Der Begriff narrative Kritik ist irreführend. Es geht nicht darum, Autoren und ihre Geschichten zu kritisieren. Kritik in der Bibelwissenschaft steht für eine Methode, einen biblischen Text aus einer bestimmten Perspektive zu analysieren (nicht zu kritisieren). Bei der narrativen Kritik geht es darum, eine Geschichte als Geschichte zu verstehen, d.h. zu verstehen, wie die Geschichte funktioniert.
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Die narrative Kritik ist ein relativ neuer Ansatz, der sich im späteren 20. Jahrhundert entwickelt hat. Ihr liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Bücher der Bibel – auch – als Literatur zu verstehen sind. Das ist für ein Buch wie Hiob vielleicht offensichtlicher als für das Buch Richter oder ein Evangelium, aber es wird zunehmend erkannt, dass die meisten, wenn nicht alle Bücher der Bibel sorgfältig, sogar kunstvoll konstruiert wurden. Es ist wichtig, auf diese Dimension des Textes (Text als Literatur) zu achten. Im Falle von Erzählungen bedeutet das, die Geschichten als Geschichten zu lesen.
Ein weiterer Grund, sich mit narrativer Kritik zu beschäftigen, ist eine Eigenart von Erzählungen. Normalerweise beschreiben Geschichten hauptsächlich, was passiert ist. Sie sagen uns meist nicht direkt, was richtig oder falsch ist. Es ist oft nicht klar, welche Lektion oder welches Prinzip wir aus der Geschichte ableiten sollten. Das macht ihre theologische Anwendung schwierig. Narrative Kritik hilft uns, die Hinweise zu erkennen, die im Text „versteckt“ sind. Auf diese Weise können wir klarer erkennen, was der Text von uns erwartet, zu welchem Urteil über Charaktere und ihre Handlungen wir gelangen sollten.
Grundlegende Elemente der narrativen Kritik
Also, wie macht man das? Ich war überrascht, wie viele Elemente der narrativen Kritik wir (unwissentlich?) berücksichtigen, wenn wir den induktiven Ansatz in Kursen wie der Schule für Bibelstudium (SBS) und dem Bibel KernKurs (Bible Core Course, BCC) anwenden. Eine Geschichte besteht aus Charakteren, Ereignissen und Setting (wie Zeit und Ort). Vieles davon wird eingefangen, indem man die grundlegenden Fragen stellt: wer, was, wann, wo, wem, wie und warum. Ein zusätzliches Element bilden rhetorische Stilmittel und Redewendungen; diese sollten ebenfalls jedem bekannt sein, der eine Einführung in das induktive Bibelstudium bekommen hat. Und dann gibt es das, was Mark Powell (1990:32-34) narrative Muster nennt, die im Wesentlichen dem entsprechen, was in der SBS Gesetze der Komposition genannt wird. Mit anderen Worten, wenn du in SBS oder BCC involviert bist, könntest du mehr narrative Kritik praktizieren, als dir bewusst ist!
Im Folgenden werde ich auf fünf Grundelemente der narrativen Kritik näher eingehen.
Setting (Wann und Wo)
Jede Geschichte braucht Ort und Zeit (sowohl im Sinne eines Zeitpunkts als auch im Sinne einer Zeitdauer, wie lange etwas dauert). Manchmal vermitteln Aussagen über Ort und Zeit mehr als nur ein Setting. Wenn etwas zum Beispiel nachts oder auf einem Berg passiert, stellt sich die Frage, ob damit zusätzlich etwas angedeutet wird. Hinzu kommt ein soziales oder kulturelles Umfeld, das den historischen Hintergrund des Textes mitbestimmt.
Charaktere (Wer)
In jeder Geschichte gibt es einen oder mehrere Charaktere. Einige davon sind wichtiger als andere. Manche sind sogar eher Teil des Settings als „echte“ Personen. Wir lernen diese Charaktere kennen sowohl durch das, was uns direkt über sie erzählt wird, als auch durch das, was wir in der Geschichte sehen können (Handlungen, Sprache, sogar ihre Gedanken). Darauf aufbauend schreiben wir ihnen bestimmte Charakterzüge zu und leiten daraus ihre Überzeugungen und Werte ab. Das hat zur Folge, dass wir einen Charakter entweder mögen oder nicht mögen.
Dabei werden wir von einer Figur angeführt, die im Text verborgen sein kann und die wir normalerweise nicht als einen der Charaktere in der Geschichte betrachten, obwohl er das trotzdem ist: der Erzähler. In der biblischen Erzählung ist dieser Erzähler meist identisch mit dem implizierten Autor, d.h. dem Autor, der im Text sichtbar wird.
Eine weitere ungewöhnliche Figur ist der implizierte Leser. Das ist der Leser, den der Erzähler anspricht. Es ist der ideale Leser für den betreffenden Text, ein Konstrukt, keine reale Person. Der Erzähler geht davon aus, dass dieser Leser bestimmte Dinge weiß. Ein einfaches Beispiel sind alte Gewichtsmaße. Vielleicht fehlen uns diese Informationen und wir müssen sie dann woanders finden: Wir müssen „über die historischen Informationen verfügen, die der Text von seinem implizierten Leser annimmt“ (Powell 1990:97). „Das Ziel der narrativen Kritik ist es, den Text als den implizierten Leser zu lesen“ (Powell 1990:20).
Von implizierten Autoren und Lesern zu reden klingt vielleicht übermäßig kompliziert, diese Art, über Texte nachzudenken, hat aber einen großen Vorteil. Das induktive Bibelstudium fragt nach der Absicht des Verfassers, aber oft genug haben wir keine Ahnung, wer der Verfasser war, oder sind mindestens diesbezüglich unsicher. Außerdem haben wir keinen direkten Zugang zu ihm; alles, was wir haben, ist der Text. Gleiches gilt für die Zielgruppe (die Leser) eines Textes.
