Das Johannesevangelium habe ich nicht oft unterrichtet. Ich bin immer davon ausgegangen, ohne viel darüber nachgedacht zu haben, dass dieser Johannes der Apostel Johannes, einer der Söhne des Zebedäus, sein muss. Ein wichtiges Argument: So sahen es die meisten Kirchenväter, die Führer und Theologen der Kirche in den ersten Jahrhunderten. Richard Bauckham bringt mich ins Zweifeln. Wer ist wirklich der Autor des vierten Evangeliums?
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST
Externer Befund
Wenn es um Fragen wie die Verfasserschaft eines Buches geht, unterscheiden wir zwischen internem und externem Befund. Als interner Befund gelten alle Belege und Informationen, die sich im Buch selbst finden. Der externe Befund besteht aus den Informationen, die sich aus anderen Quellen ergeben. Diese Quellen können andere Bibelbücher sein, aber auch außerbiblische Quellen, vor allem die Schriften der Kirchenväter.
Für das Johannesevangelium gibt uns der Titel den ersten wichtigen externen Beleg – extern, weil die Titel der Evangelien ursprünglich nicht Teil des Textes waren. Sie sind spätere Ergänzungen, wenn auch sehr alte, wahrscheinlich fast so alt wie die Evangelien selbst. Die Verbindung des vierten Evangeliums mit der Person eines Johannes ist somit sehr alt. Außerdem hat man nie eine andere Person als möglichen Autor mit diesem Evangelium in Verbindung gebracht. Damit ist die Frage aber noch nicht vollständig geklärt. Johannes war ein verbreiteter Name. Um welchen Johannes geht es hier? Und jetzt wird es interessant.
Papias (ca. 60-130)
Die ältesten externen Informationen, die wir haben, stammen von Papias. Papias lebte in der römischen Provinz Asien und wurde Bischof von Hierapolis. Irenäus, ein späterer Kirchenvater (gestorben ca. 202), schreibt, dass Papias ein Schüler des Johannes war (ja, auch hier stellt sich die Frage, um welchen Johannes es sich handelt).
Papias verfügte über Informationen über die Apostel und über die Verfasserschaft der vier Evangelien aus erster und zweiter Hand. Er selbst behauptet, dass er denjenigen, die Jesus oder die Apostel gekannt hatten, gezielt Fragen stellte, um zuverlässige Informationen sammeln zu können:
Wenn aber irgendwo jemand, der den Ältesten nachgefolgt war, kam, erkundigte ich mich nach den Berichten der Ältesten: Was hat Andreas oder was hat Petrus gesagt, oder was Philippus oder was Thomas oder Jakobus oder was Johannes oder was Matthäus oder irgendein anderer der Jünger des Herrn; was Aristion und der Älteste Johannes, (beide) des Herrn Jünger, sagen. Denn ich war der Ansicht, dass die aus Büchern (stammenden Berichte) mir nicht so viel nützen würden wie die (Berichte) von der lebendigen und bleibenden Stimme. (Papias)
Dieses oft zitierte Fragment legt nahe, dass es einen zweiten Johannes gegeben hat; beide waren Jünger und Augenzeugen Jesu. Denn der Name Johannes erscheint zweimal, zunächst in der Auflistung von Aposteln und ein zweites Mal mit der Bezeichnung „der Älteste“ zusammen mit Aristion, ein Jünger, der in der Bibel nicht erwähnt wird. Der Geschichtsschreiber Eusebius (260/265-339/340) hat Papias auf jeden Fall so verstanden. Er fügt hinzu, dass beide Personen mit Namen Johannes in Asien gearbeitet hatten, und dass sich ihre Grabstätten sich in Ephesus befanden (Eusebius, Buch III, Kapitel 39).
Es ist wichtig, die Verbformen in diesem Zitat genau zu beachten. Papias erkundigte sich, was die Apostel gesagt hatten und was Aristion und der Älteste Johannes sagten. Es macht den Eindruck, dass diese zwei noch aktiv waren, als Papias seine Informationen sammelte.
Wenn es tatsächlich zweimal einen Johannes in Ephesus gegeben hat, welcher von den beiden verfasste dann das Evangelium: der Apostel Johannes oder der Älteste Johannes? Derjenige, der das Johannesevangelium verfasste, schrieb wahrscheinlich auch die Johannesbriefe. In diesem Zusammenhang ist es von Belang, dass in zwei dieser Briefe der Autor sich schlichtweg als „der Älteste“ (ohne Namen) vorstellt. Das allein reicht für die Entscheidung aber noch nicht aus.
