„Richter ist nach einer interessanten Sammlung von Personen benannt, die Israel nach Josuas Tod geführt haben“, so die Einleitung in das Buch Richter in der English Standard Version. Das Zitat eine schöne Untertreibung! Was aber ist der Sinn dieses Buches voller in der Tat „interessanter“ Individuen und mit Heldentaten wie aus Hollywood? Viele Interpreten sind unsicher über den Sinn; manche mutmaßen, dass es sich um ein Buch über Führung handeln könnte.
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Das trifft m.E. nicht zu. Ich habe einen anderen Vorschlag: Struktur und Aufbau des Buches sind der Schlüssel, der uns Botschaft und Zweck aufschließt.
Richter erzählt uns von 12 Richtern. Von sechs Richtern wird ausführlich berichtet, die anderen sechs finden nur kurz Erwähnung, in höchstens drei Versen. Die letzteren sechs sind nicht gleichmäßig über das Buch verteilt: Fünf von ihnen treten unmittelbar vor oder nach Jeftah auf. Die zwölf Erzählungen sind von einer Einführung und zwei abschließenden – und schockierenden – Nachträgen umrahmt.
Die Einführung (Ri. 1:1-3:6)
Die Bibel gibt uns nie einfach Geschichte. Generell gilt in der Geschichtsschreibung: Jede Darstellung von Geschichte ist selektiv und wird durch die zugrunde liegende Weltanschauung und den Zweck und den Standpunkt dieser Darstellung geprägt. Es gibt sehr unterschiedliche Möglichkeiten, über die gleichen Ereignisse zu berichten, um verschiedene Anliegen, Erklärungen oder Folgerungen hervorzuheben.
Das ist hier, am Anfang vom Buch Richter, wichtig. Das Buch ist bewusst mit Josua verbunden, und es gibt sogar eine gewisse Überschneidung: Von Kalebs Anspruch und Josuas Tod wird sowohl in Josua wie auch in Richter berichtet. Dennoch wird das Material über die Landnahme und ihre Fortsetzung nach Josua unterschiedlich verwendet.
In Josua erfahren wir vor allem von der Treue Gottes bei der Erfüllung der Verheißung und davon, wie Israel deshalb im Kampf erfolgreich sein und das Land in Besitz nehmen konnte. Jetzt wird uns die andere Seite der Medaille gezeigt: die Untreue Israels.
Es gibt zwei Aspekte: Untreue bei der Landnahme in Kapitel 1 und Untreue im Gottesdienst in Kapitel 2.
In Richter 1 ist Israel am Anfang auf einem guten Weg. Sie suchen Gottes Weisung, zwei Stämme arbeiten zusammen und die Haltung von Kaleb und Achsa ist bewundernswert, Israel feiert Siege wie im Buch Josua.
In Vers 19 finden wir den ersten Schatten: Judah kann die Kanaaniter in der Ebene nicht vertreiben. Das Nicht-vertreiben-können wird zur Wiederholung: Die Israeliten vertrieben die Kanaaniter nicht, sondern lebten unter ihnen. Der letzte Stamm in der Liste, Dan, wird sogar zurückgedrängt.
Was wir wissen wollen, ist, warum der Erzähler diese Ereignisse ausgewählt hat und warum er sie auf diese Weise arrangiert hat. Was will er uns zeigen? Ein guter Grund, die Geschichte von Otniël und Achsa aus Josua zu wiederholen, wäre, ein Beispiel für Mut zu geben: Die beiden zeigen die Haltung, die alle Israeliten hätten haben sollen. Die Wiederholung zeigt Israels Versagen bei der Landeinnahme.
Richter 2,6 bildet einen zweiten Anfang im Buch. Die darauffolgende Darstellung beginnt zu einer früheren Zeit als Kapitel 1, als Josua noch am Leben war. Sie dokumentiert die religiöse Untreue, die das Ergebnis des Scheiterns in Kapitel 1 ist.
