Kombination von bauen und wachsen (im organischen, biologischen Sinne) wird in Epheser 2,20-22 verwendet. Es handelt sich um eine Bibelstelle, wo die Themen von Beale und Fee (Tempel, Gottes Gegenwart, Heiliger Geist) zusammen behandelt werden:

[Ihr seid] erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinander gefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn. Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.

Anders gesagt, die Gemeinde ist heute, was zu einer früheren Zeit der Tempel und der Garten Eden waren: der Ort, wo Gott gegenwärtig ist und wo Himmel und Erde sich berühren.

3.  Der Tempel ist ein Abbild (Modell) der Schöpfung

Die dritte Feststellung versteht den Tempel als ein Abbild oder Modell. Er ist erstens eine Kopie des himmlischen Tempels, wie er Mose am Berg Sinai gezeigt wurde (u.a. 2.Mo. 26,30). Er ist gleichzeitig ein Abbild der Schöpfung oder des Universums. Ein solches Verständnis von Tempeln war im alten Orient weit verbreitet und fand sich auch in Israel wieder. Die dreifache Struktur der Stiftshütte symbolisiert die drei Bereiche des Kosmos:

  • Der Vorhof mit Wasser und Altar, für alle zugänglich, symbolisiert die Erde.
  • Das Heilige mit den Lampen (das gleiche hebräische Wort wie in 1.Mo. 1,14-15) und der Wolke des Räucherwerks symbolisiert den sichtbaren Himmel.
  • Das Allerheiligste mit seinem Gold, den Cherubim und der Wolke der Herrlichkeit Gottes symbolisiert den unsichtbaren Himmel, wo Gott ist.

Die Stiftshütte und der Tempel wurden so zur Berührungsstelle zwischen Himmel und Erde, die sich an dieser Stätte begegneten. Diese Begegnung am heiligen Ort war allerdings erst der Anfang, denn:

4. Der Tempel-Garten sollte (und soll) sich ausbreiten

Vom Anfang an war es Gottes Absicht, dass der Tempel-Garten sich ausbreiten sollte, bis er die ganze Schöpfung in sich einschließen würde. So würde die Gegenwart Gottes das ganze Universum erfüllen.

Schon im 1. Mose 1,28 finden wir einen Hinweis auf diese vorgesehene Erweiterung: Der Mensch als Bild und Vertreter Gottes sollte sich über die ganze Erde vermehren und sich alle Geschöpfe untertan machen.

In der Zeit der Wiederherstellung nach dem Exil sollte das Heilige Tempelareal vergrößert werden und die ganze Stadt Jerusalem einschließen (Jer. 3, 16-18; Sach. 2 und 14,20-21). Wenn sich in der Zukunft alle Völker in Jerusalem versammeln sollen, um den Gott Israels zu ehren, muss die Stadt wohl auch vergrößert werden. Das ganze Land Israel wird von den Propheten so beschrieben, dass es uns an die Fruchtbarkeit Edens erinnert.

Die Propheten reden sogar davon, dass Gottes Herrlichkeit die ganze Erde erfüllen wird (Hab. 2,14; Jes. 11,9; siehe auch 4.Mo. 14,21). So wird die ganze Schöpfung zu Gottes Tempel. Damit dies geschehen kann, muss die Trennung zwischen den Teilbereichen des Kosmos (Himmel und Erde) aufgehoben werden. Das geschah symbolisch beim Sterben Jesu, als der Vorhang des Tempels zerriss (Mt. 27,51). Und am Ende der Offenbarung lesen wir, wie Gott diese Trennung endgültig aufhebt, damit er für immer bei den Menschen wohnt.

Unsere Mission in der Welt

Die Auswirkung dieses Verständnisses für die Gemeinde ist enorm. Obwohl der Buchtitel, The Temple and the Church’s Mission, anderes vermuten lässt, geht Beale nicht groß darauf ein. Es würde sich lohnen, sich über die Konsequenzen ausführlicher Gedanken zu machen:

  • Die Gemeinde ist der Tempel Gottes und deswegen die Stätte seiner Gegenwart in der Welt.
  • In der Gemeinde begegnen sich Himmel und Erde; die Gemeinde ist der Himmel auf Erden (oder auf jeden Fall sollte sie es sein…).
  • Die Gemeinde als Tempel Gottes soll sich ausbreiten und die ganze Schöpfung umfassen.
  • Jeder von uns ist Tempel Gottes und ist dazu berufen, seine Gegenwart in die Welt hinein zu tragen.

