Zum ersten Mal seit vielen Jahren habe ich in diesem Januar das vierte Buch Mose gelehrt. Ich werde oft gefragt, was mein Lieblingsbuch der Bibel ist. Meine Antwort war noch nie: „4. Mose!“ Aber ich muss sagen, als ich Zeit damit verbrachte, über dieses Buch nachzudenken, hat es etwas mit mir getan. Unser Pfarrer hat kürzlich die Schrift mit einem Waschmittel verglichen: Wir müssen ihr nur genügend Zeit geben, dann wird sie, wie Waschpulver, ihre Wirkung entfalten. Genauso war es in meiner Begegnung mit 4. Mose. Das Buch zog mich näher zu Gott.
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Und das, obwohl so viel in diesem Buch (und überhaupt vieles in der Thora) meiner Welt und unserer Art zu denken und zu glauben völlig fremd ist. Vieles setzen wir gar nicht um. All die Regeln und Vorschriften bezüglich der rituellen Reinheit und all die verschiedenen Arten von Opfern haben keinen Platz in unserer Praxis. Wir studieren sie vielleicht, aber wir tun sie nicht. Und wenn wir sie studieren, verstehen wir sie oft nicht, weil sie Teil einer Denk- und Betrachtungsweise sind, die uns, um es noch einmal zu sagen, völlig fremd ist. Wer einen Vorgeschmack auf diese Fremdheit haben will, lese bitte 4. Mose 19. Darin wird ausführlich beschrieben, wie das Reinigungswasser hergestellt und angewendet werden soll. Dazu verwendet man die Asche einer roten Kuh, die auf eine bestimmte Art und Weise verbrannt wird – eines der merkwürdigsten Rituale im Gesetz. Ich werde auf die Kuh zurückkommen, möchte aber zunächst eine Teilerklärung dafür vorschlagen, dass die Thora viele Vorschriften enthält, die heute keine direkte Anwendung mehr finden.
Warum steht das alles in der Bibel, wenn wir es eh nicht tun?
Wie kann das also sein? Gott verwendet viel Zeit damit, die Israeliten zu lehren, wie man mit Opfer und Reinheit umgeht. Allem Anschein nach fand mit Jesus und dem NT ein scharfer Schnitt statt. Plötzlich waren diese Vorschriften überholt. Wie konnte Gott das, was er ab dann nicht mehr fordert, vorher mit solcher Absolutheit vorschreiben?
Wenn wir eine Leiche oder ein totes Tier berühren, empfinden wir das nicht als Hindernis, im Gebet vor Gott zu erscheinen, sei es privat oder im Kreis der Gemeinde. Dasselbe gilt, wenn eine Frau ihre Tage hat (was sie nach 3. Mose 15,19 unrein macht). Wenn es heute kein Thema ist, warum sollte es damals ein Thema gewesen sein?
Natürlich hat Jesus durch seinen Tod am Kreuz die Opfer erfüllt, aber das ist nur eine Teilantwort, wenn auch eine wichtige. Klar: Jesus erfüllte das Schuldopfer und das Sündopfer. Aber nicht alle Opfer sind dazu bestimmt, eine Sünde zu sühnen. Was ist mit den Opfern, die Anbetung, Gemeinschaft und Feier ausdrücken? Und ist es jetzt ein Problem, wenn man eine Leiche berührt, oder als Frau ihre Tage zu haben, oder nicht? Schließlich ist beides keine Sünde.
Ein Vorschlag
Ich möchte eine Hypothese vorschlagen. Die Idee zu opfern kommt nicht von Gott. Die Menschen taten dies bereits, und Gott übernahm ihre Praxis, obwohl er die Bedeutung etwas änderte. Und das Konzept der rituellen Reinheit kommt ebenfalls nicht von Gott. Dieser Rahmen für die Aufteilung der Welt in rein und unrein war bereits vorhanden. 3. Mose (und in geringerem Maße auch 4. Mose) brachte den Israeliten kein völlig neues, ihnen zuvor unbekanntes Begriffssystem. Es baute auf dem auf, was sie bereits glaubten und taten.