Die Einführung schließt mit einer Beschreibung der daraus resultierenden prekären Situation:
Als nun die Israeliten wohnten unter den Kanaanitern, Hetitern, Amoritern, Perisitern, Hiwitern und Jebusitern, nahmen sie deren Töchter zu Frauen und gaben ihre Töchter deren Söhnen und dienten deren Göttern. (Ri. 3,5-6 Luther 1984)
Die Israeliten ließen sich inmitten der Kanaaniter nieder und nahmen ihre Lebensweise an. Das Ergebnis kann in einem Wort beschrieben werden: Kanaanisierung. Kanaanisierung bildet den Hintergrund für die weiteren Erzählungen im Buch Richter.
Der Zyklus (Otniël)
In diesem Zusammenhang wird der grundlegende Zyklus vorgestellt, der das Buch der Richter prägt:
Die Otniël-Erzählung ist kurz, aber sie zeigt alle Phasen des Zyklus:
- Vs. 7 Abfall
- Vs. 8 Vergeltung
- Vs. 9 Umkehr
- Vs. 10 Erlösung
- Vs. 11 Rest
Die fünf Elemente bilden das Muster für den Rest des Buches. Der Zyklus wiederholt sich. Allerdings, wie wir sehen werden, zeigt sich dabei eine zunehmend negative Tendenz.
Chiasmus
Hier ist eine weitere Möglichkeit, die Struktur der Richter zu betrachten: Das Buch ist ein Chiasmus. Die Elemente werden eingeführt und dann in umgekehrter Reihenfolge wiederholt:
A. Juda und Israel gegen die Kanaaniter
B. Götzen werden verehrt
C. Othniel: Israelitische Frau
D. Ehud: Hat eine Nachricht, tötet Moabiter am Jordan
E. Barak und Debora: Jaël tötet
F. GIDEON
E’. Abimelech: Frau tötet
D’. Jeftah: Hat eine Nachricht, tötet Ephraimiter am Jordan
C’. Simson: Ausländische Frauen
B’. Jahwe wird wie ein Götze behandelt
A’. Israel und Juda gegen Benjamin
Damit steht Gideon in der Mitte des Buches. Die Gideon-Erzählung zeigt, was Israel, so schwach und zögerlich es auch sein mag, mit Gott erreichen könnte.
Ehud, Schamgar, und Debora und Barak.
Wie bei Otniël folgt die Geschichte von Ehud ebenfalls dem Zyklus ohne Komplikationen. Der einzige Satz, der sich auf Schamgar bezieht, ist rätselhaft. Was er tut, lässt ihn wie einen Vorläufer von Simson aussehen. Anat ist keine Ortsbezeichnung, sondern der Name der Schwester Baals, einer kanaanitischen Kriegsgöttin.
Mit der nächsten Erzählung kommen wir zu einer für jene Zeit höchst ungewöhnlichen Begebenheit: Debora ist Richterin und Prophetin. Frauen spielen im Buch der Richter eine überraschend bedeutende Rolle. Wichtig ist hier der Standort: Der Berg Tabor, ein Hügel am Rande des Jesreel-Tals. Barak wurde auf dem Tabor von 900 Streitwagen umzingelt und eingefangen. Was ist dann passiert? Wie „erschreckte“ der Herr Sisera und seine Armee (4:15), so dass er seinen Wagen zurückließ und zu Fuß floh? Das Siegeslied in Kapitel 5 gibt einen wichtigen Hinweis:
Vom Himmel her kämpften die Sterne, von ihren Bahnen stritten sie wider Sisera. Der Bach Kischon riss sie hinweg, der uralte Bach, der Bach Kischon. Tritt einher, meine Seele, mit Kraft! (Ri. 5,20-21 Luther 1984)
Vermutlich ließ starker Regen den Kischon über die Ufer treten, was die Wagen von Sisera nutzlos machte; sie blieben im Schlamm stecken und mussten zurückgelassen werden.
Diese Erzählung ist die erste, die zumindest einen Hauch von Schatten hat: Barak gehorcht nicht einfach dem Wort des Herrn durch Debora. Im nächsten Zyklus gibt es einiges mehr, das vom idealen Zyklus abweicht.
