Die Lehre Jesu von der Scheidung wurde von der Kirche praktisch von Anfang an missverstanden. Nach der traditionellen Auffassung der Kirche ist eine Scheidung nur zulässig im Falle von Ehebruch oder wenn jemand durch einen ungläubigen Ehepartner verlassen wurde; eine Wiederverheiratung ist nicht zulässig, solange der Ehepartner am Leben ist. Überraschenderweise gilt nicht einmal lebensbedrohliche körperliche Misshandlung als zulässigen Grund für eine Scheidung.
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Dieses Verständnis, dass es nur zwei legitime Gründe für eine Scheidung gibt und dass Wiederverheiratung nicht erlaubt ist, findet sich in den frühesten Schriften der Kirchenväter zum Thema. Es ist nach wie vor die offizielle Position der römisch-katholischen Kirche. Die Kirchen der Reformation waren ebenfalls der Ansicht, dass es nur diese beiden Gründe gibt, erlaubten in solchen Fällen aber eine Wiederverheiratung.
Die Kirche hat die Worte Jesu zu diesem Thema konsequent falsch verstanden. Das belegt David Instone-Brewer in seinem Buch, Divorce and Remarriage in the Bible: The Social and Literary Context (2002; übersetzt: Scheidung und Wiederverheiratung in der Bibel: Der soziale und literarische Kontext). Instone-Brewer befasst sich mit allen relevanten Texten und mit der Welt der Antike, darunter Lehre und Praxis des Judentums sowie Recht und Kultur der römischen Gesellschaft. Das gefällt mir am Buch: Es vermittelt ein Gesamtbild. In diesem Kontext erhalten die Worte Jesu eine ganz andere Bedeutung.
Die wichtigsten Bibelstellen sind: 2. Mose 21,7-11; 5. Mose 24,1-4 (AT); Matthäus 5,31f, 19,3-12; Markus 10,2-12; Lukas 16,18; 1 Korinther 7 (NT; in Mt. 5 und Lk. 16 ist der Bericht so abgekürzt, dass er ohne die umfangreicheren Versionen in Mt. 19 und Mk. 10 nicht verstanden werden kann).
Scheidung nach dem Gesetz
Eine wichtige Bibelstelle zum Thema im AT ist 5. Mose 24. In ihrer Auseinandersetzung mit Jesus weisen die Pharisäer ihn auf diese Stelle hin (Mt. 19,7). Moses geht davon aus, dass jeder, der sich von seiner Frau scheiden lässt, ihr einen rechtlichen Beweis (Scheidebrief) geben sollte:
Wenn jemand eine Frau zur Ehe nimmt und sie nicht Gnade findet vor seinen Augen, weil er etwas Schändliches an ihr gefunden hat, und er einen Scheidebrief schreibt und ihr in die Hand gibt und sie aus seinem Hause entlässt und wenn sie dann aus seinem Hause gegangen ist und hingeht und wird eines andern Frau… (5. Mo.24,1f)
Nebenbei bemerkt: Diese Regelung kam der Frau zugute. Auf diese Weise konnte sie beweisen, dass sie geschieden war und somit wieder heiraten konnte. Es machte es ihrem Ex-Mann unmöglich, sie einfach zurückzufordern, was in der Welt des Alten Orients ansonsten durchaus denkbar war. Und sie war nicht dazu gezwungen, fünf Jahre zu warten, wie im Gesetzbuch von Hammurabi vorgeschrieben (Babylon, ca. 1750 v.Chr.).
Wichtig in 5. Mose 24 ist der angegebene Scheidungsgrund: „etwas Schändliches“. Traditionell war dies als schwerwiegendes sexuelles Fehlverhalten, meist Ehebruch, verstanden worden, aber das hatte sich bis zur Zeit Jesu geändert, wie wir noch sehen werden.
