Ich hätte das Buch früher lesen sollen. Es liefert entscheidende Hintergrundinformationen über das Leben der Frau im ersten Jahrhundert nach Christus. Dabei beleuchtet es mehrere schwierige und kontroverse Passagen des Neuen Testaments. Ich spreche von Bruce Winters Roman Wives, Roman Widows: The Appearance of New Women and the Pauline Communities (übersetzt: Römische Frauen, römische Witwen: Das Erscheinen der neuen Frauen und die Paulusgemeinden), das 2003 veröffentlicht wurde.
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST
Bruce Winters lebenslange Leidenschaft ist es, eine Brücke zwischen dem Studium der klassischen Antike, also der Welt des antiken Griechenlands und Roms, und dem Studium des Neuen Testaments zu schlagen. Man sollte meinen, dass dies eine offensichtliche Verbindung ist, wenn man bedenkt, dass die griechisch-römische Welt den Schauplatz und Hintergrund des NT bildet. Doch Winter stellte fest, dass die Bibelwissenschaftler oft die Entwicklungen und Entdeckungen ihrer Kollegen in den Instituten und Abteilungen für klassische Studien nicht kennen. In seinen Schriften stellt er daher relevante Informationen vor und wendet sie auf das Gebiet der Bibelwissenschaft an.
Im letzten November habe ich über den 1. Korintherbrief unterrichtet und mich deshalb – wieder einmal – mit dem Thema der Kopfbedeckung in 1. Korinther 11 auseinandersetzen müssen. Um Genaueres zu erfahren, habe ich Winters Buch gelesen. Es geht darin um Fragen wie: Was wurde als normal oder anständig angesehen? Was machten die Korinther (oder zumindest einige ihrer Frauen) anders? Und warum? Wer waren diese „neuen Frauen“? Was an ihnen war neu? Und wie reagierten die römischen Behörden?
Respektable römische Frauen
Wir stehen auf relativ festem Boden, wenn es um die Norm geht. In der Öffentlichkeit trugen verheiratete römische Frauen mit ausreichendem Status normalerweise eine Kopfbedeckung, die den größten Teil ihrer Haare, aber nicht ihr Gesicht bedeckte. Von einem Schleier zu sprechen, kann daher einen falschen Eindruck hinterlassen. Sie trugen auch, besonders wenn sie zur Oberschicht gehörten, eine Stola, ein aufwendiges Kleidungsstück, das Prostituierte und untreue Ehefrauen nicht tragen durften (Winter 2003: 84).
Offizielle römische Statuen der Kaiserin Livia, der Gemahlin des Kaisers Augustus, spiegeln diesen Standard der Sittsamkeit in der Kleidung deutlich wider (siehe Abbildung). Wie Bruce Winter (2003: 80) es ausdrückt: „Der verschleierte Kopf war das Symbol für die Bescheidenheit und Keuschheit, die von einer verheirateten Frau erwartet wurde“.
Diese Vorstellung weiblicher Tugenden geht weit zurück. Sie unterscheidet sich kaum von dem, was die alten Griechen von ihren Frauen erwarteten. Vieles davon könnte man in einem Wort zusammenfassen: Sophrosyne. „[S]ophrosyne wird mit ‚Mäßigung‘ übersetzt, aber es bedeutet auch Keuschheit und Selbstbeherrschung. Sophrosyne war die herausragende Tugend der griechischen Frau; sie wird häufiger als jede andere Eigenschaft auf Frauengrabsteinen erwähnt” (Pomeroy 1990: 70, zitiert in Winter 2003: 73).
Hetairai und Pornai
Es gab also eine „Kleiderordnung für respektable verheiratete Frauen“ ebenso wie eine für Prostituierte. „Die römische Rechtsprechung unterschied sie anhand ihres Aussehens, das durch Kleidung und Schmuck definiert war“ (Winter 2003: 4). Die Menschen konnten an ihrer Kleidung erkannt und kategorisiert werden. „In der klassischen Antike war man das, was man trug“ (McGinn 2003: 162, zitiert in Winter 2003: 4f).
Es gab zwei Arten von Prostituierten. Pornai waren gewöhnliche Prostituierte, die auf der Straße oder in Bordellen arbeiteten. Hetairai waren teure, auf die Oberschicht spezialisierte Prostituierte oder Kurtisanen. Sie waren oft gebildet und leisteten nebst sexuellen Gefälligkeiten auch Gesellschaft. Typischerweise wurden sie zu festlichen Anlässen der Oberschicht eingeladen und nahmen an diesen teil.
