Matthäus, Markus und Lukas haben viel Gemeinsames, besonders im Vergleich mit dem Johannesevangelium. Diese drei werden deshalb die synoptischen Evangelien genannt (vom Griechischen syn = zusammen und opsis = Sicht oder Sehen), da sie eine ähnliche Sicht auf Jesus vermitteln. Das synoptische Problem liegt darin, wie diese Übereinstimmung erklärt werden kann. Bibelwissenschaftler haben zahlreiche Antworten auf diese Frage formuliert, mit einer Erklärung als eindeutigem Favoriten: Markus schrieb als Erster, und sowohl Matthäus als auch Lukas verwendeten das Markusevangelium und eine zusätzliche Quelle namens Q (vom Begriff Quelle) in ihren Evangelien. In dieser Ausgabe setze ich mich mit diesem und anderen Lösungsvorschlägen des Problems auseinander, um zu sehen, ob ich zu einer klaren Schlussfolgerung oder Präferenz kommen kann.
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Bevor ich beginne, sollte ich meine „Vorurteile“ kundtun:
- Wenn es um Urheberschaft und Daten im Neuen Testament geht, habe ich die Schriften der Kirchenväter immer als wichtige Belege betrachtet. Diese Schriften weisen eher auf Matthäus als auf Markus als das Evangelium hin, das als erstes aufgeschrieben wurde. Ich muss hinzufügen, dass ich meine Meinung zu diesem letzten Punkt geändert habe. Die kirchliche Tradition über die Reihenfolge, in der die Evangelien verfasst wurden, ist nicht so eindeutig, wie ich dachte. Außerdem fand ich die Argumente für die Priorität des Markusevangeliums überzeugend.
- Ich war immer misstrauisch gegenüber einer Quelle (in diesem Fall Q), die völlig hypothetisch ist. Kein Fragment eines Q-Manuskripts hat überlebt; es wird in keiner Schrift erwähnt.
Mein Ansatz
Um das Problem zu lösen, bedarf es eines detaillierten Vergleichs der drei synoptischen Evangelien, Vers für Vers und Absatz für Absatz. Dieser Vergleich muss sowohl die Reihenfolge der einzelnen Erzählungen und Aussagen in jedem Buch als auch die verwendeten Wörter berücksichtigen. Die Frage ist, wie sich Ähnlichkeiten und Unterschiede am besten erklären lassen: In welcher Reihenfolge wurden die Evangelien verfasst? Haben die Evangelisten sich gegenseitig als Quelle verwendet? Und wenn ja, wer hat, salopp gesagt, von wem abgeschrieben? Welche sonstigen Quellen wurden eventuell verwendet?
Das ist natürlich eine Aufgabe für Spezialisten und erfordert einen enormen Zeitaufwand. Ich habe nicht versucht, diese Arbeit selbst zu machen, sondern habe stattdessen die Arbeiten einiger etablierter Experten zu diesem Thema studiert, die vier verschiedene Antworten vertreten. Im Gegensatz zu Matthäus, Markus und Lukas lasse ich euch über meine Quellen nicht im Dunkeln. Ich fand die folgenden zwei Bücher außerordentlich hilfreich und klar:
- Mark Goodacre (2001), The Synoptic Problem: A Way through the Maze. Dieses Buch ist als kostenloser Download in verschiedenen Dateiformaten erhältlich und bietet eine gute Einführung in das Thema. Goodacre hat eine klare Präferenz (er glaubt, dass Markus als Erster ein Evangelium verfasst hat, er glaubt aber nicht an Q), aber seine Darlegung der Argumente ist glaubhaft und ausgewogen.
- Stanley E. Porter and Bryan R. Dyer (2016), The Synoptic Problem: Four Views. In diesem Buch präsentieren Befürworter von vier Alternativen ihre Sicht und interagieren mit der Meinung der anderen. Im Folgenden werde ich diese vier Ansichten kurz zusammenfassen.
Meine Erwartung war, auf Grund dieser Präsentationen eine klare Präferenz zu entwickeln. Denn wenn einer oder zwei der Evangelisten von den anderen abgeschrieben haben, ist das sicher nachvollziehbar; wie schwierig kann das sein?
Nun, schwieriger als ich erwartet hatte. Jede Ansicht für sich betrachtet klang überzeugend – eingeschlossen die Argumente gegen die anderen Ansichten. Verschiedene Arten von Beweisen und Argumenten weisen in unterschiedliche Richtungen. Vielleicht ist dies ein Hinweis darauf, dass eine Erklärung komplexer ist, als wir gedacht haben. Es zeigt, dass das Thema noch lange nicht entschieden ist: Das synoptische Problem ist nach wie vor ein Problem.
