Die Eroberung Kanaans (Boyd-Projekt 1)

Ich starte ein Projekt, das mehrere Monate in Anspruch nehmen wird. Das Thema ist weitreichend: Die Gewalt (oder Gewalttätigkeit) Gottes im Alten Testament (AT). Gregory Boyd hat ein dickes Buch (mehr als 1400 Seiten) über dieses Thema geschrieben: The Crucifixion of the Warrior God: Interpreting the Old Testament’s Violent Portraits of God in Light of the Cross (Die Kreuzigung des Kriegergottes: Interpretation der Gewaltporträts Gottes im Alten Testament im Licht des Kreuzes; 2017). Ich wurde nach meiner Meinung über dieses Buch gefragt; das hat mich veranlasst, dieses Projekt durchzuführen.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST

Bild: William Favorite, Sebastian Munster: Battle of Munster, http://www.tablespace.net/prints/Munster/hires/MunsterBattle.jpg (CC BY 2.0)

Die vorliegende Ausgabe ist der erste Teil. Ich fange nicht mit Boyds Buch an. Ich möchte zuerst selbst nachforschen und über das Thema nachdenken. Ich beginne mit der Landeinnahme, die Eroberung des Landes Kanaans durch die Israeliten, erstens, weil sie ein Thema überschaubarer Größe ist, und zweitens, weil, zumindest für den modernen Menschen, die Landeinnahme vielleicht das schockierendste Beispiel für Gewalt im AT ist. Hat Gott den Israeliten wirklich befohlen, jeden Kanaaniter zu töten, der in Reichweite ihrer Schwerter kam?

Dieses Projekt ist ein Abenteuer. Ich weiß nicht, wohin es mich führen wird und was meine Ergebnisse und Schlussfolgerungen sein werden. Mein Ziel ist es nicht nur, Boyds Buch zu bewerten, sondern auch eine eigene Position zum Thema zu entwickeln.

Verwendete Quellen

Ich habe mehrere Bücher zu diesem Thema gelesen. Da dieser Text ohnehin lang wird, werde ich sie hier nicht auflisten. Für diejenigen, die mehr wissen (und vielleicht auch lesen) wollen, gibt es anschließend an diesen Text eine kommentierte Bibliographie.

Das Problem

Die Eroberung Kanaans scheint eine gewalttätige Angelegenheit gewesen zu sein. Den Israeliten wird befohlen, niemanden am Leben zu lassen (5. Mo. 20,16); sie sollen „keine Gnade gegen sie üben“ (5. Mo. 7,2). Das lässt sich schwer mit der Botschaft des Neuen Testaments (NT) vereinbaren. Dort wird offenbart, dass das Wesen Gottes die Liebe ist. Jesus sagt uns, unsere Feinde zu lieben und diejenigen zu segnen, die uns verfolgen.

Ein entscheidend wichtiges hebräisches Wort taucht in beiden soeben zitierten Passagen in 5. Mose auf: herem. (Eigentlich gibt es zwei Wörter: ein Substantiv und ein Verb, die auf der gleichen Wurzel basieren; der Einfachheit halber werde ich konsequent von herem sprechen. Das h wird übrigens als ch (wie in ach) ausgesprochen.)

Herem ist ein schwer zu übersetzendes Wort; vielleicht komme ich in einer zukünftigen Ausgabe auf die Frage nach seiner genauen Bedeutung zurück. Herem bedeutet nicht immer Zerstörung oder Tötung. Eine mögliche Bedeutung ist auch etwas zu weihen (das Wort hat definitiv kultische Konnotationen, das heißt, es gehört in den Kontext von Kult und Gottesdienst). In anderen Fällen, besonders im Zusammenhang mit der Eroberung, scheint herem jedoch mit Zerstörung (durch Feuer oder Schwert) verbunden zu sein. Die Lutherbibel hält sich zurück und spricht davon, den Bann zu vollstrecken. Eine alternative Übersetzung lautet „der Vernichtung weihen“ (so die Einheitsübersetzung und die Zürcher Bibel).

Gott wollte, dass die Israeliten die Kanaaniter vernichten? Ich denke, das kann man als Problem betrachten.

In dieser Ausgabe werde ich zunächst mehrere Vorüberlegungen formulieren, dann mögliche Antworten auflisten und mit einigen wesentlichen Bibelstellen aus der Thora (1.-5. Mose) abschließen.

Völkermord?

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen von Völkermord oder Genozid sprechen, wenn sie über die Eroberung Kanaans durch die Israeliten debattieren (Boyd tut dies zum Beispiel). Genozid ist ein bewusster Versuch, ein Volk ganz oder teilweise auszurotten. Es ist ein abscheuliches Verbrechen. Mein Titel für diese Ausgabe spricht aber von Eroberung, nicht von Völkermord; das ist Absicht.

