Eine Hermeneutik des Kreuzes (Boyd-Projekt 3)

In dieser dritten Ausgabe über Boyds monumentales Werk, The Crucifixion of the Warrior God, setze ich mich zum ersten Mal mit dem Buch selbst auseinander. In den ersten sechs Kapiteln legt Boyd seine allgemeine Hermeneutik dar, d.h. seine Theorie der Schriftauslegung. An sich lesenswert, nur stört mich eine Sache sehr.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST

Diese Ausgabe ist Teil 3 eines Projekts, das mehrere Monate in Anspruch nehmen wird. Das Thema ist weitreichend: Die Gewalt (oder Gewalttätigkeit) Gottes im AT. Gregory Boyd hat ein 1400-seitiges Buch über dieses Thema geschrieben: The Crucifixion of the Warrior God: Interpreting the Old Testament’s Violent Portraits of God in Light of the Cross (Die Kreuzigung des Kriegergottes: Interpretation der Gewaltporträts Gottes im Alten Testament im Licht des Kreuzes; 2017). Ich wurde nach meiner Meinung über dieses Buch gefragt; das hat mich veranlasst, dieses Projekt durchzuführen.

Wann ist es Gewalt?

Boyd gibt keine Definition von Gewalt. In einem wissenschaftlichen Werk wie diesem ist das eine unglaubliche Unterlassung.

Zu behaupten, „jeder scheint Gewalt zu kennen, wenn er sie sieht“ (Boyd 2017, Endnote 34 in Kapitel 1), ist unseriös. In dieser Fußnote argumentiert Boyd, dass Gewalt schwer zu definieren ist und es unter Wissenschaftlern keinen Konsens dazu gibt. Genau deshalb bedarf es einer Diskussion. Zumindest hätte er seinen Lesern eine Arbeitsdefinition anbieten sollen, wie grob auch immer, die uns eine Vorstellung davon gibt, wo er die Grenzen zieht.

Diese Unterlassung entkräftet an sich nicht seine Argumentation. Sie macht das Buch aber schwer zu lesen. Ich frage mich immer noch, ob Boyd verschiedene Formen von Gewalt unterschiedlich bewertet. Wenn ja, wie würde die Unterscheidung aussehen? Kann Gewaltausübung legitim sein? Wenn ein Polizist eine Waffe benützt, um einen Verbrecher anzuhalten, um ein banales Beispiel zu nennen, ist das Gewalt? Was wäre, wenn ein Elternteil physische Gewalt anwenden würde, um zu verhindern, dass ein Kind auf die Straße rennt (ein Beispiel dafür, dass „Gewalt“ und Liebe sich m.E. nicht unbedingt immer gegenseitig ausschließen)? Und was ist mit verbaler Gewalt und verbalem Missbrauch? Ist das inbegriffen? Ich habe ungefähr ein Viertel des Buches gelesen und weiß die Antwort auf diese Fragen immer noch nicht.

Crucifix, CC BY-NC-ND 2.0

Das Kreuz als Offenbarung

Trotz dieses Mangels war ich positiv überrascht von Boyds hermeneutischer Grundlage. Dieser erste Teil des Buches war eine großartige Lektüre. Boyd plädiert für eine Bibelinterpretation, die sowohl Christus-zentriert als auch Kreuz-zentriert ist.

Jesus und das Neue Testament (NT) bilden keine Ergänzung zu einer früheren Offenbarung. Es handelt sich nicht um etwas, das neben dem älteren Teil steht. Jesus ist nicht nur eine bessere oder größere Offenbarung. Er übersteigt und überstrahlt frühere Offenbarungen, etwas, das im NT vielleicht am besten in Hebräer 1,1-4 Ausdruck findet. Deshalb können wir das Alte nur im Lichte des Neuen, also im Lichte Jesu, wirklich verstehen.

