In diesen wenigen Worten wird ein wichtiges Problem in der Auslegung des Buches Joel erfasst. Wie sollen wir den Text verstehen, wenn er von Heuschrecken und von einem Volk, von Soldaten und von Armeen spricht? Was ist hier wörtlich und was ist eineMetapher? Wurde Juda buchstäblich von einer Armee überfallen, die mit Heuschrecken verglichen wird? Oder wurde es von einer Heuschreckenplage überfallen, die mit einer einfallenden Armee verglichen wird?
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST
Die Struktur des Buches
Zunächst müssen wir die Struktur von Joel klären, damit wir uns auf den Teil des Buches konzentrieren können, in dem die Heuschrecken-Terminologie eine Rolle spielt. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Buch Joel zu unterteilen.
Die erste bezieht sich auf den Wendepunkt in Joel 2,18, wo Gott anfängt, auf die Bitten und die Umkehr seines Volkes zu antworten. In einem Großteil des Textes ab Joel 2,18 spricht Gott selbst in der Ich-Form. Der Inhalt ist vor allem ein Versprechen der Wiederherstellung, zu dem auch das Gerichtsurteil über die Nationen gehört, die Israel unterdrückt haben.
Die Alternative ist, das Buch in Joel 2,28 zu unterteilen. Bis 2,28 geht es um Ereignisse, die unmittelbar vor und nach dem Wirken des Propheten stattfanden, zu seiner Lebzeit. Der erste Teil von Gottes Verheißung der Wiederherstellung, Joel 2,19-27, betrifft die nahe Zukunft, mit Ausnahme eines einzigen Satzes, der zweimal erscheint: „Mein Volk soll nicht mehr zu Schande werden“ (Joel 2,26 und 27).
Aber beginnend in Joel 2,28 befasst sich das Buch mit der fernen Zukunft. Wir lesen von Dingen, die erst im Neuen Testament geschehen sind und zum Teil immer noch in der Zukunft liegen. Im Gegensatz zur ersten Hälfte des Buches enthält dieser Abschnitt eschatologische Prophetie (Eschatologie ist das Studium der Dinge, die mit dem Ende zusammenhängen). Teilweise mutet der Text „apokalyptisch“ an, nicht in dem Sinne, dass es sich um eine apokalyptische Vision wie Daniel oder die Offenbarung handelt, sondern in dem Sinne, dass der Text eine letzte, entscheidende und vollständige Intervention Gottes ankündigt, begleitet von gewaltigen kosmischen Umbrüchen, um das Böse zu stürzen und die Welt ein für allemal gerade zu rücken.
Die zwei Hauptthemen sind hier die Ausgießung des Geistes Gottes und das Konzept einer Endschlacht, in der Gott die Unterdrücker seines Volkes richtet und Israel befreit. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Armeen in der zweiten Hälfte des Textes Menschen sind, keine Heuschrecken. Ich werde mich hier nicht mit diesem Thema der letzten Schlacht befassen (siehe dazu „‚Die letzte Schlacht‘ und das Millennium I“), sondern mich auf die erste Hälfte von Joel konzentrieren, wo die Heuschrecken das Thema sind.
Die erste Hälfte des Buches besteht eindeutig ebenfalls aus zwei Teilen: einer Beschreibung und einem Aufruf in Kapitel 1 und einer zweiten Beschreibung mit einem weiteren Aufruf in Kapitel 2; der zweite Aufruf geht in die Verheißung von Befreiung und Wiederherstellung über, die in Joel 2,18 beginnt. Die Heuschrecken-Terminologie findet sich nur in den ersten beiden Kapiteln.