Erstens wurde der Begriff Völkermord erst Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt. Es scheint mir unangebracht, den Begriff auf Texte der Vergangenheit anzuwenden, die einige tausend Jahre älter sind als dieser Begriff. Damit wird den Texten eine westliche Denkweise des 21. Jahrhunderts auferlegt. Das ist nicht nur fehl am Platz und mindestens ein wenig arrogant. Es führt darüberhinaus zu schlechter Interpretation und zu Missverständnissen.

Zweitens wird so die Frage beantwortet, bevor sie gestellt und überdacht werden kann. Wenn es Völkermord war, war es ganz klar moralisch verwerflich. Aber was wissen wir über das, was tatsächlich passiert ist, und was sagen die entsprechenden Texte? Kommen die Ereignisse überhaupt dem nahe, was wir heute als Völkermord betrachten würden? Ich will zuerst nachforschen, bevor ich mich auf eine moralische Verurteilung einlasse; vielleicht werden wir dabei eine Überraschung erleben.

Weitere Vorüberlegungen

In der nächsten Ausgabe hoffe ich, mich mit dem Buch Josua zu befassen, denn dort wird die Landeinnahme beschrieben. Einiges ist jetzt schon zu beachten.

  • Praktisch jede kriegerische Auseinandersetzung wurde von anderen eingeleitet, sowohl bevor wie auch nachdem die Israeliten den Jordan überquerten. Als z.B. die Könige Og und Sihon um Erlaubnis gebeten wurden, ihr Gebiet zu durchqueren, griffen diese die Israeliten an (4. Mo. 21,21-35). Die Ausnahme ist die Eroberung von Jericho und Ai.
  • Die entsprechenden Texte deuten darauf hin, dass nicht unbedingt viele Kanaaniter getötet wurden. Viele lebten weiterhin in den betroffenen Gebieten. Offensichtlich wurde kein Völkermord verübt.
  • Es war möglich, Frieden mit den Israeliten zu schließen, wie es die Gibeoniter taten (Josua 9). Zugegebenermaßen mussten diese auf einige Tricks zurückgreifen, aber interessanterweise beschwert sich Gott nicht über Josuas Bündnis mit denen, die er vermeintlich hätte ausrotten sollen. Die einzigen, die murren, sind einige der Israeliten, nicht Gott.

Es bleiben schwierige Fragen. Diese Überlegungen „entschuldigen“ oder erklären nicht alles, aber sie mildern. Darüber hinaus möchte ich zwei weitere allgemeine Überlegungen anstellen.

  • Beim Versuch, die Texte über die Landeinnahme mit ihrer Sprache der Tötung der Kanaaniter zu bewerten, stoßen wir schnell auf einen Catch-22, ein scheinbar unlösbares Dilemma. War das richtig (und deshalb müssen wir einen Weg finden, Gott zu rechtfertigen)? War das falsch (aber was bleibt dann vom AT als Gottes Wort?)? Entweder wir relativieren die Schrift (Gott würde das nicht sagen oder tun; er kann nicht das Abschlachten von Frauen und Kindern angeordnet haben) oder wir enden mit einer harten Theologie, in der Gott fähig ist, Handlungen anzuordnen, die die meisten Menschen schockieren. Es ist nicht leicht, einen Ausweg zu finden.
  • Wir haben es in der Bibel mit einer sich entfaltenden und fortschreitenden Offenbarung zu tun. Gott hat nicht alles auf einmal offenbart. Vieles hat er nicht angesprochen. Gott begann eine Beziehung zu Menschen in ihrer Welt und auf ihrer moralischen Ebene und ihrer Entwicklungsstufe. Er passte seine Offenbarung so an, dass die Leute sie verstehen konnten. Folglich hat er vieles geduldet, was hinter seinem Willen oder seiner Wahrheit zurückbleibt, zum Beispiel Sklaverei und Polygamie. Theologen reden von Akkommodation oder Kondeszendenz. Diese Kondeszendenz Gottes zeigt sich ebenfalls im Opfersystem und im Reinheitsgebot im Gesetz. Dieses Prinzip lässt sich auch anderswo im AT erkennen.

In der damaligen Welt war Krieg normal. Gott lässt sich darauf ein und passt sich an. Es dauerte eine Weile, bis zumindest einige der Propheten auf die Idee kamen, dass es vielleicht nicht so sein muss (Jesaja 2 und Micha 4).