Weder hetairai noch pornai würden eine Kopfbedeckung oder eine Stola tragen. Insbesondere die hetairai zeichneten sich aus durch die üppige Verwendung von Schmuck, Gold, Perlen und Kosmetika sowie durch aufwendige Frisuren. Man war das, was man trug, und das war auf den ersten Blick ersichtlich.
Die „Neuen Frauen“
Schon vor Beginn des ersten Jahrhunderts n. Chr. begann sich die Position und der Status der Frau zu verändern. Vor allem Frauen aus der Oberschicht und solche mit finanziellen Mitteln genossen ein neues Maß an Möglichkeiten, und einige von ihnen begannen, sich mehr Freiheiten zu nehmen. Dazu gehörte auch die sexuelle Freiheit. Einige legten alle Zwänge ab und nahmen einen Lebensstil der Promiskuität an, auch wenn sie verheiratet waren. Sie waren „eine neue Art von Ehefrauen, deren Lebensstil sich erheblich von dem traditionellen Bild der sittsamen Ehefrau unterschied“ (Winter 2003: 4). Ihr Einfluss beschränkte sich nicht auf Rom; sie fanden in anderen Städten des Reiches Nachahmung.
Wir sollten die neuen Frauen nicht als Form oder Vorläuferin des modernen Feminismus betrachten. Es ging nicht um Rechte oder eine gerechtere Behandlung von Frauen. Die Idee der Befreiung war die totale Ablehnung aller Beschränkungen, einschließlich derer, die die meisten Menschen als vernünftig und sinnvoll ansehen würden. Sie förderte nicht die Emanzipation, sondern einen exzessiven und oft sexuellen Hedonismus.
Parallel dazu zögerten junge Männer der Oberschicht (bestehend aus Patriziern und equites oder Rittern) zunehmend das Heiraten und das Kinderkriegen hinaus, zum Teil lebenslang. Rom war von dieser Oberschicht abhängig: Aus ihr rekrutierte sich die militärische und sonstige Führung des Römischen Reiches. Die männliche Zurückhaltung bei der Nachkommenschaft stellte daher eine langfristige Bedrohung für die Stabilität des Reiches dar; die Geburtenrate war zu niedrig. Die Verfügbarkeit von Frauen außerhalb der Ehe half nicht.
Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, reagierte Kaiser Augustus mit einer neuen Gesetzgebung.
Römisches Recht
Bereits 17 v. Chr. führte Augustus eine umfangreiche Gesetzgebung zur Unterstützung der Ehe und gegen sexuelle Zügellosigkeit ein. Darin „verordnete er moralisches Verhalten, finanzielle Nachteile für die, die Single blieben, die Zeugung von Kindern mit daraus resultierenden Karrierevorteilen und eine Kleiderordnung für Ehefrauen; er verbot die Heirat zwischen bestimmten Klassen und bestrafte die Untätigkeit von Ehemännern, die die außerehelichen Liaisons ihrer Frau ignorierten“ (Winter 2003: 39).
Die Strafen waren hart. Übertreter konnten die Hälfte ihres Besitzes verlieren und in die Verbannung geschickt werden. Ehebrecherische Ehefrauen durften die eheliche Kopfbedeckung nicht tragen. Ein Ehemann musste innerhalb von 60 Tagen ein Verfahren gegen seine untreue Frau einleiten; auch die Duldung von Ehebruch war ein Verbrechen (ebd.: 42).
Die Kleiderordnung war übrigens stark im römischen Recht verankert. Wenn eine Frau die eheliche Kopfbedeckung nicht trug und daher wie eine Prostituierte aussah, war der Mann, der unwissentlich Ehebruch mit ihr beging, nicht haftbar (ebd.: 83). Sie war, was sie trug.
Männer der Oberschicht ohne Kinder sahen sich mit Konsequenzen im Erbrecht und bei Karrierechancen konfrontiert. Diejenigen mit Kindern wurden schneller befördert (ebd.: 48f). Es erwies sich jedoch als schwierig, junge Männer zur Heirat zu drängen (ebd.: 53f).
Im Jahre 9 nach Christus wurden Änderungen vorgenommen. Die maximale Dauer einer Verlobung wurde auf zwei Jahre begrenzt. Mädchen durften sich erst ab 10 Jahren verloben. Sie durften schon mit 12 Jahren heiraten. Damit sollte verhindert werden, dass junge Männer sich mit sehr jungen Mädchen verlobten und viele Jahre lang verlobt blieben, um Heirat und Kinder zu vermeiden, damit sie ihre Freiheit genießen konnten (ebd.: 54).