Gideon
Nun kommen wir zur zentralen Erzählung. Der Zyklus gerät ins Stocken:
Als sie aber zum HERRN schrien um der Midianiter willen, sandte der HERR einen Propheten zu ihnen, der sprach zu ihnen: So spricht der HERR, der Gott Israels: Ich habe euch aus Ägypten geführt und aus der Knechtschaft gebracht und habe euch errettet aus der Hand der Ägypter und aus der Hand aller, die euch bedrängten, und habe sie vor euch her ausgestoßen und ihr Land euch gegeben und zu euch gesprochen: Ich bin der HERR, euer Gott! Ihr sollt nicht fürchten die Götter der Amoriter, in deren Land ihr wohnt. Aber ihr habt meiner Stimme nicht gehorcht. (Ri. 6,7-10 Luther 1984)
Diesmal, wenn das Volk zu Gott ruft, schickt er einen Propheten mit einer Rüge. Das Wort sagt nicht aus, dass er Israel nicht wieder retten wird, aber es verspricht auch keine Hilfe; es bleibt offen. Dennoch finden wir im nächsten Vers, dass Gott reagiert und handelt.
Was will der Autor, dass wir über Gideon erfahren? Er beschreibt Gideons Charakter nicht, er zeigt ihn uns durch Gideons Handlungen. Gideon bittet um ein Zeichen, und das wird nicht das letzte Mal sein. Dies deutet auf einen schwachen Glauben hin, der durch Bestätigungen gestützt werden muss.
In gewisser Weise ist es beruhigend und ermutigend, dass Gideon so schwach ist. Modern gesagt: Er hat ein geringes Selbstvertrauen. Das hindert Gott nicht daran, ihn dramatisch zu benutzen. Vielleicht ist es sogar das, was dies möglich macht; schließlich hätte Gott sicherlich stärkere Führer als Gideon finden können. Es ist eine bewusste Wahl, dass der Held der zentralen Erzählung im Buch so schwach und schwankend daherkommt. Es sagt uns und Israel, dass wir nicht stark sind wegen eigener Stärke, sondern weil Gott stark ist.
Gideon ist in der Lage, zu tun, was Gott ihm sagt, aber nicht wegen seiner eigenen Ressourcen. Der Schlüssel zum Sieg ist nicht, dass Gideon sich unterschätzt und nicht weiß, wer er in Wirklichkeit ist. Der Schlüssel zeigt sich in 6,16: Gott verspricht, bei ihm zu sein; das ist es, was Erfolg möglich macht.
Die Nacht-Aktion, die in 6,25-27 folgt, bestätigt den ersten Eindruck von Gideon. Er hat Angst. Diesmal wird es explizit angegeben. Aschera war eine kanaanitische Göttin, hier wahrscheinlich die Frau von Baal. Das Kultobjekt, das sie darstellte, war entweder ein Baum, ein Hain oder ein Pfahl. Wir erfahren hier, wie tief die Baalverehrung in Israel eingedrungen war.
Dann kommt das vielleicht bekannteste Element der Geschichte, das Woll-Vlies in 6,36-40. Die Erzählung hat nicht den Zweck, eine zweifelhafte Technik zur Einholung von göttlicher Führung zu autorisieren. Gideon erhält kein Lob für seine Bitte. Im Gegenteil: Hier zeigt sich abermals seine Schwäche. Wenn du Gott, wie Gideon, ein Vlies auslegen willst, mag es sein, dass Gott darauf eingeht – oder auch nicht. Richter 6 will zeigen, dass Gideon nach allem, was passiert ist, immer noch zweifelt und weitere Unterstützung und Bestätigung sucht.
Erstaunlicherweise erhält Gideon ein weiteres Mal eine übernatürliche Bestätigung:
Und der HERR sprach in derselben Nacht zu Gideon: Steh auf und geh hinab zum Lager; denn ich habe es in deine Hände gegeben. Fürchtest du dich aber hinabzugehen, so lass deinen Diener Pura mit dir hinabgehen zum Lager, damit du hörst, was sie reden. Danach werden deine Hände stark sein und du wirst hinabziehen zum Lager. Da ging Gideon mit seinem Diener Pura hinab bis an den Ort der Schildwache, die im Lager war. (Ri. 7,9-11 Luther 1984)
Die Zeit für den Angriff ist gekommen. Aber Gott rechnet damit, dass Gideon immer noch Angst hat und Bestätigung braucht. Offensichtlich fürchtet Gideon sich immer noch, denn er nimmt Gottes Angebot an. Im Lager hört Gideon einen Traum, der ihn zum Handeln ermutigt.