Hinweise im Text
Die Frage stellt sich, was die beiden Kapitel beschreiben, und ob es sich um zwei verschiedene Sachen oder um eine einfache Wiederholung handelt, in der das Gleiche ein weiteres Mal mit anderen Worten gesagt wird. Es ist denkbar, dass das erste Kapitel eine echte, buchstäbliche Heuschreckenplage beschreibt, wie Joel sie erlebt hat, dass diese Plage aber im zweiten Kapitel als Bild für eine militärische Invasion verwendet wird, die, zur Zeit als Joel schrieb, noch in der Zukunft lag. Dann würde es vermutlich um die Assyrer oder vielleicht die Babylonier gehen (obwohl nur die assyrischen Truppen 701 v. Chr. geschlagen und aus dem Land Juda vertrieben wurden).
Ein Beleg im Text, der zu dieser Erklärung passt, ist der Hinweis auf „den Feind aus Norden“ in Joel 2,20. Heuschreckenschwärme haben ihren Ursprung in Afrika und kommen daher meist aus dem Süden oder Osten, nicht aus dem Norden. Aber wenn es um Assyrien und Babylon ging, verkündeten die Propheten oft, dass sie aus dem Norden kamen. Genau genommen lagen sowohl Assyrien als auch Babylon östlich von Israel. Wegen der dazwischen liegenden arabischen Wüste würden die mesopotamischen Armeen jedoch normalerweise zuerst nach Nordwesten ziehen, um von Norden her durch den Libanon einzufallen.
Ich sehe aber keine weiteren Belege im Text, die in diese Richtung weisen. Dies gilt sogar für die Fortsetzung von Joel 2,20, wo die eindringende „Armee“ in die Wüste, das Mittelmeer und das Tote Meer getrieben wird, um zu sterben. Es ist einfacher vorstellbar, dass dies mit Heuschrecken geschieht als mit Soldaten. Alles andere im Kapitel 1 und 2 deutet ebenfalls auf Heuschrecken hin.
Die Heuschrecken erscheinen zum ersten Mal in Joel 1,4; hier werden vier verschiedene hebräische Wörter verwendet, um sie zu beschreiben. Genau die gleichen vier Wörter tauchen in Joel 2,25 wieder auf; da werden sie zusätzlich als Gottes „großes Heer“ bezeichnet. Was sie jedoch mit dem Land tun, sowohl in 1,4 als auch in 2,25, ist, die Vegetation und die Ernte zu fressen – und nicht die Bewohner zu töten. Im Kapitel 1 und 2 zerstören sie das Land, als würde ein Feuer durchziehen, aber es heißt nie, dass sie jemanden töten. Hier handelt es sich um wirkliche Heuschrecken.
Joel 1,6 bezeichnet sie zwar als „ein Volk“, aber es hat Zähne wie Löwenzähne und frisst die Rinde von Weinstock und Feigenbaum (Joel 1,7). Das Land und die Ernte werden zerstört, aber die Menschen leben.
Ändert sich das in Kapitel 2? In Joel 2,2 kommt „ein großes und mächtiges Volk“ und in Joel 2,7-8 greifen sie „wie Helden“ und „wie Krieger“ an. Sie bewegen sich in guter Ordnung wie eine professionelle, ausgebildete Armee. Daraus folgt jedoch, dass es sich nicht um Soldaten handelt, weil man eine Armee nicht mit einer Armee vergleichen würde. Und abermals ist es das Land, das zerstört wird, nicht das Volk: vorher „wie der Garten Eden“, nachher „wie eine wüste Einöde“ (Joel 2,3).
Interessanterweise erklärt Joel nie, die Angreifer würden sich wie Heuschrecken verhalten; ein solcher Ausdruck fehlt im Buch – denn sie sind Heuschrecken!
Sie werden sich stürzen auf die Stadt und die Mauern erstürmen, in die Häuser steigen sie ein, wie ein Dieb kommen sie durch die Fenster. (Joel 2,9)
Stimmt, es ist möglich, diese Aussage als Hyperbel, als eine Übertreibung zu interpretieren, die eine Armee beschreibt, die eine Stadt stürmt. Aber wenn Heuschrecken unterwegs sind und eine Stadt ihnen im Weg steht, beschreibt der Vers genau, wie sich Heuschrecken verhalten werden – vor allem dann, wenn es sich um eine neue Generation handelt, vor kurzem geschlüpft, noch nicht voll entwickelt und daher noch nicht im Stande zu fliegen.
