Die rhetorische Struktur des 2. Korintherbriefes

Ich setze das Thema vom März 2020 fort, als ich die rhetorische Struktur des 1. Korintherbriefes untersuchte. Mit Ben Witheringtons Hilfe stelle ich nun den zweiten Brief des Paulus an die Korinther in den Mittelpunkt der rhetorischen Kritik (oder Analyse). Das Ergebnis ist eine echte Überraschung, die ich mit euch teilen möchte.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST

Drei Arten von Rhetorik

Zunächst ein kurzer Rückblick. Es ist üblich, in der Rhetorik der Antike drei Gattungen zu unterscheiden, die jeweils einen anderen Zweck verfolgen:

Beratungsrede (auch Parlamentsrede genannt): Es geht darum, Menschen dazu zu bewegen, sich auf eine bestimmte Vorgehensweise festzulegen oder bestimmte Überzeugungen zu übernehmen. Argumente werden benutzt, um zu zeigen, welcher Weg der beste ist, d.h. was vorteilhaft und ehrenhaft ist. Sowohl der Römerbrief als auch der 1. Korintherbrief sind klare Beispiele für diese Art der Argumentation.

Gerichtsrede ist die Verwendung von Rhetorik, um Handlungen in der Vergangenheit zu diskutieren, zu erklären und zu verteidigen. Diese Form wird u.a. in Gerichtsverfahren verwendet, daher der Name. Der Schwerpunkt liegt auf der Vergangenheit: Was ist passiert und wie kann es erklärt werden?

Lobrede (oder Tadel) ist die Rhetorik des Lobes oder der Schuldzuweisung. Sie wird zum Gedenken oder Feiern verwendet; sie dient dazu, Tugenden und Werte hervorzuheben und einzuprägen.

Mir fällt es leicht, in der Bibel Beispiele für Beratungsreden zu finden; aus offensichtlichen Gründen überwiegt dieser Typus (Paulus und andere Schriftsteller im NT versuchen, Menschen zu überzeugen). Nur in einigen wenigen Reden in der Apostelgeschichte hatte ich die Gerichtsrede erkannt. Und jetzt kommt die Überraschung: Mit dem 2. Korintherbrief haben wir „ein Beispiel für eine Gerichtsrede“ (Witherington 1995: 333).

Das macht so viel Sinn, dass meine unmittelbare Reaktion, als ich dies las, lautete: „Aber natürlich!“ (Witherington 1995: 333). Schließlich ist der 2. Korintherbrief eine sehr persönliche Verteidigung des Paulus. Das war mir jedoch vorher nicht klar. Dabei ist es für die richtige Interpretation des Briefes wichtig. Wie wir sehen werden, hat diese Art von Rhetorik ihre eigenen Regeln. Wenn wir den 2. Korintherbrief durch die Linse der antiken Rhetorik betrachten, können wir seine Struktur besser verstehen. Wir brauchen diese Unterstützung, denn auf den ersten (und auch auf den zweiten) Blick ist der Aufbau des Briefes verwirrend.

Die verwirrende Struktur des 2. Korintherbriefes

Paulus beginnt mit einem Ausbruch der Erleichterung, dann schreibt er über seine Reisepläne und über einen vorausgehenden Brief, der wohl besonders scharf und schmerzhaft ausgefallen ist (2. Kor. 2,1-4). Dieser Brief, der nicht erhalten geblieben ist, wird oft Tränenbrief genannt. Er bricht diese Erklärung am Ende von 2. Korinther 2,13 ab, um seine Arbeit als Apostel ausführlich zu verteidigen, beginnend in 2. Korinther 3,1. Es folgt ein weiterer, viel kürzerer Exkurs mit einem dringenden Appell gegen eine enge Verbindung mit Götzendienern (2. Kor. 6,14-7,1). Erst dann, in 2. Korinther 7,2-16, kehrt Paulus zum Thema des vorherigen Briefes und zu seinen Reiseplänen zurück.