Das Problem
Bevor ich einen Überblick über diese vier Hauptansichten gebe, möchte ich das Problem noch einmal darlegen. Die drei synoptischen Evangelien haben vieles gemeinsam. Von 678 Versen in Markus erscheinen über 600 in Matthäus, Lukas oder beiden (Porter & Dyer 2016:7). Sehr wenig Material ist einzigartig für Markus (obwohl Markus oft mehr Details in seiner Version der gleichen Geschichte gibt). Matthäus und Lukas haben etwa 230 Verse gemeinsam, die in Markus fehlen; der größte Teil dieses Materials besteht aus Aussagen Jesu, nicht aus Erzählungen (ebd.:8).
Die Ähnlichkeit zwischen den drei synoptischen Evangelien lässt sich nicht hinreichend dadurch erklären, dass sie unabhängig voneinander über denselben Anlass oder dieselbe Abfolge von Ereignissen berichten. Dafür ist die Ähnlichkeit sowohl in der Reihenfolge der einzelnen Geschichten als auch in den Details der sprachlichen Formulierung zu groß. Zwei Augenzeugenberichte derselben Ereignisse werden nicht so viel gemeinsam haben, vor allem nicht, wenn sie so lang sind. Es gibt Passagen, in denen die wörtliche Übereinstimmung so groß ist, dass es eine textliche Beziehung geben muss, d.h. entweder kopierte der eine vom anderen oder beide kopierten aus einer gemeinsamen Quelle.
Jetzt zu den vier häufigsten Erklärungen. Was ich im Folgenden darstelle, ist keineswegs eine vollständige Zusammenfassung der Argumente, sondern eher eine Auswahl. Übrigens: Falls du Beispiele sehen möchtest (es ist faszinierend, die Übereinstimmungen und Unterschiede in verschiedenen Passagen im Detail zu betrachten), empfehle ich das Buch von Mark Goodacre; meine Ausgabe wird sonst zu lang.
Die Zweiquellentheorie (Q)
Die am weitesten verbreitete Erklärung ist immer noch die Zweiquellentheorie: Matthäus und Lukas verwendeten je zwei Quellen, Markus und Q, aber nicht sich gegenseitig. (Natürlich enthalten beide Evangelien auch Material, das entweder für Matthäus oder für Lukas einzigartig ist, was bedeuten kann, dass einer von ihnen eine weitere Quelle benutzt hat, aber dies wird bei der Benennung der Hypothese nicht berücksichtigt). Anders ausgedrückt: Diese Hypothese basiert auf zwei Säulen:
- Die Priorität des Markus: Das Markusevangelium wurde zuerst geschrieben.
- Matthäus und Lukas schrieben unabhängig voneinander. Was sie gemeinsam haben, muss deswegen, insoweit es nicht aus dem Markusevangelium übernommen wurde, aus einer zweiten Quelle stammen: Q.
Für den ersten Punkt können gute Argumente angeführt werden:
- Wie bereits erwähnt, gibt es sehr wenig, was einzigartig für Markus ist. Es ist einfacher, sich vorzustellen, dass Matthäus und/oder Lukas Markus ergänzen und Material hinzufügen, als sich vorzustellen, dass Markus Matthäus und Lukas kürzt. Wenn Markus eine Zusammenfassung produzieren wollte, warum ist seine Version einer Geschichte oft länger als die in Matthäus und Lukas?
- Wie können wir die wenigen Geschichten, die einzigartig für das Markusevangelium sind, am besten erklären? Hat Markus sie zu seiner Zusammenfassung von Matthäus und Lukas hinzugefügt? Oder haben Matthäus und Lukas beschlossen, sie wegzulassen? Die meisten Bibelausleger halten die zweite Erklärung für wahrscheinlicher (es ist nicht allzu schwer zu verstehen, warum Matthäus und Lukas gerade dieses Material hätten fallen lassen), und ich stimme dem zu.
- Die griechische Sprache und der Stil des Markusevangeliums sind einfacher und urtümlicher als die der beiden anderen. Es ist eher erklärbar, dass Matthäus und Lukas die Sprache des Markus verbessert haben, als umgekehrt.
Der zweite Punkt ist umstrittener. Es gilt zu belegen, dass Lukas und Matthäus das Evangelium des je anderen nicht kannten (und deshalb auch nicht verwenden konnten):
- Viele der über 200 Verse, die Matthäus und Lukas gemeinsam haben, die sich aber nicht im Markusevangelium finden, erscheinen bei Matthäus in einer der fünf längeren Reden Jesu. Lukas erwähnt einiges von diesem Material an anderen Stellen, mehr verteilt in seinem Evangelium. Hätte Lukas diese Reden zerstückelt, um die Fragmente anderswo unterzubringen? Oder war es Matthäus, der dieses Material aus seiner Quelle (Q) übernahm und völlig neu organisierte, während Lukas näher an der ursprünglichen Reihenfolge dieser Quelle blieb?
