1. Korinther: Ist Paulus auch unter den Rhetorikern?

Gelegentlich stoße ich auf eine neue Information, die ein helles neues Licht auf etwas Altbekanntes wirft. Sie ermöglicht mir, Zusammenhänge zu sehen, die vorher unsichtbar blieben. Mit anderen Worten, es kommt zu einem Aha-Erlebnis: Plötzlich ergibt etwas einen tieferen Sinn.

Dies passierte mir, als ich mich darauf vorbereitete, über den 1. Korintherbrief zu unterrichten und Ben Witheringtons Conflict and Community in Corinth: A Socio-Rhetorical Commentary on 1 and 2 Corinthians [Konflikt und Gemeinschaft in Korinth: Ein sozial-rhetorischer Kommentar zu 1. und 2. Korinther] konsultierte. Um mein Moment der Erleuchtung zu erklären, muss ich ein paar Schritte zurückgehen.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST

Die Rhetoriker in der Antike

Über die Bedeutung der Rhetorik in der Welt der Antike habe ich erstmals im April 2015 geschrieben (CALS 12). Beim Studium des NT ist es immens hilfreich, etwas über diese Rhetorik zu wissen. Eines ihrer Merkmale ist die Verwendung von sechs Bausteinen (Exordium, Narratio, Propositio, Probatio, Refutation, Peroration). Nicht alle müssen in jeder Rede erscheinen, aber jede Rede ist aus mehreren dieser Elemente aufgebaut.

Besonders hilfreich ist es, die Propositio oder die These zu erkennen. Darin sagt der Redner, was er belegen oder erreichen will. Ein klares Beispiel ist Römer 1,16f, wo Paulus sein Thema abgrenzt. Wer sich eingehend mit dem Römerbrief beschäftigt hat, wird nicht überrascht sein, dass Römer 1,16f seine These darstellt. Das meiste von dem, was Paulus im Römer bespricht, passt genau hinein: Es geht aus seiner propositio hervor und unterstützt sie.

Die Propositio des 1. Korintherbriefes

Was ist also die Propositio des 1. Korintherbriefes? Es ist mir etwas peinlich: Ich hatte sie sogar in der vorhin genannten Ausgabe von CALS erwähnt, aber ich hatte das völlig vergessen. Es ist mir damals nicht klar gewesen, wie hilfreich die Propositio für das Verständnis des Briefes ist und in welchem Maße sie die verschiedenen Fäden und Themen im Brief zusammenhält.

Die Vielfalt im 1. Korintherbrief ist offensichtlich. In keinem anderen Brief behandelt Paulus ein so breites Spektrum von Themen. Aber verbindet diese Themen? Hier ist eine Liste der Hauptthemen im 1. Korintherbrief:

  • Spaltungen, Weisheit und Mitarbeiter Christi (1. Korinther 1,18-4,21)
  • Ein Fall von Sittenlosigkeit, Gerichtsverfahren zwischen Gemeindemitgliedern und der Besuch von Prostituierten (1. Korinther 5,1-6,20)
  • Die Ehe (1. Korinther 7,1-40)
  • Götzenopfer und Fleisch (1. Korinther 8,1-11,1)
  • Kopfbedeckung (Thema des letzten Monats; 1. Korinther 11,2-16)
  • Das Abendmahl (1. Korinther 11,17-34)
  • Geistesgaben (1. Korinther 12-14)
  • Die Auferstehung (1. Korinther 15)
  • Eine Geldsammlung (1. Korinther 16,1-12)

Eine Möglichkeit, den Zusammenhang im Brief zu finden, ist die Suche nach einer gemeinsamen Wurzel, die den verschiedenen Problemen zugrunde liegt. Zum großen Teil gibt es eine solche Wurzel: Die Korinther leben noch immer nach griechischen und römischen Wertvorstellungen. Sie verstehen das Evangelium als eine Form der Weisheit und die Prediger des Evangeliums als Rhetoriker. Sie beurteilen diese Redner nach den Kriterien ihrer Umwelt: Inhalt ist bestenfalls zweitrangig; wichtig ist eine schöne Form und Redegewandtheit (so gemessen machte Paulus keine gute Figur). Diejenigen in der Gemeinde, die einen höheren sozialen Rang innehaben, gehen davon aus, dass ihnen alle Privilegien zustehen, die mit diesem Rang in der römischen Welt einhergingen. Sie streben nach Status und Anerkennung, im offenen Wettbewerb mit anderen. Deshalb rühmen sie sich ihrer Leistungen. Nichts davon hätte einen Bewohner von Korinth überrascht.