Die Menschen haben schon sehr früh Opfer gebracht, und zwar überall auf der Welt. Sie brauchten weder Gott noch Götter, um ihnen dies vorzuschreiben. In der Bibel wird das erste Opfer schon in 1. Mose 4 dargebracht. Es handelt sich um eine Art Dankopfer. Gott hatte nicht darum gebeten. Es scheint, dass sowohl Kain als auch Abel selbst auf die Idee kamen.
Die Menschen hatten immer das Gefühl, ein Geschenk zu brauchen, wenn sie sich den Göttern nähern wollten. Zum Teil sollten solche Geschenke die Gunst eines Gottes gewinnen, oft genug bis hin zu offener Manipulation. Im Altertum war die Vorstellung weit verbreitet, dass es sich beim Opfer um eine Art Nahrung für die Götter handelte. In einer berühmten Szene im Gilgamesch-Epos (Tafel XI), in der das erste Opfer nach der Sintflut gebracht wird, versammeln sich die hungernden Götter wie Fliegen um das Opfer – keine schmeichelhafte Darstellung, aber ein klarer Beleg für die Überzeugung, dass die Götter Nahrung brauchten und dass ein Opfer dazu diente, diese Nahrung bereitzustellen.
Gott übernimmt diese Praxis, ändert aber ihre Bedeutung. Er braucht keine Nahrung:
Denn alles Wild im Walde ist mein
und die Tiere auf den Bergen zu Tausenden.
Ich kenne alle Vögel auf den Bergen;
und was sich regt auf dem Felde, ist mein.
Wenn mich hungerte, wollte ich dir nicht davon sagen;
denn der Erdkreis ist mein und alles, was darauf ist.
Meinst du, dass ich Fleisch von Stieren essen wolle
oder Blut von Böcken trinken? (Ps. 50,10-13)
Außerdem lässt er sich nicht manipulieren. Aber er weiß Geschenke zu schätzen, die mit der richtigen Motivation einhergehen. Darüber hinaus gilt, und das ist eine echte Innovation: Gott gibt bestimmten Opfern den Zweck, mit der menschlichen Sünde umzugehen. Vorläufig, als Aushilfe. Denn eines macht das Opfersystem kristallklar: Die Menschen können kein Opfer bringen, das groß genug ist, um das Problem der Sünde zu lösen. Sie brauchen eine Reinigung, die viel tiefer geht, wie David nach seinem Ehebruch mit Batseba einräumt:
Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde;
wasche mich, dass ich schneeweiß werde. (Ps. 51,9)
Der Zweck des Opfers
Es scheint, dass Opfer im Alten Testament mindestens vier wichtige Funktionen haben, je nach Art des Opfers:
- Einige
ermöglichen die Sühnung von Sünde und Schuld, wenn auch nur auf symbolische und
vorläufige Weise. - Andere
dienen dazu „dem HERRN einen lieblichen Geruch zu bereiten“ (z.B. 4. Mose 15,3).
Aber sicherlich genießt Gott nicht den Geruch von verbranntem Fleisch. Was ist ihm
also „lieblich“? Es kann nur das Herz desjenigen sein, der das Opfer bringt, und
die Absicht hinter dem Opfer. - Freiwillige
Lob- und Gelübdeopfer ermöglichen Gemeinschaft mit Gott. Interessanterweise
wurden diese Opfer und die während der israelitischen Feste dargebrachten Opfer
von einem Speise- und Trankopfer begleitet, wie in 4. Mose 15,1-16 ausführlich
beschrieben. Dadurch sieht es fast so aus, als ob diese Opfer doch als Nahrung
für Gott gelten. Die Symbolik einer Mahlzeit ist sicherlich vorhanden: Fleisch,
eine Form von Brot und Wein zum Trinken. Das Mahl ist jedoch eine Erfahrung,
die Gott und die Gläubigen miteinander teilen. Es dient nicht dazu, Gott zu ernähren
(nur die Gläubigen essen vom Opferfleisch). Es bietet eine Möglichkeit der
Gemeinschaft. - Zahlreiche
Opfer sind eine Form der Hingabe.
Es ist leicht zu erkennen, wie die erste Funktion, die Sühnung von Sünde, ihre endgültige Erfüllung in Christus findet. Schließlich kann nur Gott die Gabe bereitstellen, die benötigt wird (vgl. 1. Mose 22,8).