Die narrative Kritik konzentriert sich auf den Text, den wir vor uns haben, nicht auf Menschen, die uns weitgehend unbekannt sind. Wir wissen nicht, was im Kopf zum Beispiel von Paulus oder Jesus vor sich ging, aber wir wissen etwas über den Verfasser oder Erzähler (und den implizierten Leser), der im Text sichtbar wird. Dies ermöglicht es uns, uns in unserer Interpretation nicht übermäßig mit Fragen der Urheberschaft und des Datums zu beschäftigen und auch ohne sichere Antworten auf diese Fragen einen Text auszulegen.
Ereignisse (Was)
In einer Geschichte muss etwas geschehen. Es findet eine Abfolge von Ereignissen statt, die in irgendeiner Weise zusammenhängen. Wie sie zusammenhängen, ist eher eine Funktion des Plots (siehe unten), aber um die Handlung zu verstehen, müssen wir zuerst feststellen, welche Ereignisse erzählt werden.
Erzählperspektive (Point of View)
Die Erzählperspektive ist einerseits der konkrete Standpunkt des Erzählers: Von wo aus betrachtet er die Ereignisse, die in der Geschichte erzählt werden? Andererseits gibt es auch eine wertende Perspektive des Erzählers, die aus seinen Normen und Werten und aus seiner Weltanschauung gebildet wird. Manchmal spricht man dabei von der ideologischen Erzählperspektive (Resseguie 2005:169). Welche Maßstäbe liegen der (oft impliziten) Beurteilung zu Grunde? Wie sollten wir „Handlung, Dialog, Charaktere, Setting und Ereignisse“ (ebd.) bewerten? Im Prinzip wird uns der Erzähler helfen, diese Fragen zu beantworten. Die Art und Weise, wie eine Geschichte erzählt wird, offenbart „die Normen, Werte und Überzeugungen und die allgemeine Weltanschauung, wovon der Erzähler will, dass der Leser sie annimmt oder ablehnt“ (ebd.:167).
Wie oben erwähnt, ist die Herausforderung bei Erzählungen die theologische und praktische Anwendung: zu bestimmen, was gut und normativ ist und wie man das umsetzen sollte. Die narrative Kritik ermöglicht uns, für dieses Problem eine Lösung zu finden.
Der offensichtlichste Weg, wie ein Erzähler uns führen kann, ist durch Kommentare: Informationen oder Aussagen, die nicht Teil des Geschehens sind. Im Buch Richter gibt es zum Beispiel diesen wiederholten Satz: „Damals gab es keinen König in Israel. Jeder tat, was in seinem eigenen Auge richtig war“ (Ri. 17,6; 18,1; 19,1; 21,25). Dies ist ein implizites Urteil darüber, was im Buch geschieht, und ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis dieses Buches.
Einen weiteren wichtigen Hinweis geben uns Angaben über das Innenleben der Charaktere: ihre Gedanken oder Emotionen, Dinge, die normalerweise nicht bekannt sind.
Wichtig ist auch, wie sich die Charaktere zueinander verhalten und welche Aussagen und Kommentare sie von sich geben. Dabei ist es jedoch entscheidend, den Stellenwert jeder Figur in der Erzählung zu bestimmen. Zum Beispiel, wenn Jesus etwas sagt, können wir davon ausgehen, dass der Erzähler möchte, dass wir dies als wahr und verlässlich ansehen. Wenn die Jünger etwas sagen oder tun, können wir nicht ganz so sicher sein; wir müssen den Kontext sorgfältig prüfen, um zu wissen, ob sie auf dem richtigen Weg sind oder nicht. Wenn es die Pharisäer und Sadduzäer sind, können wir davon ausgehen, dass ihre Worte und Taten eher negativ zu bewerten sind, es sei denn, der Kontext weist in eine andere Richtung.
Oft sind die Hinweise recht subtil, und wir müssen Rückschlüsse aus Wiederholungen und anderen Beobachtungen ziehen. Das erfordert Vorsicht, denn wir können den Text selbstverständlich auch überinterpretieren und Dinge hineinlesen, die der Text gar nicht sagen will.
Plot
Der Plot ist die Art, wie die Geschichte erzählt wird, oder die Handlung. In der Plot-Analyse werden die Einzelteile zusammengeführt. Sie sind durch Elemente wie Kausalität und Konflikt miteinander verbunden. Im Idealfall verstehen wir jetzt, was die Geschichte erreichen will, und sind daher in der Lage, ihre Lektion oder ihr Prinzip für uns selber anzuwenden.
Zum Schluss
Man kann ein Buch oder eine Geschichte anhand jedes der oben besprochenen Elemente analysieren, indem man verfolgt, wie das betreffende Element in der Geschichte eingesetzt wird. Die Mühe lohnt sich, denn:
Die Stärke einer Erzählung besteht gerade darin, dass sie mehr tut und uns tiefer beeinflusst als theologische Wahrheit und Dogma, ethische Richtlinien und sogar praktische Prinzipien das können. Es gibt gute Gründe, weshalb ein Großteil der Bibel aus Geschichten besteht!
Bild
Nick Youngson, “Plot,” ImageCreator, http://www.thebluediamondgallery.com/typewriter/p/plot.html, CC BY-SA 3.0
Literaturangaben
Powell, Mark Allan (1990), What Is Narrative Criticism? (Minneapolis, MN: Fortress)
Resseguie, James L. (2005), Narrative Criticism of the New Testament: An Introduction (Grand Rapids, MI: Baker Academic)
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