Es wird meist übersehen, dass es eine zweite wegweisende Bibelstelle im Gesetz gibt, die sich mit der Scheidung befasst. Obwohl es sich um den Fall einer Sklavin handelt, die jemand als Ehefrau für sich selbst oder für seinen Sohn genommen hatte, gilt die Richtlinie für alle Ehen; wenn eine Sklavin schon diese Rechte hatte, wie viel mehr eine freie Frau:
Nimmt er sich aber noch eine andere, so soll er der ersten an Nahrung, Kleidung und ehelichem Recht nichts abbrechen. Erfüllter an ihr diese drei Pflichten nicht, so soll sie umsonst freigelassen werden, ohne Lösegeld. (2. Mo. 21,10f)
Der Ehemann war verpflichtet, Nahrung, Kleidung und Geschlechtsverkehr (oder breiter gefasst, Liebe und emotionale Unterstützung) zu leisten. Wenn er das nicht tat, war die Frau frei zu gehen. Schließlich erfüllte ihr Mann seine Verpflichtungen nicht:
Die biblischen Gründe für die Scheidung sind alle Versäumnisse bei der Einhaltung der Ehegelübde – das heißt, Versprechen der Treue und der Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Liebe. Die letzten drei lassen sich als materielle und emotionale Unterstützung verallgemeinern. Körperlicher und emotionaler Missbrauch stellen eine extreme Unterlassung der ehelichen und emotionalen Unterstützung dar. (Instone-Brewer 2002: 308)
Hillel und Schammai
In den Tagen Jesu war Ehescheidung bei den Juden leicht. Allerdings waren nicht alle mit dieser Praxis einverstanden. Es gab zu dieser Frage (und zu vielen anderen) zwei Schulen. Eine Richtung wurde nach Rabbiner Hillel (gestorben ca. 20 n. Chr.) und die andere nach Rabbiner Schammai (gestorben 30 n. Chr.) benannt. Hillel stand für eine einfache Scheidungspraxis; Schammai verteidigte eine restriktivere Haltung. Diese Debatte, die im 19. Jahrhundert für die christliche Theologie wiederentdeckt wurde, bildet den Hintergrund für die Worte Jesu über die Scheidung, obwohl daraus kaum praktische Konsequenzen gezogen wurden, wie Instone-Brewer feststellt:
Tatsächlich ist ein Großteil des jüdischen Hintergrunds der Scheidungsdebatte seit vielen Jahrzehnten von Wissenschaftlern gut verstanden worden. Es war eine der wichtigsten Entdeckungen nach der Wiederbelebung der Judaistik Mitte des 19. Jahrhunderts. Nach etwa 1850 erwähnten alle guten Kommentare die Debatte zwischen den Nachfolgern Hillels und Schammais als Erklärung für die betreffenden Texte in den Evangelien. Der einzige wichtige neue Faktor, der vorher nicht richtig zur Kenntnis genommen worden war, war die Anerkennung der anderen drei biblischen Gründe für die Scheidung durch alle Juden, einschließlich der Schammaiten. Sobald die Debatte hinter dem Bericht im Evangelium erkannt wird, ist klar, dass Jesus seine Meinung über die Auslegung Hillels „irgendetwas“ äußert; er verurteilt deswegen nicht „jede Scheidung“. Obwohl dies offensichtlich ist, haben nur sehr wenige Wissenschaftler es erkannt oder klar dazu geschrieben, weil die traditionelle Lehre über die unauflösliche Ehe so fest in der christlichen Theologie verankert war. (Ibid.: 305f)
Im Mittelpunkt der Debatte stand der Begriff „etwas Schändliches“ aus 5. Mose 24,1. Genau betrachtet besteht dieser Ausdruck im Hebräischen aus zwei Substantiven, von denen das zweite das erste qualifiziert: „Unanständigkeit Angelegenheit“. Normalerweise würde man das als die „Unanständigkeit einer Angelegenheit“ verstehen. Infolgedessen gäbe es hier nur einen einzigen Scheidungsgrund, einen ernsthaften, daher oft als Ehebruch verstanden. So sah es Schammai.