Bei der Beurteilung von „gewalttätigem“ Material in der Schrift und dem Versuch, es zu verstehen, ist es wichtig, dass wir dies im Auge behalten: Es handelt sich um eine fortschreitende Offenbarung, in der sich Gott zunächst anpasst. Damit ist nicht alles gesagt; es bleibt weiterhin schwierig, die Teile zusammenzusetzen. Ist es denkbar, dass Gott die Tötung von Frauen und Kindern anordnet? Hat er das getan?

Wie erklären und beurteilen wir die Darstellung im AT?

Mögliche Antworten

1. Sie war falsch. Basierend auf dem, was von Gottes Charakter im NT offenbart wird, kann Gott weder Massentötungen angeordnet haben, noch kann er sie billigen. Also…. haben die Israeliten Gottes Absicht missverstanden? Sind diese Darstellungen im AT schlichtweg falsch oder verzerrt und müssen neu interpretiert werden? Das scheint Boyds Position zu sein, und ich erwarte, dass eine solche Neuinterpretation ein wichtiger Teil seines Projekts in The Crucifixion of the Warrior God sein wird.

2. Sie war richtig. Sie ist das, was sie zu sein scheint: Die Israeliten führten Gottes Befehl aus, indem sie viele Kanaaniter töteten. Diese „harte Theologie“ argumentiert manchmal sogar, dass es nicht verwunderlich ist, dass Gott die Kanaaniter richtet und vernichtet, sondern dass er nicht alle Nationen richtet und vernichtet. Dies ist vielleicht formal korrekt, liefert aber keine Erklärung. Ja, Gott könnte uns alle töten und trotzdem gerecht sein. Das ist aber nicht der Punkt; es geht nicht darum, Gottes Souveränität zu hinterfragen, sondern darum, seine Handlungen zu verstehen.

Dieser zweite Ansatz kann durch drei Punkte ergänzt werden.

(a) Oft wird argumentiert, dass die Kanaaniter besonders schlecht waren. Deshalb wurden sie gerichtet. Nicht selten führt dieses Argument seine Befürworter dazu, die Laster der Kanaaniter zu übertreiben. Das geht weit über das hinaus, was der Text über sie sagt. Die „Gräueltaten“ der Kanaaniter wurden im Alten Orient weit verbreitet praktiziert. Ich behaupte nicht, dass das Gegenteil der Fall ist, dass die Kanaaniter in Wirklichkeit gute Menschen waren. Aber es macht einen Unterschied, dass hier, wie ich meine, die dunkle Seite hervorgehoben wird, und dass es nicht um einen Vergleich geht.

Letzteres würde einen fragen lassen, warum nur die Kanaaniter innerhalb der Grenzen Israels gerichtet wurden und nicht die weiter nördlich lebenden. Noch wichtiger: Nichts im Buch Josua deutet darauf hin, dass die Verdorbenheit der Kanaaniter der Grund für die Landeinnahme ist oder dass sie überhaupt als Gericht zu verstehen ist. Josua gibt keine Beispiele der vermeintlichen kanaanitischen Verdorbenheit. Wie Walton & Walton (Proposition 5, 2017:38ff) argumentieren, fehlen diese und andere Indikatoren, die auf göttliche Vergeltung hindeuten würden. Es gibt zwar anderswo Hinweise darauf, dass die Sünden der Kanaaniter eine gewisse Rolle spielten (Gen. 9:20-25, 15:16, Dt. 9:4f, 18:9-12). Die Ausführung des Gebots zur Landeinnahme lässt sich aber nicht als Gericht Gottes erkennen.

(b) Die zweite, damit verbundene Ergänzung ist die Idee der intrusion ethics (zuerst vorgeschlagen von Meredith Kline und diskutiert in Longman III 2003: Loc 3012ff). Gottes Gericht über die Sünde ist grundsätzlich bis zum Ende und bis zum letzten Gericht aufgeschoben, aber im Falle der Landeinnahme drang das Gericht in die Gegenwart herein: „In gewisser Weise ist die Zerstörung der Kanaaniter eine Vorschau auf das endgültige Gericht“ (ebd.: Loc 3018f).

Diese Idee hat etwas für sich, auch wenn sie mich nicht überzeugt. Sie erklärt nicht, warum es nur diesen Teil der Kanaaniter traf. Es fehlen, wie bereits erwähnt, die Hinweise, dass dies überhaupt als Gericht zu verstehen ist. Als Antwort ist sie theologisch sauber, aber was ist mit der Tatsache, dass es sich um reale Menschen handelt – inklusive jener Israeliten, die Gottes Gericht ausführen mussten? Und wie kann es sich um das endgültige Gericht handeln, wenn es so unvollkommen und unvollständig ausgeführt wurde?