Auch die Statuen der Kaiserin Livia, die sie, wie oben dargestellt, als ideale Ehefrau und Mutter darstellen, sollten dieser Entwicklung entgegenwirken. Mit wenig Erfolg, wie es scheint, denn die eigene Tochter des Augustus, Julia, war ein Paradebeispiel für die neuen Frauen. Im Jahr 2 v. Chr. wurde sie wegen ihres zügellosen Ehebruchs und ihrer sexuellen Freizügigkeit verbannt. Mehrere ihrer Liebhaber wurden ebenfalls verbannt.
Die Kopfbedeckung in 1. Korinther 11
Jetzt kommen wir zu 1. Korinther 11. Wir sollten uns bewusst sein, dass Korinth zu dieser Zeit eine römische Stadt war. Nach seiner Zerstörung 146 v. Chr. wurde es 44 v. Chr. von Julius Cäsar als römische Kolonie und als Standort für die Ansiedlung seiner Veteranen wiederaufgebaut. Obwohl zur Zeit des Paulus viele Einwohner der Stadt Griechen waren, folgte Korinth im Großen und Ganzen eher römischen Bräuchen und römischem Recht. Während die Sprache auf der Straße zweifellos hauptsächlich Griechisch war, ist die große Mehrheit der Inschriften, die in Korinth gefunden wurden, interessanterweise in Latein geschrieben.
Bruce Winter schließt daraus, dass die Bewegung der neuen Frauen „die Interpretation unterstützt, dass die Frauen, die mit unbedecktem Kopf in der christlichen Versammlung beteten und prophezeiten, die Haltung und das Verhalten der ‚neuen‘ Ehefrauen nachbildeten. Als Christen setzten sie sich über die traditionelle kaiserliche und korinthische Norm für Ehefrauen hinweg“ (Winter 2003: 77).
Aufgrund der gesetzlichen Kleiderordnung ließ das Entfernen der Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit eine Frau „wie die promiskuitive verheiratete Frau aussehen …, denn das Fehlen des Schleiers war ein unübersehbares Signal. Das war nach den Maßstäben des ersten Jahrhunderts nicht richtig“ (ebd.: 93). Schlimmer noch: „Die Art und Weise, wie sich Frauen in der Öffentlichkeit kleideten, sandte klare Signale an die Männer; sie präsentierten sich dabei entweder als schamlose oder als promiskuitive Frauen“ (ebd.: 108). Mit anderen Worten, ob es ihre Absicht war oder nicht, sie signalisierten, dass sie (sexuell) verfügbar waren. Sie waren, was sie trugen.
1. Timotheus 2
Die Hintergrundinformationen, die in Winters Buch präsentiert werden, beleuchten auch 1. Timotheus 2. Die Frauen, die damals in der Gemeinde in Ephesus Ärger machten, ließen sich wohl ebenfalls von den neuen Frauen inspirieren; sie kleideten sich (und einige von ihnen verhielten sich vielleicht auch) wie hetairai:
So will ich nun, dass die Männer beten an allen Orten und aufheben heilige Hände ohne Zorn und Zweifel. Desgleichen, dass die Frauen in schicklicher Kleidung sich schmücken mit Anstand und Zucht [sophrosyne], nicht mit Haarflechten und Gold oder Perlen oder kostbarem Gewand, sondern, wie sich‘s ziemt für Frauen, die ihre Frömmigkeit bekunden wollen, mit guten Werken. (1. Tim. 2,8-10)
Damit verkündet Paulus nicht das Verbot jeglichen Schmucks und der Verwendung von Kosmetik, sondern er spricht sich dagegen aus, dass christliche Frauen sich wie Prostituierte (oder ehebrecherische Ehefrauen) kleideten.
Anders als das Tragen einer Kopfbedeckung ist diese Aussage nicht kulturell bedingt und gilt auch heute noch!
Anhang: 1. Korinther 11,10
Was folgt, führt etwas vom Thema weg, ist aber so wichtig, dass ich es nicht übergehen möchte. Genau in der Mitte der Abhandlung über die Kopfbedeckung in 1. Korinther 11 steht die Schlussfolgerung des Paulus, seine eigentliche Aufforderung. Der Satz sagt genau das aus, was er von den Korintherinnen fordert. Es ist aber keineswegs das, was wir von Paulus an dieser Stelle erwarten; die Aussage ist darüber hinaus schwer zu verstehen. Was es noch schlimmer macht: Der Vers wird meistens falsch übersetzt.