Darauf folgt nochmals ein Exkurs, über eine Geldsammlung für die Gemeinde in Jerusalem, in 2. Korinther 8-9. Die Argumentation des Paulus endet mit einem beißenden Angriff auf bestimmte falsche Apostel in 2. Korinther 10-12. Es ist wahrscheinlich der sarkastischste Text, der in der Bibel zu finden ist. Der scharfe Ton dieses Abschnitts steht im offensichtlichen Kontrast zu dem weitaus versöhnlicheren, manchmal sogar freudigen Ton im ersten Teil des Briefes.

Was sollen wir davon halten? Hatte Paulus es eilig und hat er sich deswegen nicht so richtig überlegt, wie er seine Gedanken klar (und geordnet!) darlegen kann?

Eine rhetorische Analyse der Struktur

Nein. Die rhetorische Struktur, die Witherington präsentiert (1995: 335f; sie wird in seinem gesamten Kommentar immer wieder erläutert), hilft uns, die Struktur zu verstehen. Zusammengefasst:

  • Exordium (Einleitung): 2. Korinther 1,3-7
  • Narratio (Hintergrund oder Darstellung der Fakten): 2. Korinther 1,8-2,14
  • Propositio (These): 2. Korinther 2,17
  • Probatio (Argumente): 2. Korinther 3,1-13,4
  • Peroratio (Schlussfolgerung oder Schlussargument): 2. Korinther 13,5-10

Im Folgenden werde ich darauf näher eingehen.

Vorbereitende Überlegungen (Exordium, Narratio)

In der Gerichtsrede richtet sich das Exordium an den Richter. Im 2. Korintherbrief ist dies Gott. Ein wichtiges Ziel ist es, eine Beziehung nicht nur zum Richter, sondern zum gesamten Publikum, hier der korinthischen Gemeinde, herzustellen und das Wohlwollen der Zuhörer zu gewinnen. Dies erklärt den überschwänglichen und anerkennenden Ton des einleitenden Absatzes.

„In der Narratio sollte der Sprecher die Tatsachen des Falles, um die es ging, oder die Hauptfragen, die zur Debatte standen, darlegen” (Witherington 1995: 360); in einer Verteidigung musste sie „Gründe und ein Motiv für das, was dem Angeklagten vorgeworfen wurde, enthalten … [und] eine Erklärung für das in Frage gestellte Verhalten geben“ (ebd.: 361). Da es um Handlungen in der Vergangenheit geht, ist die Narratio in dieser Gattung in der Regel wesentlich länger als die in der Beratungsrede. Paulus verwendet die Narratio, um zu erklären, warum sich seine Reisepläne immer wieder änderten und um seine Beweggründe hinter dem Tränenbrief zu klären.

Die Propositio: Die Anklage gegen Paulus

In einer Gerichtsrede ist die Propositio die These, die durch die im Diskurs folgenden Argumente als wahr oder falsch zu beweisen ist. Es handelt sich also um eine Aussage über vergangenes Verhalten (ob Worte oder Taten oder beides), worüber eine Art von Anklage erhoben wurde. Sie fasst den Hauptstreitpunkt zusammen und gibt somit einen Hinweis darauf, wie der Angeklagte mit der Anklage umgehen wird. (Witherington 1995: 371)

In 2. Korinther ist die Hauptanklage gegen Paulus, dass er kein wahrer Apostel ist, wie in 2. Korinther 10-12 immer deutlicher wird. Andere Klagen, die gegen ihn erhoben werden (seine wechselnden Reisepläne und der strenge Tränenbrief) sind im Vergleich dazu eher unbedeutend. Paulus, so der Vorwurf, benutzt das Apostelamt als Vorwand, um Gelder zu sammeln (konkret: durch die Sammlung für die Gemeinde in Jerusalem), die er aber für sich verwendet. Wenn er ein wahrer Apostel wäre, würde er nicht zögern, wohlhabende Mitglieder der Gemeinde als Sponsoren und Schirmherrn (Latein: patroni) zu gewinnen.

Zu seiner Verteidigung macht sich Paulus daran, seine Propositio zu beweisen:

Wir sind ja nicht wie die vielen, die mit dem Wort Gottes Geschäfte machen [wörtlich: Hausierer des Gotteswortes]; sondern wie man aus Lauterkeit und aus Gott reden muss, so reden wir vor Gott in Christus.