- Manchmal finden wir bei Matthäus und manchmal bei Lukas die scheinbar ursprünglichere Form einer Aussage. Dieses ist oft schwieriger zu verstehen und wird vom anderen angepasst oder erklärt. Wenn Lukas Matthäus benutzt hätte, würden wir erwarten, dass Matthäus immer die ursprünglichere Form verwendet. Ein Beispiel: Lukas 11,20 spricht von dem „Finger Gottes“, ein Ausdruck, der nicht leicht zu verstehen und daher wahrscheinlich ursprünglich ist; Matthäus 12,28 verwendet eine Erklärung: Jesus tut dies „durch den Geist Gottes“. Ein weiteres Beispiel sind die beiden Versionen des Vaterunsers (Mt. 6,9-13 und Lk. 11,2-4), wo die einfachere und kürzere Version des Lukas sich eindeutig von Matthäus unterscheidet.
- Wenn sich die drei Evangelien im gemeinsamen Material voneinander unterscheiden (wörtlich oder in der Reihenfolge), stimmt Matthäus fast immer mit Markus überein oder Lukas mit Markus; selten stimmen Matthäus und Lukas gegen Markus überein. “Wenn Lukas Matthäus verwendet hat, ist es schwer zu verstehen, warum seine Reihenfolge nie mit Matthäus gegen Markus übereinstimmt und warum es so wenige wörtliche Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gibt, die sich von Markus unterscheiden” (Stein 1992:788).
Die Farrerhypothese
Diese alternative Hypothese ist nach Austin Farrer benannt, der 1955 einen Aufsatz „On Dispensing with Q“ (Über den Verzicht auf Q) veröffentlichte. Dies ist die Ansicht von Mark Goodacre, der im Laufe der Jahre die Argumentation gegen die Existenz von Q weiter ausgebaut hat.
Farrell und Goodacre akzeptieren die Priorität des Markus, lehnen aber Q ab, weil sie diese Quelle für unnötig halten. Stattdessen argumentieren sie, dass Lukas sowohl Markus als auch Matthäus kannte und benutzte. Wie erklärt Goodacre also seine Ablehnung der drei Argumente für Q?
- Goodacre argumentiert, dass es gute Gründe gibt, weshalb Lukas das betreffende Material in Matthäus neu anordnete. Es gibt auch gute Gründe, warum Lukas bestimmtes Material in Matthäus wegließ. Sein Evangelium ist ganz anders organisiert als das Matthäusevangelium (es ist ein Reisebericht, ohne thematische Struktur), und Lukas zeigt eine Tendenz, längere Reden auch an anderen Orten zu kürzen.
- Diejenigen, die Q ablehnen, berufen sich auf die mündliche Überlieferung, um Fälle zu erklären, in denen die Version des Lukas ursprünglicher zu sein scheint: Lukas kannte eine alternative Version (z.B. vom Vaterunser) und fügte diese in seine Quelle Matthäus ein.
- Matthäus und Lukas sind sich in ihrer Abweichung vom Markusevangelium häufiger einig, als die Zweiquellentheorie zu erkennen gibt. Es gibt eine beträchtliche Anzahl kleinerer Übereinstimmungen. Manchmal sind diese gar nicht so klein, wie zum Beispiel im Bericht von Johannes dem Täufer (Mt. 3,7-12, Mk. 1,7-8, Lk. 3,7-17), in dem Matthäus und Lukas nahezu vollständig miteinander übereinstimmen und so erheblich vom Markusevangelium abweichen. Verteidiger der Zweiquellentheorie erklären dies als Überschneidung von Markus und Q, d.h. Matthäus und Lukas folgen beide Q, nicht Markus, aber Markus und Q überschneiden sich an dieser Stelle zum Teil (deswegen sieht es aus, wie wenn Matthäus und Lukas Markus auf gleiche Weise ergänzen, das sei aber nicht der Fall, so die Zweiquellentheorie). Es gibt jedoch keine Beweise für diese Überschneidung. Offensichtlich stimmen Matthäus und Lukas mehrmals gegen Markus überein.
Entgegen der Behauptung der Zweiquellentheorie ist es also nicht undenkbar, dass Lukas das Matthäusevangelium kannte und benutzte. An dieser Stelle wird eine wichtige Schwierigkeit deutlich. Wir müssen die drei Evangelien Vers für Vers vergleichen, um zu versuchen, die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen ihnen zu erklären. Leider führt dieser Vergleich an einigen Stellen in eine Richtung und an anderen Stellen zu einem entgegengesetzten Resultat.