Es gibt also eine gemeinsame Wurzel, die die Themen miteinander verbindet. Aber was ist das Verbindende in der Antwort, die Paulus gibt? Hakt er einfach ein Thema nach dem anderen ab? Wie ich Paulus kenne (und die Rhetorik der antiken Welt), ist das unwahrscheinlich. Außerdem teilt er uns mit, was er mit diesem Brief vorhat:

Ich ermahne euch aber, liebe Brüder, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr alle mit einer Stimme redet und lasst keine Spaltungen unter euch sein, sondern haltet aneinander fest [oder: lasst euch vereinen, vervollständigen, wiederherstellen] in einem Sinn und in einer Meinung [oder: Absicht, Ziel]. (1. Korinther 1,10)

Paulus hat viele Themen, aber nur ein Ziel.

Beweisführung

Als ich die Propositio erkannte, wurde mir sofort klar, wie zielstrebig Paulus in seinem ganzen Brief vorgeht, trotz der vielfältigen Themenauswahl. Das war mein Aha-Erlebnis.

Normalerweise besteht der größte Teil einer Rede aus der Probatio, der Begründung der Propositio. Dieser Abschnitt beginnt in 1. Korinther 1,18 und geht bis zur Mitte des Kapitels 16. Wenn man sich die Liste der oben aufgeführten Themen anschaut, ist es nicht schwierig, die Verbindungen zum von Paulus gesetzten Ziel zu erkennen.

Die Korinther sind offensichtlich gespalten und in vielen Fragen überhaupt nicht gleicher Meinung. Es gibt „Eifersucht und Zank“ (1. Kor. 3,3); sie rühmen sich (1. Kor. 4,7; 5,6) und sind arrogant oder, wörtlich, aufgeblasen (vom Verb schnaufen oder tief atmen: viel Luft aber wenig Substanz; 1. Kor. 4,6, 18f; 5,2; 8,1; 13,4). Einige gegen sogar gerichtlich gegen einander vor (1. Kor. 6).

Paulus verwendet die Analogie des menschlichen Körpers für die Gemeinde öfter in seinen Briefen, aber nie so ausführlich wie im 1. Korintherbrief. Der Grund liegt auf der Hand: Keine andere Gemeinde funktioniert weniger wie ein Körper!

Im Zuge seines Versuchs, diese Mängel zu korrigieren, führt Paulus einen weiteren Begriff ein für das, was er will. Das Wort wird erstmals in 1. Korinther 8,1 verwendet: die Liebe. In 1. Korinther 13 wird die Liebe zum Hauptthema. Alles, was die Korinther so sehr schätzen, wie das Sprachengebet (die Zungenrede), Rhetorik und Prophetie, bedeuten nichts ohne Liebe. Liebe ist das Gegenstück zu ihrer Prahlerei, Arroganz usw. (1. Kor. 13,4f).

In seinem letzten und abschließenden Appell fasst Paulus seine Absicht so zusammen: „Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen“ (1. Kor. 16,14). Wenn die Korinther dies tun, werden sie die Aufforderung des Paulus in 1 Korinther 1,10 erfüllen.

Eine direkt anschließende, sehr praktische Aufforderung dient dem gleichen Zweck: Paulus drängt die Korinther, sich Stephanas und anderen Vorstehern in der Gemeinde unterzuordnen (1. Kor. 16,15-18). Auch dies wird dazu beitragen, die Einheit in dieser gespaltenen Gemeinschaft wiederherzustellen.

Paulus hat in diesem Brief somit tatsächlich viele Themen, aber nur ein Ziel.

Die Narratio (1. Korinther 1,11-17)

Das Exordium und die Narratio, zwei weitere Standardelemente der klassischen Rhetorik; sie zu erkennen und zu beachten ist ebenfalls hilfreich. Ich schließe mit einem Blick auf diese beiden Elemente. Die Narratio ist eine kurze Erzählung, die Fakten des Geschehens aufzeigt und so in das inhaltliche Thema der Rede einführt. Nicht selten wird dabei ein Zeuge zur Unterstützung zitiert. Im 1. Korintherbrief sind es die „Leute der Chloe“ (1. Kor. 1,11; so Witherington 1995: 99). Sie haben Paulus mit entscheidenden Informationen über das, was in der Gemeinde vor sich geht, versorgt.