Nach dem Sieg wird Gideon angeboten, König über Israel zu werden, er lehnt das aber ab:
Da sprachen die Männer von Israel zu Gideon: Sei Herrscher über uns, du und dein Sohn und deines Sohnes Sohn, weil du uns aus der Hand der Midianiter errettet hast. Aber Gideon sprach zu ihnen: Ich will nicht Herrscher über euch sein, und mein Sohn soll auch nicht Herrscher über euch sein, sondern der HERR soll Herrscher über euch sein. Und Gideon sprach zu ihnen: Eins begehre ich von euch: Jeder gebe mir die Ringe, die er als Beute genommen hat. Denn weil es Ismaeliter waren, hatten sie goldene Ringe. (Ri. 8,22-24 Luther 1984)
Im Prinzip ist es die richtige Antwort, aber die Fortsetzung von Gideons Leben stimmt mit seinen Worten nicht überein; in gewissem Maße lebt Gideon das Leben eines Königs, obwohl er den Titel ablehnt: „Und Gideon hatte siebzig leibliche Söhne, denn er hatte viele Frauen“ (Ri. 8,30 Luther 1984).
Es ist wichtig, dies im Blick zu behalten. Es handelt sich um den ersten Hinweis auf Königtum und auf die Tendenz Israels in diese Richtung, und es steht nicht in einem positiven Licht.
Denn die Geschichte nimmt eine traurige Wendung. In einer Szene, die uns an die Sünde Israels mit dem goldenen Kalb in 2. Mose 32 erinnert, bittet Gideon um goldene Ohrringe. Aus dem Material wird ein so genannter Efod hergestellt, normalerweise ein Begriff für ein Priestergewand, hier vielleicht eher eine Statue. Der Efod wird als Abgott verehrt.
Das zyklische System der Richter beginnt zu wanken; die Folgen dieser Entgleisung sind schlimm.
Abimelech verstand die Funktion von Gideon offensichtlich als die eines Königs:
Redet doch vor den Ohren aller Männer von Sichem: Was ist euch besser, dass siebzig Männer, alle die Söhne Jerubbaals, über euch Herrscher seien oder dass ein Mann über euch Herrscher sei? Denkt auch daran, dass ich euer Gebein und Fleisch bin. (Ri. 9,2 Luther 1984)
Der Name Abimelech bedeutet, „mein Vater ist König“.
Er tötet alle 70 Söhne Gideons, um sicherzustellen, dass es keinen Rivalen gibt. In 9,6 macht ihn das Volk von Sichem zum König. Sein Königreich ist sehr klein, aber trotzdem… Hier ist die erste Person in Israel, die König wurde; es verheißt nichts Gutes für die Idee der Monarchie.
Jeftah
Die Erzählung über Jeftah wird von fünf der „kleinen“ Richtern umrahmt. Wir wissen kaum etwas über Tola, aber von Jair wird gesagt, dass er 30 Söhne hatte, die auf 30 Eseln ritten:
Der hatte dreißig Söhne, die auf dreißig Eseln ritten. Und sie hatten dreißig Städte, die heißen „Dörfer Jaïrs“ bis auf diesen Tag und liegen in Gilead. (Ri. 10,4 Luther 1984)
Ähnliches gilt für Ibzan:
Der hatte dreißig Söhne. Und dreißig Töchter gab er nach auswärts und dreißig Töchter nahm er von auswärts für seine Söhne. (Ri. 12,9 Luther 1984)
Der Bericht über Elon ist wieder minimal. Von Abdon heißt es:
Der hatte vierzig Söhne und dreißig Enkel, die auf siebzig Eseln ritten. (Ri. 12,14 Luther 1984)
Worum geht es hier? So viele Kinder zu haben, bedeutet, mehrere Frauen zu haben. Ibzan baut sein Beziehungsnetz durch strategische Ehen auf, eine übliche Strategie von Monarchen jener Zeit. Was die Esel betrifft, gibt es in der Bibel Hinweise darauf, dass das Reiten auf einem Esel die Könige Israels auszeichnete. Das ist der Grund, warum Jesus in Jerusalem auf einem Esel einzug. Mit anderen Worten, diese Richter zeigen königliche Ambitionen.