Hillel argumentierte, dass es zwei Substantive gibt, und dass deshalb zwei Gründe gemeint sind: Unanständigkeit (oder Ehebruch) und „eine Angelegenheit“, mit anderen Worten, „irgendetwas“, was im Grunde genommen alles sein konnte. Es brauchte eigentlich gar keine Begründung für die Scheidung.
Es sollte klar sein, wie schwach die Argumentation Hillels ist, aber eine einfache Scheidungspraxis war so attraktiv, dass die meisten Juden auf der Seite Hillels standen. Nicht aber Jesus.
Die Debatte zwischen Hillel und Schammai bildet den Hintergrund für die Frage, die Jesus in Markus 10 und Matthäus 19 von den Pharisäern gestellt wird. In Matthäus wird der umstrittene Ausdruck sogar explizit erwähnt: „Ist‘s erlaubt, dass sich ein Mann aus irgendeinem Grund von seiner Frau scheidet?“ (Mt. 19,3; Betonung hinzugefügt). So wird Jesus um seine Meinung zur Debatte zwischen Schammai und Hillel gebeten: Was bedeutet der entscheidende Begriff in 5. Mose 24? Irgendetwas oder nur Ehebruch? Jesus vertritt die Position, dass eine Scheidung aus irgendeinem (oder keinem) Grund unzulässig und sogar unwirksam sei. Jede neue Beziehung sei objektiv betrachtet Ehebruch. (Es scheint nicht so, als hätte Jesus erwartet, dass sich solche Paare trennen würden; seine Aussage dient dazu, deutlich zu machen, wie falsch es ist, sich grundlos scheiden zu lassen.)
Wichtig ist: Jesus macht damit keine Aussage über mögliche andere Gründe für eine Scheidung. Er bezieht Stellung in der Debatte über den Ausdruck „etwas Schändliches“. Er bedeutet Ehebruch, sonst nichts.
Warum hat die Kirche seine Worte als absolutes Verbot von Scheidung und Wiederverheiratung missverstanden? Aus zwei Gründen. Erstens löste die Verbindung der Kirche zur Synagoge und zum Judentum sich innerhalb von Jahrzehnten auf. Zweitens überlebte die Schule der Schammaiten die Zerstörung des Tempels nicht. Nach 70 n. Chr. verschwand sie. Die Debatte und das Wissen über sie verschwanden mit ihr.
Infolgedessen kannte oder verstand niemand in der Kirche die Debatte, die den entscheidenden Hintergrund für die Aussage Jesu über Scheidung und Wiederverheiratung bildete, und interpretierte daher die Aussage Jesu fälschlicherweise als absolut: keine Scheidung außer bei Ehebruch (und, basierend auf 1. Korinther 7, wenn jemand verlassen wurde) und sogar in diesem Fall keine Wiederverheiratung.
Weitere Konsequenzen
Die gründliche Studie von Instone-Brewer deckt einige zusätzliche Konsequenzen auf, die nicht sofort offensichtlich sind. Unter ihnen:
Polygamie. Die Antwort Jesu verbietet die Polygamie. Nach dem Gesetz konnte ein jüdischer Mann keinen Ehebruch begehen, indem er eine unverheiratete Frau heiratete; Ehebruch konnte nur ein Verbrechen gegen einen anderen Mann sein (ebd.: 151). Auch wenn seine Scheidung nicht gültig wäre, wäre es trotzdem kein Ehebruch, sondern Polygamie: Er hätte jetzt zwei Frauen. Jesus beschuldigt ihn dennoch des Ehebruchs (gegen seine Ehefrau!). Mit anderen Worten, für Männer und Frauen gilt jetzt der gleiche Standard: Es kann nur noch einen legitimen Ehepartner geben.
Trennung. Ironischerweise wurde die Trennung (im Gegensatz zur Scheidung) die einzige alternative Option, die in der Kirche akzeptiert wurde. Das ist ironisch, weil es 1. Korinther 7 widerspricht und weil Trennung ohne Scheidung in der römischen und griechischen Gesellschaft schlichtweg unmöglich war. Es gab kein formelles Scheidungsverfahren. Die Scheidung erfolgte einfach durch das Verlassen oder Wegschicken des Ehepartners. Mit anderen Worten, die Scheidung erfolgte durch Trennung; die zwei Begriffe waren synonym.