(c) Der dritte Zusatz ist die Behauptung, dass die Kanaaniter das Land illegal bewohnten. Die Israeliten hatten einen Rechtsanspruch auf das Land; daher waren die Kanaaniter wie Hausbesetzer. Es war legitim, sie mit Gewalt zu zwingen, das Land an seine rechtmäßigen Besitzer abzugeben. So wird sowohl von Copan & Flannagan (2014: Loc 1171ff / S. 62ff) als auch von Merrill (2003: Loc 1315) argumentiert.

Diese Behauptung ist nicht stichhaltig. Gott hatte versprochen, Israel das Land zu geben. Das begründet kein Recht, hineinzugehen und es anderen weg zu nehmen. Wenn eine Kirche oder eine christliche Organisation das Gefühl hat, dass Gott ihnen ein bestimmtes Gebäude verspricht, können sie nicht einfach einziehen. Es gab nichts Illegales am Wohnsitz der Kanaaniter in Kanaan.

3. Es handelt sich um Theologie, nicht Geschichte, die rückblickend auf die Vergangenheit projiziert wird und sie interpretiert und idealisiert. Dieser Ansatz nimmt den Text ernst als Theologie, nicht aber als Geschichte. Der Text will Gott verherrlichen und das Volk Israel lehren, sich von den Kanaanitern und ihren Praktiken fern zu halten. Bei dieser Sicht gab es also keinen Genozid.

4. Das war gängige Praxis. Das wäre eine einfache Lösung. Wenn Israel so handeln würde wie die anderen Nationen damals, dann wäre es eine Frage der Akkommodation. Gott duldet, greift dann im Verlauf der Heilsgeschichte korrigierend ein. Aber ist das der Fall? Es stellt sich die Frage, was war gängige Praxis? Dies müsste durch historische Beweise nachgewiesen werden, und bisher habe ich solche Beweise nicht gesehen. Herem scheint über das hinauszugehen, was andere damals taten.

5. Es handelt sich um Jahwe-Krieg. Dieser wird oft als heiliger Krieg bezeichnet; das Wesentliche ist aber nicht, dass er eine „heilige“ Aktivität ist, sondern dass es nicht Israels, sondern Gottes Krieg ist, obwohl Israel dazu berufen sein kann, in diesem Krieg eine Rolle zu spielen. In der Antike war es nicht ungewöhnlich, dass eine Nation glaubte, einen Krieg für oder mit ihrem Gott zu führen.

Dieser Ansatz wird von Merrill (2003) befürwortet. Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass er den konzeptionellen Rahmen und die Weltanschauung der alten Israeliten ernst nimmt. Es hilft uns zu verstehen, wie die Israeliten die Eroberung verstanden haben. Aber es hilft uns heute nicht, das moralische Problem zu lösen.

6. Die Texte müssen im Lichte des NT neu und geistlich interpretiert werden. Es ist eigentlich ein Konflikt mit geistlichen Mächten. Der wahre Feind ist Satan. Was überwunden werden muss, ist das Böse. Die Kanaaniter verkörpern oder symbolisieren das Böse, der Eroberungskrieg ist ein Typus oder Symbol unseres Kampfes gegen das Böse. Dies ist die Ansicht von Tremper Longman III (2003).

Obwohl eine solche geistliche Neuinterpretation die korrekte Anwendung der betreffenden Texte wäre, hilft sie mir nicht, mich mit der beschriebenen historischen Realität zurechtzufinden. Josuas Krieg war nicht nur metaphorisch oder geistlich, sondern real und blutig.

7. Es handelt sich um eine Übertreibung. Copan & Flannagan (2014, Kapitel 6-9) argumentieren ausführlich, dass die Sprache von Joshua hyperbolisch und theologisch ist. Dasselbe gilt für die entsprechenden Anweisungen und Befehle in der Thora. Josua soll nicht als sachlicher, historischer Bericht verstanden werden. Es gibt mehr über das Buch Josua, seine Gattung und seine Sprache zu sagen, und ich hoffe, dies in der nächsten Ausgabe zu tun. Es kann jedoch in Frage gestellt werden, ob dies als Erklärung ausreicht. Und es lässt uns immer noch mit der Frage zurück: Hat Gott das angeordnet, und wenn ja, wie kann das sein?

8. Gott hat seine Gründe, aber er teilt sie uns nicht mit. Siehe weiter unten die Einführung zu Copan & Flannagan (2014) in der kommentierten Bibliographie für weitere Informationen zu dieser Option. Ich bin (noch) nicht bereit, diese Antwort zu akzeptieren; ich möchte zumindest versuchen, die betreffenden Aussagen der Bibel besser zu verstehen.