Die anderen drei Funktionen erläutern den von Gott gewünschten Lebensstil. Dazu gehören Dankbarkeit, Danksagung, Anbetung und innige Gemeinschaft mit ihm. Für Israel im AT bot das Opfersystem eine Möglichkeit, diese Anliegen zu leben. Das NT blickt über die äußere Form hinaus auf das Wesentliche und ist daher in der Lage, die Form zu ignorieren. Wie Paulus es ausdrückt:
Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. (Röm. 12,1)
Unser ganzes Leben soll das Opfer werden – ein lebendiges Opfer, nicht ein zu verbrennender Kadaver – das Gott wirklich gefällt: ein Leben, das ihm hingegeben und ihm gewidmet ist und das sich der innigen Gemeinschaft mit ihm erfreut.
In den Gesetzen über Opfer und Reinheit regelt Gott daher das, was im Wesentlichen bereits vorhanden war. Er übernimmt die übliche Praxis und die ihr zugrunde liegende Denkweise, nimmt aber Anpassungen vor, um sie zu seinen Zwecken einzusetzen. Anders gesagt: Gott benutzt eine symbolische Sprache, die das Volk Israel bereits kannte und verstand. Letztlich dient all dies dazu, das Werk Christi am Kreuz (der erste oben aufgeführte Zweck der Opfer) und den Lebensstil, der sich daraus ergeben sollte (die übrigen drei oben aufgeführten Funktionen – eben das, was Paulus in Römer 12,1 als Sinn des Opfers versteht), zu veranschaulichen und zu erklären.
4. Mose 19
In dem Ritual mit der roten Kuh treffen die Vorstellungswelten des Opfers und der rituellen Reinheit zusammen. Die rote Kuh ist ein Opfer, und ihre Asche wird zur Reinigung verwendet. Die Betrachtung dieses Beispiels wird uns helfen, die zugrunde liegende Ideenwelt zu verstehen und zu sehen, wie Gott solche Formen benutzt, um das eigentliche Problem und seine Lösung zu verdeutlichen.
Ich habe mich mit der Gedankenwelt der Reinheit ausführlicher in Ausgabe 16 von Create a Learning Site befasst, in der das dritte Buch Mose besprochen wurde. Zusammengefasst:
- Nur
ein rituell reiner Mensch konnte sich dem Bereich des Heiligen nähern, der
alles einschloss, was eng mit Gott verbunden war. - Da
Gott absolutes und pures Leben ist, machte alles, was mit dem Tod verbunden war
(einschließlich z.B. Menstruationsblut), einen Menschen unrein, d.h. untauglich
und unfähig, in Gottes Gegenwart zu treten. - Das
Blut eines Opfers diente dazu, Sünde und Unreinheit von demjenigen zu
entfernen, der das Opfer zum Altar brachte, und so Sühne oder Reinigung zu
bewirken.
Die Unreinheit kam in Abstufungen. Für die schwächere Form reichte es aus, ein Bad zu nehmen, seine Kleidung zu waschen und bis zum Abend zu warten. Eine Leiche und verschiedene Hautkrankheiten (fälschlicherweise meist als Lepra bezeichnet; 3. Mose 13) galten als besonders starke Quellen der Unreinheit und erforderten viel aufwändigere Rituale. 3 Mose 14 beschreibt das Ritual für den Fall einer ausgeheilten Hautkrankheit. In 4. Mose 19 geht es um die Person, die eine Leiche berührt hat.
Ein Teil der Symbolik ist nicht schwer zu verstehen. Die Kuh musste makellos sein (4. Mose 19,2). Die Farbe Rot deutet auf Blut hin, den eigentlichen Wirkstoff bei der Übertragung von Unreinheit. Zedernholz und scharlachrote Wolle implizieren dieselbe Symbolik (4. Mose 19,6).
Interessanterweise ist dies das einzige Opfer, das außerhalb der Stiftshütte gebracht wurde. Der Grund dafür: Die Person, die durch den Kontakt mit einer Leiche unrein geworden war, konnte nicht in das Heiligtum kommen (so Gane 2004: 659). Dennoch wurde eine Verbindung zum Heiligtum hergestellt, indem man siebenmal Blut in Richtung auf das Heiligtum sprengte (4. Mose 19,4) und so die Unreinheit auf den Altar übertrug.