2. Korinther 2,17

Das Bild ist stark: Hausierer des Wortes Gottes. Ein Hausierer ist jemand, der von Tür zu Tür geht, um Dinge zu verkaufen. Das Wort hat oft eine negative Konnotation: Die Ware ist minderwertig, der Verkäufer von zweifelhaftem Charakter. Paulus bestreitet den Vorwurf, dass er lediglich versucht, durch einen vorgetäuschten Dienst finanzielle Vorteile zu ergattern, und er beteuert sowohl seine Berufung (er redet „aus Gott“) als auch seine Integrität (er redet „aus Lauterkeit“).

Paulus gibt auch einen Hinweis darauf, wie er versuchen wird, sich zu verteidigen (so Witherington 1995: 429). „Wie die vielen“ – es gibt tatsächlich diejenigen, die mit Gottes Wort hausieren gehen und es zu einem billigen Gebrauchsgut und einem Mittel zum Geldverdienen verkommen lassen. Paulus wird das klassische rhetorische Mittel der Synkrisis verwenden: Er wird seine Arbeitsweise mit der seiner Gegner vergleichen.

Probatio I: Paulus verteidigt seinen Charakter

In einem Gerichtsverfahren werden unter anderem Zeugen (hier z.B Gott. in 2. Kor. 1,23) und Verträge und andere formelle Vereinbarungen (hier das Empfehlungsschreiben in 2. Kor. 3,1-4) angeführt. Von überragender Bedeutung in der Antike war die Feststellung des eigenen Ethos oder des moralischen Charakters. Es ist klar, dass Paulus genau das Letztgenannte im gesamten Brief betont.

Es gibt einen Exkurs in 2 Korinther 6,14-7,1. Dieser Abschnitt ist beratende Rhetorik: Paulus versucht, die Korinther dazu zu bewegen, sich endlich von den Festmahlen in den Tempeln zu distanzieren (dasselbe Problem, das er in 1. Korinther 8-10 behandelt hat; anscheinend nehmen einige immer noch an diesen Banketten teil). Gleichzeitig funktioniert dieser Abschnitt auch als Teil seiner Verteidigung:

Dieser Abschnitt zeigt Paulus, wie er, wenn auch in einem beratenden Modus, zum Angriff übergeht, und dient damit seinen größeren Zielen in diesem Diskurs: die eigene Integrität und die seiner Arbeit in Korinth zu verteidigen, in der Hoffnung auf eine volle Annäherung an seine Bekehrten. (Witherington 1995: 406)

In 2. Korinther 7,2-16 kehrt Paulus zurück zu Narratio und vervollständigt seine Erklärung für die Änderung der Reisepläne und seiner Motive in dem Tränenbrief.

In 2. Korinther 8-9 wechselt Paulus nochmals zur beratenden Rhetorik und versucht, die Korinther dazu zu bewegen, sich ernsthaft mit der Sammlung für die Gemeinde in Jerusalem zu befassen. Gleichzeitig dient sie seiner Verteidigung, da Paulus zeigt, wie sorgfältig und verantwortungsvoll er mit dem Geld umgeht.

Probatio II: Paulus wechselt den Ton

Wir kommen nun zu der starken Veränderung des Tons im letzten Teil des Briefes. Die Veränderung ist so auffällig, dass manche Ausleger meinen, Paulus habe zwischen dem Schreiben von Kapitel 9 und 10 Nachrichten aus Korinth erhalten, die ihn darüber informierten, dass die Situation weitaus kritischer sei, als er gedacht hatte. Das ist unwahrscheinlich, da es in den ersten neun Kapiteln klare Hinweise und Anzeichen dafür gibt, dass die Probleme zwischen Paulus und Korinth noch lange nicht gelöst sind. Stattdessen folgt Paulus durch die Änderung seines Tons und durch den Übergang zum Angriff den allgemein akzeptierten strategischen Prinzipien seiner Zeit für eine Gerichtsrede.