Meine Meinung zu diesem (zugegebenermaßen frühen) Punkt im Projekt: Wichtige Faktoren sind die konzeptionelle und kulturelle Welt des AT, Akkommodation und fortschreitende Offenbarung. Das NT deutet die Darstellung im AT um, was den Weg zu einem geistlichen Verständnis des Konfliktes öffnet (die Kanaaniter sind nicht das Problem oder der Feind). Damit ändert sich auch die Art und Weise, wie dieser „Krieg“ geführt werden soll.

Wegen der Komplexität dieser Fragen bin ich misstrauisch gegenüber Schwarz-Weiß-Antworten und vereinfachende Lösungen. Eine gewisse Unklarheit ist zu erwarten; alle daraus resultierenden Spannungen lösen zu wollen führt in der Regel zu einer erzwungenen und extremen Exegese.

Übersicht über das biblische Material

Es folgt eine Auslese von relevantem biblischem Material in der Thora. Was hat Gott befohlen?

Interessanterweise beziehen sich die ersten Gebote, die von herem sprechen, nicht auf die Kanaaniter und bedeuten nicht in jedem Fall Zerstörung:

Wer den Göttern opfert und nicht dem HERRN allein, der soll dem Bann verfallen. (2. Mo. 22,19)

Man soll Gebanntes nicht verkaufen oder ablösen, das jemand dem HERRN durch einen Bann geweiht hat, von allem, was sein ist, es seien Menschen, Vieh oder Erbacker; denn alles Gebannte ist ein Hochheiliges dem HERRN. Man soll auch keinen gebannten Menschen loskaufen; er soll des Todes sterben. (3. Mo. 27,28-29)

Alles Gebannte in Israel soll dir [den Priestern] gehören. (4. Mo. 18,14)

Dies zeigt, dass es nicht einfach ist, das Konzept herem vollständig zu verstehen. Es war Teil eines größeren konzeptionellen Rahmens, der bereits vorher existierte, vielleicht lange bevor die Kanaaniter ein Thema waren. Es zeigt auch die kultische Konnotation der Idee.

Ebenso interessant ist die erste Erwähnung von herem in Erzählungen. Es stellt sich heraus, dass Israel jene Form des herems praktizierte, die wir von der Eroberung her kennen, bevor Mose überhaupt etwas darüber gesagt hatte und in Fällen, in denen Gott keinen herem befohlen hatte. Bedeutet das, dass die Israeliten diese Praxis kannten, unabhängig von Gottes Offenbarung auf dem Weg ins gelobte Land? Das würde es leichter machen, sie als eine Form der Akkommodation zu sehen.

Zum ersten Mal wird herem erwähnt, als der König von Arad Israel angreift. In 4. Mose 21,2 gelobt Israel, Arads Städte unter herem zu stellen, wenn Gott ihnen den Sieg gibt. Gott hat nicht darum gebeten, noch hat er es befohlen. Später in 4. Mose 21 lesen wir über den Sieg Israels über Sihon und Og. Es gibt hier keine Erwähnung von herem. Erst wenn Mose in 5. Mose von den Ereignissen in 4. Mose spricht, redet er von herem (5. Mo. 2,34 und 3,6) und behauptet: „Da nahmen wir zu der Zeit alle seine Städte ein und vollstreckten den Bann an allen Städten, an Männern, Frauen und Kindern, und ließen niemand übrig bleiben.“ (5. Mo. 2,34). Aber auch in diesem Fall hatte Gott es nicht befohlen.

Gott ordnet in 4. Mo. 31 die Rache an den Midianitern an. Dabei ist von herem keine Rede. Als die Männer Israels Frauen und Kinder als Kriegsbeute ins Lager bringen, wird Mose wütend und befiehlt ihnen, sie alle zu töten, mit Ausnahme der Frauen, die noch Jungfrauen sind (4. Mo. 31,14-17). Aber beachte, dass Gott an dieser Stelle nicht spricht; es gibt nur ein Gebot von Mose.

Es gibt mehrere Bibelstellen vor 5. Mose, die davon reden, was Israel tun soll, wenn es ins Land kommt: 2. Mose 23,23-33, 2. Mose 34,11-16 und 4. Mose 33,50-56. Diese Passagen verwenden nicht den Begriff herem, aber sie enthalten ein Gebot zu zerstören. Interessanterweise sollen sie jedoch nicht die Kanaaniter, sondern die kanaanitischen Götter und ihre Altäre zerstören; die Kanaaniter selbst sollen vertrieben werden.