Was wir erwarten würden, basierend auf der Argumentation im Rest des Textes, ist: „Darum sollte die Frau (oder Ehefrau) eine Kopfbedeckung tragen“ (das zusätzliche Rätsel, was „um der Engel willen“ bedeutet, lasse ich hier außer Betracht).
Was wir aber finden, ist (Luther 1984): „Darum soll die Frau eine Macht auf dem Haupt haben“. Nicht selten wird aus „Macht“ ein Zeichen oder Symbol der Autorität, wie zum Beispiel in der English Standard Version (ESV): „That is why a wife ought to have a symbol of authority on her head“.
Im griechischen Original gibt es aber kein Wort für Zeichen oder Symbol; es gibt nur das Wort Autorität. Das ist überraschend, da Paulus vorher offensichtlich von einer Art sichtbarer Kopfbedeckung spricht. Die ESV und zahlreiche andere Übersetzungen interpretieren Autorität hier deswegen als Metonymie, ein Begriff, der für einen anderen Begriff, in diesem Fall die Kopfbedeckung, steht und ihn interpretiert. Die Kopfbedeckung wird dann als ein Zeichen verstanden, dass eine Frau unter der Autorität ihres Mannes steht: deshalb sollte sie ein solches Zeichen (d.h. eine Kopfbedeckung) tragen.
Gegen diese Interpretation spricht nicht nur das Fehlen eines Wortes, das Symbol bedeutet. Wir haben schon festgestellt, dass die Bedeutung der Kopfbedeckung eine andere ist: Sie symbolisiert die Bescheidenheit und Sittsamkeit der Frau. Das Wort Autorität wird immer in einem aktiven Sinne verwendet. Es ist etwas, das man hat und ausüben kann. Außerdem ist der griechische Text ganz klar: Sie hat nicht Autorität auf dem Haupt („on her head“), sondern sie hat Autorität über ihr Haupt („over her head“).
Die Frau hat Autorität über ihr Haupt; sie trägt die Verantwortung für sich. So überraschend das auch sein mag, das ist es, was Paulus sagt.
Eine bessere Übersetzung wäre somit: „Darum sollte die Frau Autorität über ihr Haupt haben“.
Es mag sein, dass Paulus an dieser Stelle ein korinthisches Argument zugesteht, in dem Sinne, „ja, eine Frau hat Autorität über ihr Haupt, aber…“ Meiner Meinung nach sagt Paulus den Frauen eher, dass sie die Autorität über ihr Haupt übernehmen und ausüben sollen, aber dass sie dies auf die richtige Art und Weise tun sollen, nicht in Unabhängigkeit, sondern mit Rücksicht auf andere, besonders auf ihre Ehemänner.
Die erstaunliche Tatsache bleibt, dass Paulus ihre Autorität nicht abstreitet, sondern anerkennt; er will nur, dass sie sie verantwortungsvoll nutzen. Die Verantwortung – und die Autorität – liegt aber bei ihnen.
Bildnachweis (der Reihe nach)
Mortel, Richard. 2016. “Livia Drusilla, wife of Augustus and mother of Tiberius, d. 19 CE, National Archeological Museum, Madrid (1) (29074219390).jpg” <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Livia_Drusilla,_wife_of_Augustus_and_mother_of_Tiberius,_d._19_CE,_National_Archeological_Museum,_Madrid_(1)_(29074219390).jpg> [Accessed 8 January 2020] CC BY 2.0
Garcia, Luis. 2006. “Livia Drusila – Paestum (M.A.N. Madrid) 01.jpg” <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Livia_Drusila_-_Paestum_(M.A.N._Madrid)_01.jpg> [Accessed 7 January 2020] Public Domain
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Tetraktys. N.d. “Matronalivia2.jpg” <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Matronalivia2.jpg> [Accessed 8 January 2020] CC BY-SA 3.0
Literaturangaben
Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
The Holy Bible: English Standard Version. 2001 (Wheaton, IL: Crossway Bibles)
McGinn, Thomas A. J. 2003. Prostitution, Sexuality, and the Law in Ancient Rome (Oxford University Press)
Pomeroy, Sarah B. 1990. Women in Hellenistic Egypt: From Alexander to Cleopatra (Detroit, MI: Wayne State University Press)
Winter, Bruce W. 2003. Roman Wives, Roman Widows: The Appearance of New Women and the Pauline Communities (Grand Rapids, MI: W. B. Eerdmans)
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