In der Narratio erinnert Paulus an das, was er tat (oder besser gesagt, nicht tat), als er bei ihnen war. Die Korinther haben Paulus selbst und Apollos in den Mittelpunkt gestellt, zusammen mit „Weisheit der Worte“ (so wörtlich 1. Kor. 1,17). Das Ergebnis ist Uneinigkeit und Streit.

Auf diese Weise bietet uns die Narratio die Hintergrundinformationen, um das Problem und damit die Propositio zu verstehen.

Das Exordium (1. Korinther 1,4-9)

Das Exordium ist die Einleitung einer Rede. Als solches zielt es darauf ab, eine positive Beziehung zum Publikum herzustellen. Zumindest muss man ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse erreichen; besser ist es, wenn möglich, auch ihre Sympathie und ihr Vertrauen zu gewinnen. Das lässt sich erreichen durch die Darlegung der Kompetenz, durch das Reden über gemeinsame Werte oder Überzeugungen oder durch Lob oder Schmeichelei, also indem man sich positiv über das Publikum äußert. Paulus wählt hier die letzterwähnte Möglichkeit, und zwar in Form eines Dankgebets:

Ich danke meinem Gott allezeit euretwegen für die Gnade Gottes, die euch gegeben ist in Christus Jesus, dass ihr durch ihn in allen Stücken reich gemacht seid, in aller Lehre und in aller Erkenntnis. Denn die Predigt von Christus ist in euch kräftig geworden, sodass ihr keinen Mangel habt an irgendeiner Gabe und wartet nur auf die Offenbarung unseres Herrn Jesus Christus. Der wird euch auch fest erhalten bis ans Ende, dass ihr untadelig seid am Tag unseres Herrn Jesus Christus. Denn Gott ist treu, durch den ihr berufen seid zur Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn. (1. Kor. 1,4-9; Hervorhebung hinzugefügt)

Erinnern wir uns daran, dass die Korinther von Rhetorik, Weisheit und geistlichen Gaben besonders angetan waren. Paulus kritisiert das nicht. Im Gegenteil, er erkennt an, dass Gott sie tatsächlich in eben diesen Dingen reich gemacht hat: Lehre (wörtlich heißt es Rede), Erkenntnis und Gaben (Markierung im Text: kursiv, ohne Unterstreichung).

Aber zu jedem Lob fügt Paulus etwas hinzu (Markierung im Text: fett). Damit relativiert er all das, worauf die Korinther so stolz waren, und zeigt auf, um was (oder um wen) es eigentlich gehen sollte:

  • Die
    Gnade Gottes war ihnen gegeben – in Christus Jesus.
  • Sie
    waren reich gemacht in aller Lehre und in aller Erkenntnis – in ihm.
  • Es mangelte
    ihnen an keiner Gabe – weil die Predigt von Christus in ihnen kräftig geworden
    war; sie warteten allerdings auf die Offenbarung Jesu.

Und falls dies noch nicht klar genug ist:

  • Jesus
    wird sie standhaft erhalten, damit sie am Tag seiner Rückkehr untadelig sein
    werden.
  • Gott
    hat sie in die Gemeinschaft seines Sohnes Jesus berufen.

Jesus, Jesus, Jesus. Während Paulus anerkennt, was sie haben, lenkt er auf Schritt und Tritt ihre Aufmerksamkeit auf Jesus. Dies deutet darauf hin, dass sie bei all ihrer Aufregung über andere Dinge den Blick für das Wesentliche verloren haben.

Während Paulus so die Beziehung zu ihnen aufbaut, hat er gleichzeitig schon begonnen, sie zu korrigieren. Nicht Erkenntnis oder Gaben, sondern Jesus soll das Zentrum ihres Glaubens und das Objekt ihrer Begeisterung sein.

Bildnachweis

Kräniche: Lacarta, Santiago. 14 October 2019 <https://unsplash.com/photos/eIWgdTxmVRg> [Accessed 22 January 2020] CC0

Glühbirne: Free-Photos. 12 August 2016 <https://pixabay.com/photos/light-bulb-lightbulb-light-bulb-1246043/> [Accessed 22 January 2020] CC0

Literaturangaben

Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Witherington, Ben. 1995. Conflict and Community in Corinth: A Socio-Rhetorical Commentary on 1 and 2 Corinthians (Grand Rapids, MI : Carlisle: W.B. Eerdmans ; Paternoster Press)

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