Wo ist also Gottes Befehl, an den Kanaanitern herem zu vollstrecken?

Die einzige direkte Anweisung dazu findet sich in zwei Versen in 5. Mose:

Und wenn sie der HERR, dein Gott, vor dir dahingibt, dass du sie schlägst, so sollst du an ihnen den Bann vollstrecken. Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben (5. Mo. 7,2; wenn von 5. Mose. 7 alle anstelle von nur einem oder zwei Versen gelesen werden, bekommt man nicht den Eindruck, dass Mose zum Völkermord drängt, sondern eine radikale Trennung von den Kanaanitern und ihren Wegen fordert, was bedeutet, dass herem hier nicht unbedingt töten und zerstören bedeutet. Als Grund für herem wird angegeben, dass die Israeliten „ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott“ sind, 5. Mo. 7,6; ein solcher Aufruf zur Trennung – keine Mischehen, keine Bündnisse – macht keinen Sinn, wenn Israel gleichzeitig die Kanaaniter vollständig ausrotten sollte).

Aber in den Städten dieser Völker hier, die dir der HERR, dein Gott, zum Erbe geben wird, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat, sondern sollst an ihnen den Bann vollstrecken, nämlich an den Hetitern, Amoritern, Kanaanitern, Perisitern, Hiwitern und Jebusitern, wie dir der HERR, dein Gott, geboten hat. (5. Mo. 20,16f)

Beachte, dass dieses Gebot Gott indirekt zugeschrieben wird. Wir finden keine einzige Stelle in der Thora, an der von Gott berichtet wird, dass er diesen Befehl direkt ausspricht. Und es gibt nur einen Vers, in dem Mose sagt, dass Gott es befohlen hätte. Das ist mehr als nichts, aber nicht viel.

Wir stoßen hier auf ein grundlegendes exegetisches Problem. Nicht alles, was die Bibel aufzeichnet, ist richtig, da sie auch Aussagen und Handlungen aufzeichnet, die offensichtlich falsch sind, oft genug, ohne explizit darauf hinzuweisen. Sogar Mose sagt und tut Dinge, die falsch sind. Wir würden jedoch nicht erwarten, dass der Erzähler in seinen Aussagen falsch liegt und wir würden nicht erwarten, dass der Text fälschlicherweise sagt, dass Gott etwas befohlen hat, was er eigentlich nicht befohlen hat. Wir würden auch Hinweise im Text erwarten, wenn von uns erwartet wird, dass wir einer Aussage nicht zustimmen oder sie missbilligen (siehe die Ausgabe über narrative Kritik).

Es ist mir nicht klar, ob dies hier der Fall ist und ob von uns erwartet wird, dass wir der Behauptung des Moses misstrauen, dass Gott dies befohlen habe. Es ist also nicht klar, dass dies der Ausweg aus dem moralischen Dilemma ist, aber es ist denkbar: Mose könnte rhetorisch übertrieben haben.

In der nächsten Ausgabe hoffe ich zu erforschen, was das Buch Josua zu diesem Bild beiträgt. Aber was die Thora betrifft, haben wir das relevante Material ausgewertet. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Israeliten nach der biblischen Aufzeichnung herem praktizierten. Aber ob Gott ihnen befahl, das zu tun, ist weniger offensichtlich.

Bild

William Favorite, Sebastian Munster: Battle of Munster, http://www.tablespace.net/prints/Munster/hires/MunsterBattle.jpg (CC BY 2.0)

Kommentierte Bibliografie

Bibelzitate: Deutsche Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Boyd, Gregory (2017), The Crucifixion of the Warrior God: Interpreting the Old Testament’s Violent Portraits of God in Light of the Cross (Minneapolis, MN: Fortress Press, Kindle Edition)

Dieses Buch zu lesen und zu bewerten ist mein Ziel, aber da ich noch nichts davon gelesen habe, kann ich nur sagen: Es ist eine riesige wissenschaftliche Arbeit.

Ebd. (2017), Cross Vision: How the Crucifixion of Jesus Makes Sense of Old Testament Violence (Minneapolis, MN: Fortress Press, Kindle Edition)

Cross Vision ist eine kurze und vereinfachte Version von The Crucifixion of the Warrior God. Es ist für ein breites Publikum und in einem populären Stil geschrieben. Bis jetzt habe ich nur Teile dieses Buches gelesen, um eine Vorstellung davon zu haben, in welche Richtung Boyd denkt, aber es ist keine wichtige Quelle für diese Ausgabe.