Die Zwei-Evangelien-Theorie
Die Zwei-Evangelien-Theorie argumentiert, dass Matthäus zuerst schrieb, dann Lukas, und schließlich Markus, mit seinen beiden Vorgängern als Quelle. Ich fand diese Erklärung am wenigsten überzeugend. Nicht einmal die kirchliche Tradition unterstützt diese Ansicht voll und ganz: Obwohl die meisten Kirchenväter der Meinung sind, dass Matthäus als Erster ein Evangelium verfasste, schrieb Markus ihren Berichten nach die Verkündigung des Petrus nieder, und war dabei nicht vom Matthäusevangelium abhängig.
Traditionshypothesen
Gerade als ich dachte, ich hätte das Spektrum der Möglichkeiten auf zwei reduziert, kam Rainer Riesner, ein Deutscher, mit dem Joker. Er plädiert für die Bedeutung der mündlichen Überlieferung (Erzählungen und Sprüche, die mündlich weitergegeben wurden), des Auswendiglernens und der Verwendung von Notizbüchern u.a. als Gedächtnisstütze:
In den Schulen der Philosophen war es üblich, dass sich die Schüler Notizen über den Unterricht ihrer Meister machten (Epiktet, Diskurse 1.1-2; Porphyr, Leben des Plotinus 4.12). Das gleiche Verfahren ist aus frühen rabbinischen Kreisen bekannt … Bücher und Notizen dienten in der hellenistisch-römischen Kultur als Hilfsmittel, um sich Aussagen und Geschichten zu merken, und das gleiche gilt für das Judentum (2. Macc. 2:25; Josephus, Ant. 4.209-11; 20.118). (Riesner 2016:105)
Dies würde bedeuten, dass viel mehr Material im Umlauf war als nur die wenigen oben genannten (Mk., Q, spezielles Material, das in Mt. und Lk. verwendet wurde). Riesner zieht diese Schlussfolgerung:
Von Jesus, dem messianischen Lehrer, bis zu den synoptischen Evangelien und darüber hinaus gab es eine mündliche Tradition, die sich durch eine flexible Stabilität auszeichnet … Von einem frühen Zeitpunkt an gab es Austausch zwischen dem Mündlichen und dem Schriftlichen. Informelle Notizen dienten als Gedächtnisstütze … Die Evangelisten kannten ihre Materialien sowohl aus mündlichen Überlieferungen als auch aus schriftlichen Quellen … Die synoptischen Evangelien sind nicht voneinander abhängig, sondern nutzen teilweise dieselben Zwischenquellen. Nach dem Vorwort zu seinem Evangelium verließ sich Lukas auf die Traditionen der Augenzeugen und viele schriftliche Berichte (Lukas 1,1-4). Dies deutet auch darauf hin, dass das synoptische Phänomen am besten durch eine Kombination der Traditionshypothese und der Multiple-Source-Hypothese erklärt werden kann. (Ebd.:110-112)
Riesner könnte Recht haben. Aber wenn ja, dann werden wir das synoptische Problem wahrscheinlich nie lösen, weil uns keine dieser Quellen zur Verfügung steht, am allerwenigsten die mündlichen…
Dennoch kann der detaillierte Vergleich von Versen und Passagen eine reiche Ernte einbringen. Warum unterscheiden sich diese Berichte voneinander? Was ist der besondere Schwerpunkt jedes Evangelisten? Auch wenn es uns nicht zu einer Lösung des synoptischen Problems führt, sind diese Überlegungen die Mühe wert.
Bildnachweis und Literaturangaben
Bild: Popadius (2013), „The relationships between the three synoptic gospels“, https://en.wikipedia.org/wiki/File:Relationship_between_synoptic_gospels-en.svg (Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported)
Farrer, Austin M. (1955), „On Dispensing with Q“, in Nineham, D. E. (Hrsg.), Studies in the Gospels: Essays in Memory of R. H. Lightfoot (Oxford: Blackwell), 55-88
Goodacre, Mark (2001), The Synoptic Problem: A Way through the Maze, https://archive.org/details/synopticproblemw00good
Riesner, Rainer (2016), „Orality and Memory Hypothesis Response“, in Porter, Stanley E. and Dyer, Bryan R. (Hrsg.), The Synoptic Problem: Four Views (Grand Rapids, MI: Baker Academic)
Stein, R. H. (1992), „Synoptic Problem“, in Green, J. B. & McKnight, S. (Hrsg.), Dictionary of Jesus and the Gospels (Downers Grove, IL: InterVarsity Press), 784–792
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