Ethos (Charakter) und Pathos (Emotion) wurden beide als wichtige Elemente in einer Gerichtsrede angesehen, aber nicht im selben Stadium. Gerade in einem heiklen Verfahren begann man mit Ethos, um Feindseligkeit abzubauen, das Publikum zu gewinnen und Gegner indirekt zu diskreditieren; das Ziel war das Wohlwollen der Zuhörer. Erst gegen Ende der Rede griff man die Gegner direkt und mit starkem Pathos an. Weniger wichtige oder kontroverse Themen behandelte man am Anfang des Diskurses. Man wartete mit dem entscheidenden Streitpunkt bis zum Ende oder ging ihn anfangs nur auf indirekte Weise an:

Da Paulus es mit einer komplexen und ineinandergreifenden Reihe von Problemen zu tun hat, muss er das als Insinuatio bekannte Verfahren, den indirekten Ansatz, anwenden. In diesem rhetorischen Zug spielt man in der Anfangsphase des rhetorischen Diskurses nur verdeckt auf das Hauptproblem an, das umstritten ist, und behält die eigentliche Erörterung des Hauptstreitpunktes dem Ende des Diskurses vor, wo er mit viel Pathos auf direktere Weise aufgegriffen wird … Die Schlussphase der juridischen Argumentation muss sowohl Lob und Verteidigung der eigenen Person als auch die Anklage des Gegners umfassen – genau das, was man in 2. Korinther 10-13 findet. (Witherington 1995: 429; für Informationen über die Reihenfolge in der Gerichtsrede siehe auch ebd.: 356f).

Wie bereits erwähnt, lässt die Propositio eine Synkrisis zwischen Paulus und denen erwarten, die tatsächlich mit Gottes Wort hausieren. Paulus stellt in Kapitel 3 zunächst eine positive Synkrisis zwischen sich und Mose vor. Eine umfassendere Synkrisis folgt in Kapitel 10-12, wo Paulus sich und die falschen Apostel mit starken Emotionen einander gegenüberstellt. An diesem Punkt greift er seine Gegner, die falschen Apostel, direkt an und nicht mehr, wie in Kapitel 1-7, indirekt. Mit Witheringtons Worten:

Was in Kapitel 1-9 langsam brodelt, wird in Kapitel 10-13 zum Überkochen gebracht. Bis zu diesem Zeitpunkt lag ein Hauptaugenmerk auf den Korinthern selbst; nun nimmt Paulus seine Gegner fast frontal in Angriff, was zum Teil den Tenorwechsel im Brief erklärt. (Witherington 1995: 431)

Es gibt weitaus mehr zu sagen zu diesem Abschnitt und zur rhetorischen Strategie des Paulus in 2. Korinther. Dazu gehören der Gebrauch einer „Narrenrede“ und zahlreiche andere rhetorische „Tricks“, die er in Kapitel 10-12 verwendet. Ironischerweise, und entgegen der Meinung, die die Korinther von Paulus haben, zeigt er sich als ein Meister der Rhetorik.

Peroratio: Ein abschließender Knall

Am Ende eines Diskurses steht die Peroratio oder Schlussfolgerung. Das letzte Plädoyer kann rational oder emotional sein. Hier, in 2. Korinther 13,5-10, ist es voller Emotionen. Die Ironie geht weiter: Die Korinther wollten über Paulus richten; sie stellten ihn auf die Probe. Paulus dreht die Rollen um und drängt sie in die Defensive (so Witherington 1995: 471f): „Erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben steht; prüft euch selbst!“ (2 Kor. 13,5). Jetzt stehen die Korinther vor dem Gericht.

Es geht Paulus nicht um ihn selbst; sein Ruf ist ihm gleichgültig. Aber die Korinther sind ihm wichtig, und deshalb kann er nicht passiv sein.

In der daraus resultierenden Verteidigung seines Apostelamtes zeigt sich Paulus als Vorbild der Integrität für jeden, der im christlichen Dienst aktiv sein will.

Bildnachweis

Miriams-Fotos <https://pixabay.com/photos/boiling-over-of-milk-ceramic-hob-2474181/> CC0

WilliamCho <https://pixabay.com/photos/justice-statue-lady-justice-2060093/> CC0

IanZA <https://pixabay.com/photos/lioness-close-eyes-portrait-blood-2815461/> CC0

Literaturangaben

Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Die Heilige Schrift übersetzt von Hermann Menge. 1994. Neuausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Witherington, Ben. 1995. Conflict and Community in Corinth: A Socio-Rhetorical Commentary on 1 and 2 Corinthians (Grand Rapids, MI : Carlisle: W.B. Eerdmans ; Paternoster Press)

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