Der Jeftah-Zyklus selbst beinhaltet wieder ein prophetisches Wort als Antwort auf den Hilferuf Israels. Wir hatten dieses zusätzliche Element zuerst bei Gideon. Diesmal sagt Gott, dass er das Volk nicht mehr retten wird. Erst wenn das Volk wirklich bereut und auf seine Götzen verzichtet, lenkt Gott ein.
Dass sich die Zyklen verschlechtern, zeigt auch die Tatsache, dass Jeftah nicht von Gott auserwählt ist, sondern von den Ältesten Israels. Er ist ein Gesetzloser und der Sohn einer Prostituierten. Er ist effektiv ein Krieger und Anführer einer Truppe von Desperados.
Jeftah sendet eine relativ lange Botschaft an den König der Ammoniter und liefert Argumente aus der Geschichte, um zu zeigen, dass die Ammoniter im Unrecht sind. Als die Argumente zurückgewiesen werden, kommt der Geist des Herrn über ihn und er besiegt die Ammoniter.
Jeftah ist jedoch weniger bekannt für diesen bedeutenden Sieg als für sein unüberlegtes Gelübde. Manche Interpreten argumentieren, dass Jeftah nicht wirklich tat, was er allem Anschein nach versprochen hatte, nämlich, seine Tochter als Opfer zu verbrennen. Er habe sie stattdessen der ewigen Jungfräulichkeit gewidmet; sie hat nie geheiratet. Der Text macht einen anderen Eindruck. Das Gesetz verbietet Menschenopfer, insbesondere von Kindern; das heißt aber nicht, dass es nicht trotzdem geschehen konnte. Und genau das ist der Punkt: Es zeigt, wie gering das Wissen Israels über Jahwe und seine Gesetze war.
Übrigens: Die Zeit der Ruhe wird immer kürzer; bei Jeftah sind es nur sechs Jahre. Wir sollten auch beachten, dass es in diesem Zyklus zum ersten Mal zum Krieg zwischen zwei Stämmen Israels kommt.
Simson
Und dann kommt Simson. Tolle Geschichten (viele von uns sind mit ihnen aufgewachsen; welcher Junge mag den Superhelden Simson nicht?), aber um was geht es hier? Was soll diese Vermischung von unglaublichen Taten und tiefem moralischen Versagen deutlich machen?
Simson ist aus mehreren Gründen ungewöhnlich. Zum einen ist Simson der einzige Richter mit einer Geburtserzählung, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den späteren Geburtsgeschichten von Johannes dem Täufer und Jesus aufweist. Allerdings sagt uns das mehr über Jesus (den wahren „Richter“ oder Erlöser) als über Simson. Zum anderen arbeitet Simson als einziger Richter immer allein, nie mit anderen Israeliten. Simson ist auch einzigartig, weil er gar keine Befreiung bewirkt. Die Philister sind auch nach Simson noch lange Zeit ein Problem. Und doch gibt es gleichzeitig diese unglaubliche Kraft. Der Erzähler gibt keinen direkten Kommentar.
Dennoch ist so viel klar. Simson ist ein Nasiräer aber kein besonders würdiger. Als solcher ähnelt er dem Volk Israel: von Geburt an Gott geweiht, vergeudet er das Geburtsrecht und verliert die Kraft. Stell dir vor, was Simson mit Konzentration und Disziplin hätte erreichen können! Aber es kommt nicht viel dabei heraus; die Philister bleiben Israel bis in die Zeit Davids überlegen. Wie bei Israel: Gottes Macht ist unendlich, und doch leidet Israel, wird unterdrückt und geht schließlich ins Exil.
Vielleicht ist das der Punkt. Bei Simson gibt es keine Befreiung. Das System ist defekt; es geht so nicht weiter. Eine solche Deutung findet Bestätigung in den abschließenden Erzählungen in Richter 17-21. Sie stehen vermutlich aus diesem Grund ganz am Ende, obwohl sie chronologisch gesehen nicht hierher gehören: Die beschriebenen Ereignisse fanden früh in der Richterzeit statt, nicht spät.