Polykrates (ca. 130-196)
Eine weitere Stimme aus derselben Region ist Polykrates, der als Bischof von Ephesus im späteren zweiten Jahrhundert wahrscheinlich ebenfalls wusste, welcher Johannes was geschrieben hatte. In einer Auseinandersetzung über das richtige Datum für das Osterfest schrieb Polykrates einen Brief nach Rom, in dem er sich auf die bekannten Persönlichkeiten der Anfangszeit, die in Ephesus gelebt hatten, bezog:
Denn tatsächlich sind in Asien Koryphäen entschlafen, die am Tag der Erscheinung des Herrn auferstehen werden, wenn er in Herrlichkeit vom Himmel kommt, seine Heiligen aufzusuchen, nämlich: Philippus, einer der zwölf Apostel, der in Hierapolis entschlafen ist, wie auch seine zwei Töchter, die als Jungfrauen alt geworden sind, und seine andere Tochter, die im Heiligen Geist lebte und in Ephesus ruht; und darüber hinaus auch Johannes, der sich an die Brust Jesu lehnte, der Priester war und die hohepriesterliche Platte trug …, sowohl Zeuge … als Lehrer. Er ist in Ephesus entschlafen. (Zitiert in Bauckham 2007: 37)
Dass dieser Johannes „sich an die Brust Jesu lehnte“ deutet darauf hin, dass Polykrates ihn als Autor des Evangeliums betrachtet. Der Verweis auf die hohepriesterliche Metallplatte mit dem Text „Heilig dem Herrn“ ist seltsam. Nur der Hohepriester trug diese Platte an der Stirn, sonst niemand. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass dieser Johannes, wer auch immer er gewesen sein mag, je als Hohepriester gedient hat. Bauckham (2007: 41-50) versucht eine Erklärung.
Wichtig ist: Nichts deutet darauf hin, dass der Apostel Johannes irgendwelche familiären Verbindungen zu den Priestern hatte. Noch wichtiger ist die beachtenswerte Unterlassung. Polykrates identifiziert „seinen“ Johannes nicht als einen der Zwölf oder als Apostel, obwohl es seinen Standpunkt unterstützt hätte, wenn er eine Verbindung zu einem weiteren Apostel hätte belegen können. Stattdessen wird dieser Johannes als Zeuge und Lehrer und als der Jünger, den Jesus lieb hatte, dargestellt – aber nicht als einer der Söhne des Zebedäus.
Irenäus (120/140-ca. 202)
Irenäus wird allgemein als der Kirchenvater betrachtet, der klar und eindeutig den Apostel Johannes als Autor des vierten Evangeliums bezeichnete. In der Tat steht es für Irenäus fest, dass Johannes dieses Evangelium schrieb und zwar in Ephesus. Aber welcher Johannes? In einer Analyse aller Verweise auf Johannes in Irenäus zeigt Richard Bauckham (2007: 70-72), dass diese Aussagen überraschend mehrdeutig und nicht aussagekräftig sind.
Bauckham (2007: 72) zieht daraus die Schlussfolgerung:
Das gibt der asiatischen Überlieferung, dass der Jünger, den Jesus lieb hatte und der das vierte Evangelium verfasste, der Älteste Johannes war, das Recht, sehr ernst genommen zu werden.
Aber …
… Es ist doch der Apostel Johannes, der im Johannesevangelium als der von Jesus geliebte Jünger auftritt? Ist nicht er derjenige, der sich beim letzten Abendmahl an die Brust Jesu lehnte? Wie könnte dieser Johannes jemand anders sein, wenn nur die Zwölf dabei waren? Es war doch Johannes, der beim Kreuz stand und Maria, die Mutter Jesu, zu sich in sein Haus nahm? Und im letzten Kapitel des Evangeliums war es doch der Apostel Johannes, von dem Jesus sagte: „Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an?“ (Johannes 21,23)?
Schau es nach. Von wem werden diese Dinge im Johannesevangelium gesagt? Ich musste feststellen, dass einiges nicht ganz so ist, wie ich es in Erinnerung hatte!
Interner Befund
Johannes 21,2. Wo ist Johannes im Johannesevangelium? Jetzt kommen wir zum internen Befund. Es ist bemerkenswert, dass sein Name nicht erscheint. Auch die Söhne des Zebedäus werden nicht erwähnt, mit einer Ausnahme. Die einzige Erwähnung im gesamten Evangelium findet sich in Johannes 21,2. Dieser Vers enthält eine Liste von sieben (die Zahl ist zweifellos bedeutsam), die über Nacht fischen gingen:
Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas, der Zwilling genannt wird, und Nathanael aus Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und zwei andere seiner Jünger.
Johannes 21,20-24. Einer dieser sieben muss der Jünger sein, den Jesus lieb hatte. Johannes 21,20-24 belegt eindeutig, dass dieser Jünger das vierte Evangelium verfasste. Diese Verse legen auch nahe, dass die ersten Leser wussten, wer er war: Er war einer von ihnen. Dieses Evangelium war nicht anonym. Aber wer von den sieben ist der Jünger, den Jesus lieb hatte? Da er sich anderswo im Evangelium als Jünger darstellt, ist es wahrscheinlicher, dass er einer der zwei nicht mit Namen genannten Jünger ist, nicht einer der Söhne des Zebedäus.