Boyd argumentiert auch, dass gerade am Kreuz diese Offenbarung ihren Mittelpunkt findet und am hellsten leuchtet. Alles, was Jesus ist und tut, und alles, was Gott ist und tut, steht im Zusammenhang mit dem Kreuz. Das bedeutet, dass alles, was Gott im Alten Testament (AT) sagt und tut, auch mit Christus und dem Kreuz in Beziehung steht und auf ihn hinweist (wie Jesus selbst in Lk. 24,25-27 darlegt). Nur so wissen wir, wer Gott wirklich ist.

Gottes Wesen, so könnte man auch sagen, ist natürlich die Liebe. Oft wird das griechische Wort agape verwendet, um deutlich zu machen, dass diese Liebe absolut einzigartig ist, weil sie nichts für sich selbst sucht. Das ist die Essenz Gottes, und am Kreuz erfahren wir, was das bedeutet: So weit ist Gott bereit zu gehen. Das Kreuz ist der höchste Ausdruck der Liebe. Aus diesem Grund verwendet Boyd den Begriff kreuzförmig für seinen Ansatz der Interpretation. Das Kreuz sollte das Zentrum der gesamten christlichen Theologie und all unserer Schriftauslegung sein.

Richtig, wenn es auch Dinge gibt, die ich eher fragwürdig finde. Ich habe zum Beispiel meine Zweifel an Boyds starker Kritik an Augustin, dem Kirchenvater aus dem fünften Jahrhundert, aber ich kenne Augustin nicht gut genug, um das im Detail zu diskutieren. Außerdem gehört es nicht zur Essenz von Boyds Argumentation.

Ein zweites Beispiel: Die Behauptung, dass Jesus „vielen alttestamentlichen Texten und Grundätzen unverhohlen widersprach und sie aufhob“ (Boyd 2017, Kapitel 2), wird dem reichen und nuancierten Verhältnis zwischen Alt und Neu, zwischen Typus und Erfüllung absolut nicht gerecht. Jesus leugnet ausdrücklich, dass er das tut, was Boyd ihm zuschreibt (Mt. 5,17-19). Später im selben Kapitel gibt Boyd das zu, aber damit widerspricht er sich selbst. Zu erfüllen ist anderes als zu widerrufen oder aufzuheben.

Gut; aber neu?

Dennoch, dieses erste Viertel des Buches ist ziemlich gut. Es bietet aber nichts Neues. Dies zeigt sich in der Vielzahl von Zitaten anderer Autoren und Theologen in diesen Kapiteln. Dazu gehört auch Martin Luther, der die zentrale Bedeutung des Kreuzes wiederentdeckte und ihm einen zentralen Platz in seiner Theologie einräumte. Vor nunmehr 500 Jahren.

Nur in einem Punkt bringt Boyd vielleicht tatsächlich etwas grundsätzlich Neues. Er weist darauf hin, dass niemand, zumindest kein Theologe, diese Hermeneutik auf die Bibelstellen im AT angewendet hat, die Gott mit Gewalt zu verbinden scheinen. Tatsächlich gibt es eine klare Spannung zwischen solchen Bibelstellen und der neutestamentlichen Offenbarung von der bedingungslosen Liebe und Selbstaufopferung Gottes am Kreuz (Boyd würde sogar meinen: sie stehen im Widerspruch zu einander). Boyd will die kreuzförmige Hermeneutik konsequent und systematisch auf die betreffenden Bibelstellen anwenden; das hat bis jetzt, so meint er, gefehlt. In welchem Verhältnis stehen diese Texte zu Christus und zum Kreuz, wie weisen sie darauf hin?

Das ist eine gute Frage. Es ist durchaus möglich, dass bis heute kein Theologe eine solche Studie erstellt hat. Ich denke jedoch, dass viele Gläubige Boyds Problemstellen bereits kreuzförmig und christuszentriert lesen.