Copan, Paul & Flannagan, Matthew (2014), Did God Really Command Genocide? Coming to Terms with the Justice of God (Grand Rapids, MI: Baker, Kindle Edition)

Dies ist kein einfaches Buch; große Teile davon sind eher Philosophie als Theologie oder Bibelstudium. Teil 3 (von 4) richtet sich vor allem gegen die sogenannten Neuen Atheisten und andere, die die Moral und das Recht Gottes und die Ethik der Bibel grundsätzlich hinterfragen. Das ist weniger relevant für Menschen wie mich, die nicht an Gottes Recht zweifeln, das zu tun, was ihm gefällt, oder an seiner Güte. Interessanterweise argumentiert dieses Buch, dass die Behauptung rational ist und Sinn macht, dass Gott in Ausnahmesituationen um Wille eines höheren Wohls die Tötung von Unschuldigen anordnen kann. Gleichzeitig verzichten die Verfasser darauf, eine Erklärung zu wagen, was dieses höhere Wohl oder die Gründe Gottes im Falle der kanaanitischen Eroberung gewesen sein könnten:

Wir haben argumentiert, dass es rational ist zu denken, dass Gott in seltenen Fällen eine Ausnahme von der moralischen Regel gewähren könnte, unschuldiges menschliches Leben für ein höheres Wohl zu beenden. Wir haben auch Argumente zurückgewiesen, die vorgeben zu zeigen, dass es dem biblischen Theisten an ausreichenden Gründen für die Annahme mangelt, dass Gott bei bestimmten, in der Bibel aufgezeichneten Gelegenheiten eine solche Befreiung erteilt hat. Ein wichtiger Punkt im letzten Kapitel ist, dass die Bibeltexte uns nicht viel über Gottes Gründe für die Erteilung dieser Befehle sagen. Die Schrift liefert den Israeliten jedoch einige Gründe, warum sie den Befehlen folgen sollten. Aber die Schrift lässt uns weitgehend im Dunkeln, warum Gott die Befehle erteilt hat. (233)

Alles in allem wird in diesem Buch sorgfältig und richtig argumentiert, und die Abschnitte, die sich auf die Bibel konzentrieren, sind hilfreich. Dies ist insbesondere in Teil 2 der Fall, in dem es um den Befehl zum Töten von Kanaanitern geht (dieser Befehl gilt nur für diese besondere Situation zu diesem Zeitpunkt) und um die hyperbolische und stilisierte Sprache, die verwendet wird, um davon zu sprechen.

Cowles, C. S. (2003), “The Case for Radical Discontinuity”, in Gundry 2003: Loc 136-986.

Cowles vertritt eine Sicht, die der Boyds nahesteht: Diese gewalttätigen Befehle können unmöglich von Gott selbst kommen, da er sich im NT als die Essenz der Liebe offenbart. Diese Darstellung ist bei weitem die leidenschaftlichste der vier Beiträge in Gundry, aber das ist im theologischen Denken nicht unbedingt eine Tugend. Bei allem rhetorischen Feuer sagt uns Cowles nicht, wie wir das AT lesen oder verstehen sollten. Offensichtlich ist das AT (aus seiner Sicht) falsch, was machen wir also mit ihm!? Merrills Kritik in seiner Reaktion auf Cowles:

Er argumentiert, „dass „unüberwindbare Schwierigkeiten für die christliche Theologie, Ethik und Praxis“ entstehen, wenn man versucht, solche Gräueltaten als heiligen Krieg „der eigentlichen Absicht und dem Willen Gottes zuzuschreiben“. Wie wir sehen werden, versucht Cowles, dieses Dilemma zu lösen, indem er behauptet, dass Gott eine solche Richtlinie nie genehmigt hat, sondern nur irrtümlicherweise so verstanden wurde. Aber das wirft ernste Fragen über die Glaubwürdigkeit des alttestamentlichen Zeugnisses auf. (Cowles 2003: Loc 703-7)

Anders als Boyd versucht Cowles nicht, diese Fragen zu beantworten.

Gard, Daniel (2003), “The Case for Eschatological Continuity,” in Gundry 2003: Loc. 1802-2578.

Gard bietet einen eschatologischen Ansatz: „Indem man die Kriegserzählungen eschatologisch liest –  einschließlich ihrer Berichte über den göttlich angeordneten Völkermord – können die Bilder des alttestamentlichen Völkermords als Typus eines eschatologischen Ereignisses angesehen werden“ (Loc .1835-37). Dies führt zu erheblichen Überschneidungen mit Merrill und Longman III.