Johannes 13,23. Der Autor erscheint nicht nur in Kapitel 21. Möglicherweise ist er der Jünger in Johannes 1,35-40, der nicht mit Namen erwähnt wird. Wenn nicht, dann erscheint er zum ersten Mal in Johannes 13,23, beim letzten Abendmahl, wenn er sich an die Brust Jesu legt. Ist es aber denkbar, dass einer, der nicht zu den Zwölfen gehörte, dabei war? Ja, besonders dann, wenn diese Person der Besitzer des Hauses ist, wo Jesus das Fest feierte, oder sein Sohn. In den anderen Evangelien heißt es nur, dass Jesus mit den Zwölfen kam, nicht, dass nur zwölf Jünger dabei waren.
Johannes 18,15-16. „Ein anderer Jünger … der dem Hohenpriester bekannt war“, ermöglichte es Petrus, in das Haus des Hohenpriesters zu gehen, wo Petrus Jesus verrät. Wahrscheinlich handelt es sich auch hier um den Autor. Würde aber Johannes, der Sohn des Zebedäus, solche Beziehungen in Jerusalem haben?
Johannes 19,26-27. Wir finden den Jünger, den Jesus lieb hatte, auch beim Kreuz, in Johannes 19,26-27. Auf ein Wort von Jesus nimmt er Maria, die Mutter Jesu, zu sich in sein Haus. Es ist unwahrscheinlich, dass Johannes, der Sohn des Zebedäus, oder seine Familie ein Haus in Jerusalem besaßen. Diese waren als Fischer am See Genezareth tätig. Es macht aber den Eindruck, dass der geliebte Jünger ein Einwohner Jerusalems war. Das würde übrigens erklären, weshalb so viel in diesem Evangelium in der Umgebung Jerusalems und nicht in Galiläa geschieht.
Johannes 19,35. Als ein römischer Soldat Jesus mit einem Speer in die Seite stößt und Wasser und Blut austritt, lesen wir:
Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr, und er weiß, dass er die Wahrheit sagt, damit auch ihr glaubt.
Der Autor war dabei. Aber wer von den zwölf Aposteln war beim Kreuz dabei? Markus und Matthäus erwähnen nur manche Frauen; Lukas spricht auch noch von „Bekannten“ (Lk. 23,49). Diese standen aber weiter entfernt. Nur im Johannesevangelium wird berichtet, dass einige der Frauen direkt beim Kreuz standen (von Ferne hätte Maria Jesus nicht hören können) – sie, und der Jünger, den Jesus lieb hatte (und der Maria zu sich nahm).
Johannes 20,1-10. Nach der Auferstehung steht der geliebte Jünger zusammen mit Petrus beim leeren Grab.
Es ist offensichtlich, dass der Autor ein Augenzeuge der wichtigsten Ereignisse war, und deswegen auch in der Lage war, ein Evangelium zu schreiben. Es wird aber niemals gesagt, dass es Johannes, der Sohn des Zebedäus, war. Es gibt dafür keinen eindeutigen Beweis.
Im Gegenteil: Die Belege sprechen dagegen. Irgendwie habe ich alles, was ich soeben auflistete, dem Apostel Johannes zugeschrieben; er wird aber in keinem dieser Verse erwähnt. Bauckham hat recht:
Das gibt der asiatischen Überlieferung, dass der Jünger, den Jesus lieb hatte und der das vierte Evangelium verfasste, der Älteste Johannes war, das Recht, sehr ernst genommen zu werden. (2012: 72)
Das Ringen mit der Frage der Verfasserschaft bringt mich übrigens noch auf eine ganz andere Frage.
Was bedeutet es, ein Jünger zu sein, den Jesus lieb hat?
Auf meiner Bücherliste (möchte ich bald lesen): Richard Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses.
Bild
Illustration: Brown (1852-6), Jesus Washing Peter’s Feet, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jesus_washing_Peter%27s_feet.jpg, Public Domain
Literaturangaben
Richard Bauckham (2007), The Testimony of the Beloved Disciple: Narrative, History, and Theology in the Gospel of John (Grand Rapids, MI: Baker Academic)
Ibid. (2012), “Papias and the Gospels”, http://austingrad.edu/images/SBL/Papias%20and%20the%20gospels.pdf (1 November 2017)
Deutsche Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Eusebius (ca. 324), Church History
Papias: Zitiert in Wikipedia, “Papias von Hierapolis”, https://de.wikipedia.org/wiki/Papias_von_Hierapolis (7 November 2017)
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