In diesem Fall beschreiben die Kapitel 1 und 2 in der Tat unterschiedliche Dinge, anstatt sich mit anderen Worten zu wiederholen, nämlich zwei aufeinanderfolgende Phasen einer Heuschreckenplage. Die erste Welle kam durch die Luft, zerstörte das Land und ließ ihre Eier zurück. Sobald die Larven geschlüpft waren, begann die zweite Welle. Sie bewegte sich zu Fuß und zerstörte die sich erholende Vegetation, bis die Heuschrecken so weit entwickelt waren, dass sie fliegen konnten; dabei verdunkelten sie buchstäblich Sonne und Mond, wie in Joel 2,10 erwähnt.
Externe Bestätigung: National Geographic 1915
Dass dies die richtige Art ist, Joel zu verstehen, findet eine faszinierende Bestätigung in einem Artikel von John D. Whiting, der im Dezember 1915 im National Geographic Magazine erschien. Gescannte Bilder des Artikels befinden sich hier, in einem Google Drive-Ordner. Der Artikel beschreibt eine Heuschreckenplage, die Anfang 1915 Palästina heimsuchte. Er entspricht der Beschreibung in Joel bis in die Details, einschließlich der überraschenden Beobachtung, dass dieser Schwarm aus dem Nordosten, nicht aus dem Süden, nach Palästina kam.
Bald nach ihrer Ankunft legten die Heuschrecken Eier in den Boden und starben. Der Artikel beschreibt, wie die jungen Heuschrecken schlüpften und die Heuschrecken, zunächst flügellos, ihren Marsch begannen und die Felder von allem Grünen beraubten. Wie bei Joel wurden sie nicht durch Mauern oder andere Hindernisse aufgehalten: „Wo sie auf dem Land eine Katastrophe darstellten, waren sie in den Häusern unerträglich, indem sie an den Wänden hochkrochen und sich durch Risse geschlossener Türen oder Fenster hinein drängten und die inneren Wohnräume betraten“ (Whiting 1915: 533).
Nach einigen Wochen durchliefen die Heuschrecken ihre letzte Metamorphose und konnten danach fliegen. Schließlich trug der Westwind sie in die Wüste und in das Tote Meer, wo viele starben. Der daraus resultierende Gestank war schrecklich.
Fazit
Offensichtlich gibt es somit eine bessere Erklärung für die Beziehung zwischen Joel 1 und Joel 2 als für das erste Kapitel eine Heuschreckenplage und für das zweite den Einfall einer Armee anzunehmen. Beide Kapitel beschreiben eine Heuschreckenplage, aber es gibt eine Weiterentwicklung. Die beiden Kapitel beschreiben zwei verschiedene Phasen in der Entwicklung einer solchen Plage.
Joel beschreibt keine Armee von „Heuschrecken“, sondern eine „Armee“ von Heuschrecken.
Mehr
Der Artikel in National Geographic ist in diesem Google Drive-Ordner verfügbar; jede Seite ist ein separates gescanntes Bild (JPEG-Format):
https://drive.google.com/open?id=1koGBlissraf6bHcGbxHoOF7oVYxJrLZ3
Diese zwei Videoclips mit BBC-Material zeigen und erklären die Entstehung eines Heuschreckenschwarms:
Attribution
CSIRO. 31. Juli 2007. “Plague Locusts on the Move” <https://www.scienceimage.csiro.au/image/7007> (CC BY 3.0)
Kooyman, Christiaan. 1994. “Desert locust (Schistocerca gregaria) laying eggs during the 1994 locust outbreak in Mauritani” <https://en.wikipedia.org/wiki/File:SGR_laying.jpg> (Public Domain)
Literaturangaben
Bibelzitate: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Whiting, John D. 1915. ‘Jerusalem’s Locust Plague’, National Geographic Magazine, 28 (December), 511-50