Abschließende Erzählungen (Ri. 17-21)
Drei Fragen möchte ich zu Richter 17-18 besprechen:
- Wann
ist das passiert (der entscheidende Hinweis kommt kurz vor dem Ende in Kapitel
18)? - Was
tut Gott in dieser Erzählung? - Was
sind Hinweise, die uns den Standpunkt des Erzählers zeigen (d.h. was bewertet
er als positiv oder negativ)?
In Richter 18,30 wird gesagt, dass der Levit, um den es hier geht, Jonathan ist, der Sohn Gerschoms, des Sohnes des Mose. Das ist ein schockierendes Detail, das der Erzähler uns erst am Schluss mitteilt. Nur zwei Generationen nach Mose war die Lage in Israel schon dermaßen aus den Fugen geraten. Diese Ereignisse finden daher am Anfang der Richterzeit statt. Dazu passt die Tatsache, dass der Stamm Dan noch auf der Suche nach einem Erbe ist.
Die zweite Erzählung ist übrigens ebenfalls früh. Richter 20,28 erwähnt Pinhas, den Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, als Hohenpriester.
Was tut Gott in Richter 17-18? Die Antwort ist: nichts. Die Menschen reden von ihm, aber sie haben offensichtlich keine Ahnung von Gottes Geboten; es sind leere Worte. In Wirklichkeit ist Gott in dieser Erzählung abwesend und tut nichts. Eine erstaunliche Tatsache. Es gibt nicht viele Kapitel in der Bibel, in denen Gott untätig ist.
Erinnern wir uns daran, dass eine Erzählung schlichtweg berichtet, was passiert ist. Sie sagt nicht unbedingt aus, warum es passiert ist, oder ob es richtig oder falsch war, dass es passiert ist. Häufig muss man eigene Schlüsse ziehen. Aber in der ersten Erzählung ist es nicht schwer.
In Richter 17,2f wird Micha nach dem Diebstahl gesegnet. In 17,13 glaubt er fälschlicherweise, dass Gott ihn segnen wird, weil er einen Leviten zu seinem persönlichen Priester angestellt hat. Gott wird immer wieder erwähnt. Menschen reden vom Herrn, aber sein Charakter ist ihnen unbekannt und ihre Taten widersprechen ihm.
Wenn wir also schockiert sind, wie der Levit in der zweiten Erzählung (Kapitel 19-21) seine Konkubine behandelt, sollten wir uns daran erinnern, dass der Text uns nicht „richtig“ oder „falsch“ sagt. Das muss er nicht; es sollte offensichtlich sein.
Der Erzähler konzentriert sich auf den einen Punkt, den er klarmachen will. Offensichtlich lagen die Bedingungen in Israel weit, weit hinter den Standards Gottes zurück.
Die letzte Erzählung, in Richter 19-21, über die abscheuliche Sünde in Gibea erinnert an Sodom. Die Reaktion Israels ist die richtige, obwohl es Fehler im Prozess gibt (es gibt keinen zweiten Zeugen und keine Untersuchung). Trotzdem wird Israel zweimal besiegt. Und das Endergebnis ist ein Trümmerhaufen.
Der Erzähler ist sehr zurückhaltend bei der Abgabe von Kommentaren. Das macht die wenigen, die er macht, so wichtig. Es gibt einen wiederholten Satz in einer chiastischen Form: Damals gab es in Israel keinen König (Richter 17,6, 18,1, 19,1 und 21,25). Die erste und die letzte Erscheinung beinhalten den Zusatz, dass jeder das tat, was in seinen eigenen Augen richtig war. Das ist ein Schlüsselsatz für diese Erzählung und vielleicht für das ganze Buch Richter.
Das gesamte Gewicht der Zyklen sagt uns nicht nur, dass Israel versagt hat (und es hat kläglich versagt), sondern auch, dass diese Form der Theokratie als System versagt hat. Israel als Volk Gottes, das von Gott durch die Richter regiert wird, funktioniert nicht.
Also, was ist der Punkt?
Um was geht es denn? Oft wird die Ansicht geäußert: Wenn es nur eine zentrale Obrigkeit gegeben hätte, wäre es so viel einfacher gewesen, mit den Tätern umzugehen. Und es wäre vielleicht nie passiert. Wenn es doch nur einen König gegeben hätte… Dann wäre diese religiöse Anarchie nicht erlaubt gewesen, und es würde nicht das Recht der Stärksten gelten (wie Dan über Micha).