Gundry, Stanley N., Hrsg. (2003), Show Them No Mercy: 4 Views on God and Canaanite Genocide (Grand Rapids, MI: Zondervan, Kindle Edition)

Mir hat dieses Buch gut gefallen; ich mag das Format der „Vier Ansichten“, auch wenn es nicht unbedingt einfacher wird, sich zu entscheiden, wenn man verschiedene überzeugende Antworten auf ein Problem erhält. Die vier Beiträge werden unter ihren Autoren Cowles, Merrill, Gard und Longman III besprochen.

Longman III, Tremper (2003), “The Case for Spiritual Continuity,” in Gundry 2003: Loc. 2590-3302.

Longman III plädiert für eine geistliche Neuinterpretation, wie oben unter „Mögliche Antworten“ und in diesem Zitat zusammengefasst wird:

Jesus ist der göttliche Krieger, aber er hat den Kampf intensiviert und verstärkt. Der Kampf ist nicht mehr ein physischer Kampf gegen Feinde aus Fleisch und Blut, sondern richtet sich gegen die geistigen Mächte und Gewalten. Außerdem wird dieser Kampf mit nicht-physischen Waffen geführt. (Loc. 2927-9)

Ich sollte hinzufügen, dass Longman das letzte Gericht am jüngsten Tag als die letzte Phase dieses Krieges und die ultimative Erfüllung von herem versteht. In diesem Zusammenhang erwartet er eine Rückkehr zu einem konkreteren Kampf und spricht von „der mit der Wiederkunft verbundenen Gewalt“ (Loc. 2970f). Ich bezweifle, dass eine solche Wiederaufnahme vom Vergangenen Sinn ergibt.

Merrill, Eugene H. (2003), “The Case for Moderate Discontinuity,” in Gundry 2003: Loc. 994-1791.

Merrill stützt sich stark auf den Begriff Jahwe-Krieg, wie oben unter „Mögliche Antworten“ erklärt. Das ist insofern hilfreich, als es uns ermöglicht, die Mentalität Israels zu verstehen. Es gibt uns aber keine Erklärung für heute. Merrill (2003: Loc. 1486-90) gesteht das (ein klares Beispiel der „harten Theologie“):

Das Thema kann also nicht sein, ob Völkermord an sich gut oder böse ist – seine Genehmigung durch einen heiligen Gott entscheidet diese Frage. Vielmehr geht es um den Zweck des Völkermords, seinen Initiator und die besonderen Umstände seiner Anwendung. Wir haben hier argumentiert, dass das biblische Genozid Teil einer Strategie des Jahwe-Krieges ist, für eine einzigartige Situation, gegen ein ganz bestimmtes Volk gerichtet und in Übereinstimmung mit dem Charakter Gottes, eine Strategie, die das menschliche Verständnis übersteigt, die aber aus diesem Grund nicht ungerecht oder unmoralisch ist.

Walton, John H. & Walton, J. Harvey (2017), The Lost World of the Canaanite Conquest: Covenant, Retribution, and the Fate of the Canaanites (Downers Grove, IL: InterVarsity)

Wie der Titel schon sagt, konzentrieren sich Walton und Walton darauf, das Weltbild, die Kultur und die Perspektiven der Menschen im Alten Orient zur Zeit der Eroberung wiederherzustellen. Dies soll uns helfen, Handlungen und Äußerungen in ihrem ursprünglichen Kontext zu verstehen. Eine wesentliche Säule ihrer Erklärung der Eroberung ist eine alternative Definition und Übersetzung des entscheidenden Begriffs herem. Dieser Teil ist faszinierend (ich hoffe, ihn in der Ausgabe über Joshua zu diskutieren).

Andere Teile des Buches fand ich allerdings unverständlich oder weit hergeholt. Entweder habe ich den Text nicht verstanden oder die Argumente, die Logik und die weitgehenden Umdeutungen (die zu einigen sehr unterschiedlichen, sogar entgegengesetzten Lesarten zu denen in unseren Bibelübersetzungen führen) ergeben keinen Sinn. Keine der beiden Optionen plädiert für dieses Buch. Außerdem gilt: Die Neuinterpretation macht die Eroberung für mich nicht verständlicher oder gerechtfertigter. Wenn zum Beispiel die Landeinnahme kein Gericht über die Sünden der Kanaaniter sein soll, wie im Buch ausführlich argumentiert wird, ist es nicht einfacher, die Eroberung als gerecht zu verstehen.

Ich bin enttäuscht, weil der historische Hintergrund und die Art und Weise, wie man damals über diese Fragen gedacht hat, ein so wichtiger Teil des Puzzles ist, und ich große Hoffnungen in dieses Buch gesetzt habe. Etwas widerwillig, weil es auch hilfreiches Material enthält, muss ich sagen, dass ich dieses Buch nicht empfehlen kann.

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