Als erster praktische Schritt ergibt sich daraus, dass wir uns der Gegenwart Gottes in unserem Alltag bewusster werden sollten.  Bruder Lorenz nannte das In Gottes Gegenwart leben.

Auch ein lesenswertes Buch – und viel kürzer als Fee oder Beale!

Nachtrag: Zitate aus dem Buch (in Englisch)

In diesen Zitaten aus dem Buch fasst Greg Beale seine These in eigenen Worten zusammen:

My purpose in this book is to explore in more depth the significance of the temple in John’s Apocalypse and especially in this final vision of the book. My beginning point is a brief answer to the above question about why John equates the new creation with an arboreal city-temple in his last vision of the book. I formulated a brief answer to this in my Revelation commentary a few years ago.

In this book I will attempt to amplify the evidence produced in support of this answer in order to enhance its plausibility. My thesis is that the Old Testament Tabernacle and temples were symbolically designed to point to the cosmic eschatological reality that God’s tabernacling presence, formally limited to the holy of holies, was to be extended throughout the whole earth. Against this background, the Revelation 21 vision is best understood as picturing the final end-time temple that will fill the entire cosmos …

In attempting to substantiate this thesis, I will survey the evidence for the cosmic symbolism of Old Testament and Ancient Near Eastern temples. Then I will argue that the Garden of Eden was the first archetypal temple, and that it was the model for all subsequent temples. Such an understanding of Eden will enhance the notion that the Old Testament tabernacle and temples were symbolic microcosms of the whole creation. As microcosmic symbolic structures they were designed to point to a worldwide eschatological temple that perfectly reflects God’s glory. It is this universally expended eschatological temple that is pictured in Revelation’s last vision. (25f)

There are indications elsewhere in the Old Testament, which are developed later by Jewish commentators, that Eden and the temple signified a divine mandate to enlarge the boundaries of the temple until they formed the borders around the whole earth. Sometimes the thought may be that the entire Land of Israel, conceived as a large garden of Eden, was to be expanded. The subject matter in the present chapter is one of the strongest pieces of evidence substantiating our contention in the preceding chapter that the boundaries of the Eden garden-sanctuary and of Israel’s temples were meant to be extended to encircle the entire world. (123)

The preceding study so far has contended that the various forms of the temple in the Old Testament were intended to point to the final eschatological goal of God’s presence filling the entire creation in the way it had formally filled only the holy of holies. (313)

Urheber Bilder

Ruk7 (2011), Model of the tabernacle, as seen in Israel, Timna Park, CC BY-SA 3.0

Vera Kratochvil, Spring Garden, CC0

Literaturangaben

Bruder Lorenz (2012), All meine Gedanken sind bei dir: In Gottes Gegenwart leben (Cuxhafen: Neufeld Verlag)

G. K. Beale (2004), The Temple and the Church’s Mission: A Biblical Theology of the Dwelling Place of God, New Studies and Biblical Theology 17 (Downers Grove, IL: InterVarsity and Leicester, UK: Apollos)

Ibid. (2011), Der Tempel aller Zeiten: Die Wohnung Gottes und der Auftrag der Gemeinde – eine biblisch-heilsgeschichtliche Studie (Augustdorf: Bethanien)

G. K. Beale & Mitchell Kim (2014), God Dwells Among Us: Expanding Eden to the Ends of the Earth (Downers Grove, IL: InterVarsity)

Deutsche Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

G. D. Fee (1994), God’s Empowering Presence: The Holy Spirit in the Letters of Paul (Peabody, MA: Hendrickson)

Ibid. (1996), Paul, the Spirit, and the People of God (Grand Rapids, MI: Baker Academic)

Ibid. (2013), Gottes Geist und die Gemeinde: Leben in der radikalen Mitte (Böblingen: verlag causa mundi)

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