Überraschenderweise geschah dies, bevor die unreine Person sich mit dem Opfer identifiziert hatte und vermutlich sogar bevor sie sich die Unreinheit zuzog. Die Kuh trug bereits die Unreinheit in sich. Das erklärt, warum jeder, der mit der Kuh oder ihrer Asche umging, unrein wurde (4. Mose 19,8-10, 21), außer natürlich die zu reinigende Person, weil ihre Unreinheit von ihr auf die Kuh übertragen wurde, auch wenn dies erst zu einem späteren Zeitpunkt geschah als das Opfer.
Die Asche wurde an einem reinen Ort aufbewahrt (4. Mose 19,9), so dass sie jederzeit verfügbar war, wenn sie gebraucht wurde. Die Asche war eine Art Instant-Reinigungsopfer; sie musste nur mit lebendigem Wasser vermischt werden (4. Mose 19,17; man denke an Nescafé). Sie stellte eine billige Lösung dar (so Gane 2004: 660). Nicht jeder, der eine Leiche berührt hatte, musste die Kosten für ein Opfer auf sich nehmen. Sie mussten lediglich am dritten und am siebten Tag mit dem Reinigungswasser besprengt werden (4. Mose 19,12). Vermutlich wurde durch diesen Akt die Unreinheit rückwirkend von der Person auf das Opfer übertragen (man denke an Star Trek und time warp oder Zeitschleife) und vom Opfer auf den Altar, von wo sie am Versöhnungstag (siehe 3. Mose 16 und CALS 16) entfernt werden sollte. Wie Roy Gane es ausdrückt:
Paradoxerweise wirkt das Reinigungswasser auf jeden, außer auf die mit der Leiche kontaminierte Person, als ob es bereits die Verunreinigung von dieser Person mit sich trägt. Diese Zeitschleife [Engl. time warp] erklärt, warum die Verbrennung der roten Kuh Teilnehmer am Ritual verunreinigt, und zwar [zitiert wird D. P. Wright, „Heifer, Red“, Anchor Bible Dictionary, 3: 116:] „im Voraus, vor der tatsächlichen Verwendung bei der Reinigung“. Die Kuh wird so betrachtet, als ob Teile von ihr in Form von rehydrierter Asche bereits mit kontaminierten Personen in Kontakt gekommen sind, so dass die ganze Kuh ihre Unreinheit aufgenommen hat. Es ist, als ob die Verunreinigung durch Zeit und Raum zurück zur Verbrennung der Kuh übertragen wird, wo das Übel vernichtet wird“. (Gane 2004: 663)
Das Ritual der roten Kuh folgt also einer klaren Logik innerhalb dieses konzeptuellen Rahmens der rituellen Reinheit. Es zeigt auch, wie Gott diesen Rahmen benutzt, um ein vertieftes Verständnis dessen zu ermöglichen, was bei der Erlösung durch Jesus erreicht werden musste:
Denn wenn schon das Blut von Böcken und Stieren und die Asche von der Kuh durch Besprengung die Unreinen heiligt, sodass sie äußerlich rein sind, um wie viel mehr wird dann das Blut Christi, der sich selbst als Opfer ohne Fehl durch den ewigen Geist Gott dargebracht hat, unser Gewissen reinigen von den toten Werken, zu dienen dem lebendigen Gott! (Hebr. 9,13f)
Bildnachweis
Black Angus Girl. 20 August 2006 <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Red_Angus_Heifer.jpg> [Accessed 14 February 2020] Public domain
Getty Research Institute. 2 March 2017 <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Temple_of_Baalshamin,_Louis_Vignes,_1864._Albumen_print._8.8_x_11.4_in._(22.5_x_29_cm)._The_Getty_Research_Institute,_2015.R.15.jpg> [Accessed 30 March 2020] CC BY 4.0
Johnny_Tal <https://pixabay.com/photos/coffee-spoon-cafe-transparent-3249484/> [Accessed 14 February 2020] CC0
Literaturangaben
Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Gane, Roy. 2004. Leviticus, Numbers: From Biblical Text … to Contemporary Life, The NIV Application Commentary (Grand Rapids, MI: Zondervan)
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