Ich habe z.B. sehr davon profitiert, die Bücher Josua und Richter zu lesen und zu studieren. Sie haben mich nie zu Gewalttätigkeiten inspiriert. Fast automatisch und vielleicht unbewusst lesen die meisten von uns solche Bücher durch die Linse des NT. Wir wissen, dass unser Kampf nicht gegen Fleisch und Blut gerichtet ist. Wir wissen, dass wir in einen geistlichen, nicht in einen physischen Krieg verwickelt sind. Wir wissen, dass Jesus uns gelehrt hat, unsere Feinde zu lieben, ihnen zu vergeben und sie zu segnen. Wir wissen, dass wir siegen (ein militärischer Begriff) durch das Blut des Lammes und das Wort unseres Zeugnisses (Offb. 12,11) – durch gewaltlose Mittel.

Wir haben vielleicht keine Antwort auf jede schwierige Stelle im AT, aber wir lesen das AT im Lichte Jesu.

Darolu (2010), CC BY-SA 3.0

Kritik: Ein pazifistischer Gott?

Wichtig ist noch: Boyd befürwortet nicht nur generell eine kreuzförmige Hermeneutik. Er hat eine klare und bestimmte Auffassung darüber, wie diese aussehen sollte. Für ihn bedeutet kreuzförmig:

  • Gewaltfrei
  • Selbstaufopfernd
  • Feinde liebend
  • Bedingungslos
  • Liebend ohne zu unterscheiden (agape)
  • Auf andere ausgerichtet

Im ganzen Buch tauchen Kombinationen dieser Begriffe im Zusammenhang mit Gott oder seiner Liebe immer wieder auf, fast wie ein Mantra. Sie fassen offensichtlich Boyds Verständnis dessen zusammen, was „kreuzförmig“ bedeutet.

Dies wirft Fragen auf. Gott liebt sicherlich seine Feinde, aber ich frage mich, ob die Liebe Gottes in jedem Sinne des Wortes bedingungslos ist. Wichtiger noch: Ist Gott immer und vollständig gewaltfrei, wie Boyd glaubt?

An dieser Stelle rächt sich, dass Gewalt, wie ich schon bedauerte, nicht definiert wurde. Eins ist aber klar: Boyd ist Pazifist. Er argumentiert, dass Christen niemals auf Gewalt zurückgreifen sollten, dass Jesus uns genau das gelehrt und es selbst praktiziert habe, und dass die Urkirche bis Konstantin (frühes viertes Jahrhundert) Gewaltlosigkeit praktiziert und den Militärdienst für Christen abgelehnt habe (dass die gesamte Urkirche pazifistisch war, wird von Boyds Kritikern abgestritten; z.B. Copan 2018, insbesondere Punkt 5 und 6, und Charles 2010).

Sollten Christen Pazifisten sein? Ich bin von Boyds Argumenten nicht überzeugt. Dass Gott in Jesus am Kreuz und während seines irdischen Wirkens sich weigert, Gewalt anzuwenden, belegt nicht, dass Gott nie und unter keinen Umständen auf Gewalt zurückgreifen wird.

Der von Jesus gesetzte Standard ändert sicherlich vieles, einschließlich der Art und Weise, wie Christen „Krieg führen“. Gewalt ist nicht der Weg des Gottesreiches. Der Weg des Kreuzes beinhaltet Vergebung und Feindesliebe. Aber bedeutet das, dass die Anwendung von Gewalt in einer gefallenen Welt immer falsch ist?

Boyds Gewaltlosigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für das gesamte Buch. In dem Maße, in dem wir glauben, dass Gott Gewalt anwenden kann, ob in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, verliert Boyds Kreuzzug (wenn ich das so nennen darf) gegen die „gewalttätigen Darstellungen“ Gottes und seine Suche nach einer radikalen Lösung viel von seiner Kraft. In diesem Fall kann Gott in der Vergangenheit durchaus Kompromisse eingegangen sein. Das hat er ja in vielen Geboten im Gesetz ebenfalls getan, die offensichtlich hinter seinem wahren Maßstab zurückbleiben. Krieg und Gewalt sind nicht Gottes Ideal, und er wird ihnen schließlich ein Ende setzen. Aber was ist, wenn eine „gewalttätige“ Handlung das kleinere Übel ist?