Andere Gründe. Jesus muss die anderen im Gesetz genannten Scheidungsgründe akzeptiert haben. Denn jeder Jude akzeptierte sie als rechtmäßig. Die von Jesus in seiner Stellungnahme verwendeten Worte entsprechen weitgehend denen von Schammai, der auch andere Gründe anerkannte (ebd.: 186). Es war nicht nötig, Überlegungen zu erwähnen, über die sich alle einig waren (z.B. der Tod eines Ehepartners war ein berechtigter Grund für eine Wiederverheiratung; das wird hier ebenfalls nicht erwähnt). Wäre Jesus anderer Meinung gewesen (nämlich, dass die Gründe in Exodus 21 nicht zutreffen), hätte er dies deutlich machen müssen.
Wiederverheiratung. Es wurde allgemein erwartet, sowohl bei Juden als auch bei Nichtjuden, dass geschiedene Menschen wieder heiraten würden. Jüdische Scheidungsbriefe besagen ausdrücklich, dass es der Frau freisteht, wieder zu heiraten. Kaiser Augustus hatte ein Gesetz erlassen, dass Geschiedene nach 18 Monaten wieder heiraten mussten (obwohl dieses Gesetz nicht durchgesetzt wurde). Die Wiederverheiratung war normal und legal (ebd.: 289). Hätten Jesus oder Paulus dies verbieten wollen, hätten sie sich klar und deutlich äußern müssen, denn ohne eine solche Klarheit würde jeder davon ausgehen, dass die Geschiedenen wieder heiraten dürften (das Verbot in 1. Kor. 7,11 bezieht sich auf eine nichtlegitime Trennung).
Ein biblischerer Ansatz
Bedeutet dies, dass wir jetzt ein breiteres Spektrum an Scheidungsgründen zur Auswahl haben, wenn wir eine Ehescheidung in Betracht ziehen? Nein. Die Frage so zu stellen, bedeutet, das tiefere Anliegen von Jesus und Paulus nicht zu erkennen. Scheidung ist immer noch eine Katastrophe, etwas, das man nach Möglichkeit vermeiden sollte. Instone-Brewer (ebd.: ix) zieht als Schlussfolgerung:
- Sowohl Jesus als auch Paulus verurteilten die Scheidung ohne zulässigen Grund und rieten selbst bei zulässigen Gründen von Scheidung ab.
- Sowohl Jesus als auch Paulus beziehen sich auf die alttestamentlichen Gründe für eine Scheidung.
- Das Alte Testament erlaubte die Scheidung wegen Ehebruchs und wegen Vernachlässigung oder Misshandlung.
- Sowohl Jesus als auch Paulus verurteilten die Wiederverheiratung nach einer ungültigen Scheidung, aber nicht nach einer gültigen Scheidung.
Oder wie er es am Ende des Buches ausdrückt:
Jesus und Paulus bekräftigten alle vier alttestamentlichen Gründe [Ehebruch, Ausbleiben von Kleidung, Nahrung oder Geschlechtsverkehr] für Scheidung und Wiederverheiratung und betonten, dass Scheidung wann immer möglich vermieden werden sollte und dass Gläubige die zusätzliche Meile gehen und versuchen sollten, eine Ehe zu erhalten. Sie erlaubten die Scheidung aus bestimmten Gründen aus dem Alten Testament und lehnten die unbegründete Scheidung der Nachfolger Hillels und der griechisch-römischen Kultur ab. (Ibid.:299)
Und zweifellos auch die der westlichen Kultur.
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Literaturangaben
Deutsche Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Instone-Brewer, David (2002), Divorce and Remarriage in the Bible: The Social and Literary Context (Grand Rapids, MI: Eerdmans)
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