Die Theokratie funktionierte nicht. Was wäre eine Lösung? Ein König! Das Buch, so diese Auslegung, will für die Monarchie werben.
Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Die monarchischen Tendenzen und Ambitionen bei Richtern werden im Buch negativ bewertet (Gideon, Abimelech, die kleinen Richter mit ihren vielen Nachkommen, die auf Eseln reiten). Richter ist nicht naiv; die Monarchie wird die wirklichen Probleme kaum lösen können.
Die Fortsetzung der Geschichte gibt dem Buch recht. Ein König kam, Saul. Aber Saul scheiterte. David war gut, aber nicht perfekt. Salomo war anfangs auch gut, aber gegen Ende seines Lebens beteiligte er sich an Götzendienst. Nach ihm wurde das Scheitern des Königreichs schmerzhaft deutlich. Die Monarchie scheiterte genauso wie die Theokratie. Ein König bringt manche Verbesserung, löst aber das Grundproblem nicht.
Dennoch ist es die Idee des Königs, die Gott aufgreift, um zu offenbaren, wie seine Lösung für das Dilemma der Menschheit aussieht. In der Tat ein König und sogar ein Sohn Davids. Ein zentrales Thema in den Propheten werden der Samen und der Thron Davids sein. So weist das Buch Richter auf Jesus. Es ist nicht so, dass wir Jesus in jedem Detail sehen können. Die Richter deuten auf Jesus hin, indem sie uns die Notwendigkeit eines Erlösers und eines Königs zeigen, eines Königs, der in der Lage sein wird, den Kreislauf der Sünde im menschlichen Herzen zu durchbrechen. Und dieser König ist Jesus: ein vollkommener König, der von innen her regieren kann (und den Kreislauf der Sünde durchbricht).
Die Richter werden kaum als positive Beispiele angeführt, denen wir folgen können, außer vielleicht in ihrer Glaubenshaltung. Ich verwende hier durchgehend Bilder von Superhelden, aber ich hoffe, du hast die Ironie verstanden: Die Richter waren keine Superhelden. Der einzige Superheld im Buch ist Gott selbst. Und mit ihm kann jeder erstaunliche Dinge tun, das ist wahr.
Das Thema im Buch Richter ist nicht Führung, sondern die Kanaanisierung Israels und Gottes Umgang damit. Ähnliches kann uns ebenfalls passieren. Zum Beispiel wenn wir ein politisches oder nationales Programm als Teil unseres Glaubens annehmen. Die Christian Right in Amerika. Oder die christliche Linke. In der Vergangenheit: die deutschen Christen im Nationalsozialismus und die nationalen Kirchen Europas. Noch weiter zurück die Kirche unter Konstantin und in Byzanz.
Aber es ist immer einfacher zu sehen, wie es anderen passiert, in einer anderen Zeit oder in einem anderen Teil der Welt. Vielleicht sollte ich also nicht mit dem Finger auf diese Fälle zeigen, sondern fragen: Und wie lasse ich mich von den Götzen und Ideologien unserer Zeit vereinnahmen? Diese Frage ist viel schwieriger zu beantworten.
Insgesamt präsentiert uns Richter ein Porträt des menschlichen Versagens. Das Buch ist ein Spiegel. Es zeigt uns, wie wir sind (wir, nicht sie).
Wenn wir um uns schauen und die Menschheit sehen, kommt kaum Hoffnung auf. Wenn wir Gottes Geschichte betrachten, dann gibt es sie doch. Es gibt immer wieder Erlösung. Irgendwie geht es weiter. Gott ist treu; er gibt nicht auf.
Richter endet mit zwei längeren Erzählungen, die schockieren; sie sind schrecklich. Es gibt eine dritte Geschichte, die unmittelbar auf diese beiden folgt. Sie beginnt: „Zu der Zeit, als die Richter richteten“. Sie spielt in der gleichen dunklen Zeit, bietet aber eine hoffnungsvollere Geschichte – eine, die in eine bessere Zukunft führt.
Denn Gott gibt niemals auf.
Literaturangaben
Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe. 1999. (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
The Holy Bible: English Standard Version. 2001. (Wheaton, IL: Crossway Bibles)