Oder ein Kriegsheld?

Dass Gott ein Kriegsmann genannt wird (2. Mo. 15,3), ist für Boyd ein verzerrtes Bild von Gott, der in seinem Wesen völlig gewaltlos sei. Für einen Pazifisten kann das Bild vom „Krieger“ oder Krieg nicht positiv sein. Aber in der Bibel wird das Bild positiv verwendet, auch wenn es im Verlauf der Offenbarung wesentlich umgedeutet wird. So wird der Kriegsheld David zum Typus des Messias.

Gott offenbarte sich einem Volk, das mit Krieg und Kriegsführung vertraut war, als Krieger. Er arbeitete mit David als Kriegsherrn und militärischem Führer zusammen. Als David schrieb: „Er lehrt meine Hände streiten“ (Ps. 18,34), stellte er Gott nicht falsch dar, sondern sprach aus eigener Erfahrung. Gott war mit dabei.

Krieg (wie Gewalt) ist unerwünscht, aber es gibt keine schnelle Lösung. Im Laufe der Schrift und der Geschichte öffnet Gott allmählich Alternativen und führt eine Vision für eine ganz andere Welt ein. Er definiert neu, wer der Feind ist und wer die Objekte seiner Liebe sind. Für die Leidenschaft, mit der er dieser Liebe nachjagt, ist „Krieger“ ein treffendes Bild.

Nichts deutet daraufhin, dass Gott in der Vergangenheit nie „Gewalt“ angewendet hat und in Zukunft auch nie „Gewalt“ anwenden wird. Eine kreuzförmige Hermeneutik steht zwar der menschlichen Gewalt kritisch gegenüber (sie dient selten der Gerechtigkeit), setzt aber keine absolute Gewaltlosigkeit voraus.

Demnächst

In den kommenden Ausgaben werde ich auf Folgendes eingehen:

  • Wie Boyd seine Version der kreuzförmigen Hermeneutik weiterentwickelt: Wie sollte man die „gewalttätigen Darstellungen“ Gottes neu interpretieren?
  • Was passiert, wenn Boyd sich mit Schriftstellen befasst, die angeblich gewalttätige und verzerrte Darstellungen des Gottes zeigen, der reine Liebe ist?

Selbst wenn Jesus das Schwert als Mittel zur Förderung des Gottesreiches verbietet, kann man nicht sagen, dass das Neue Testament den absoluten Pazifismus lehrt, noch verbietet es dem Christen, das Schwert im Dienste der Gesellschaft und des größeren Wohls anderer zu „tragen“, selbst wenn dies die Praxis einiger in der frühen Kirche war. (Daryl 2010: 42)

Attribution

Violence, http://www.thebluediamondgallery.com/wooden-tile/v/violence.html, CC BY-SA 3.0

Crucifix: Zonsondergang, centraal crucifix op de begraafplaats Pasbrug: Sint -Katelijne-Waver,  https://www.flickr.com/photos/sint-katelijne-waver/5251962397/, CC BY-NC-ND 2.0

Darolu (2010), Peace Dove Icon, https://en.wikipedia.org/wiki/File:Peace_dove_icon.svg, CC BY-SA 3.0

Michael Jaletzke (2007), Erzengel Michael, Universität Bonn Haupteingang, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Michael4.jpg, CC BY-SA 3.0

Literaturangaben

Boyd, Gregory (2017), The Crucifixion of the Warrior God: Interpreting the Old Testament’s Violent Portraits of God in Light of the Cross (Minneapolis, MN: Fortress Press)

Charles, J. Daryl (2010), „Pacifists, Patriots, or Both? Second Thoughts on Pre-Constantinian Early-Christian Attitudes toward Soldiering and WarLogos 13:2, 17-55

Copan, Paul (2018), Greg Boyd’s Misunderstandings of the ’Warrior God’ (The Gospel Coalition, https://www.thegospelcoalition.org/reviews/crucifixion-warrior-god-greg-boyd/) Accessed 13 September 2018

Deutsche Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

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