In der letzten Ausgabe rang ich mit dem objektiven und dem subjektiven Genitiv und mit der Frage, ob der Ausdruck „der Glaube Christi“ einer Neuinterpretation bedarf. Diesen Monat tue ich dasselbe mit einem anderen Ausdruck, der vielleicht noch wichtiger ist: „die Gerechtigkeit Gottes“ in Römer 1,17, in dem „Gott“ im Genitiv steht.
Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht [wörtlich: zur Errettung] alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt [wörtlich: die Gerechtigkeit Gottes; Luther hat hier, aufgrund seiner theologischen Auslegung, recht frei übersetzt], welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ (Röm. 1,16f)
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST
Gewöhnlich geht es in der Debatte um die Frage, ob es sich um einen subjektiven oder um einen objektiven Genitiv handelt. Sagt der Text, dass Gott gerecht ist (dann ist Gott das Subjekt), oder spricht der Text von einer Gerechtigkeit, die in gewisser Weise getrennt von Gott existiert und sich an Gott richtet, so dass er das Objekt ist?
Ich habe diese Unterscheidung immer verwirrend gefunden, weil in beiden Fällen Gott nicht das Subjekt ist. Die Debatte so zu gestalten, ist in der Tat falsch, wie ich aus einer Reihe von Beiträgen in The Biblical Greek Forum erfahren habe. Das Substantiv Gerechtigkeit leitet sich nicht von einem Verb ab; es ist kein verbales Substantiv. Daher macht es in der griechischen Sprache keinen Sinn, von Subjekt und Objekt zu sprechen, und die Kategorien des subjektiven und objektiven Genitivs sind nicht anwendbar.
Wir müssen in anderen Kategorien denken, um mögliche Bedeutungen zu diskutieren (siehe Keating 2004 für einen Überblick). Handelt es sich um einen Genitiv, der im weiteren Sinne Besitz oder Eigentum zum Ausdruck bringt, in diesem Fall eine Eigenschaft: Gott ist gerecht? Oder geht es um den Ursprung oder die Quelle der Gerechtigkeit, die in diesem Fall von Gott herkommt?
Besitz: Eigenschaft Gottes
Auf den ersten Blick werden die meisten Leser wahrscheinlich denken, dass der Ausdruck uns etwas über Gott sagt. Er bezieht sich auf Gottes Gerechtigkeit als Attribut: Gott ist gerecht.
Es gibt jedoch zwei ernsthafte Probleme, den Text auf diese Weise zu verstehen. Erstens: Wie wird diese Gerechtigkeit im Evangelium „offenbart“? Denn sie ist ja nichts Neues; das Alte Testament spricht viele Male von Gottes Gerechtigkeit.
Zweitens: Wie kann dies das Evangelium sein oder zumindest ein wichtiger Bestandteil dessen? Dass Gott gerecht ist, ist überhaupt keine gute Nachricht, wenn man ein sündiger Mensch ist, wie Luther in seinem Studium des Römerbriefes schmerzhaft spürte. Er empfand Gottes Gerechtigkeit als eine beunruhigende und schreckliche Nachricht, bis er eine andere Interpretation in Betracht zog.
Quelle: Was von Gott kommt
Was ist, wenn der Genitiv die Quelle bezeichnet? In diesem Fall würde sich Paulus auf eine Gerechtigkeit beziehen, die von Gott kommt, Gerechtigkeit als Gabe. Luther bezeichnete sie als eine fremde Gerechtigkeit, eine Gerechtigkeit, die nicht unsere eigene ist, sondern die Gerechtigkeit Christi, die allen Gläubigen zugerechnet wird. Das erklärt, wie sie im Evangelium offenbart wird und warum sie eine gute Nachricht ist.
Der Ausdruck „Gabe der Gerechtigkeit“ kommt bei Paulus zwar vor, aber nur einmal, in Römer 5,17. Dennoch ist die Idee gerechtfertigt: Es gibt sie, diese Gabe der Gerechtigkeit. Aber ist sie das, was Paulus in Römer 1 im Sinn hatte?
Gottes Gerechtigkeit, neu definiert
Viele Interpreten heute, vor allem diejenigen, die die Neue Perspektive auf Paulus mittragen, verstehen den Genitiv in Römer 1,17 wieder als Ausdruck von Besitz, nicht Quelle, jedoch in einem neuen Sinn. Die Gerechtigkeit, die zu Gott gehört, wird nicht mehr als zeitloses Attribut Gottes oder als Gottes Maßstab der Gerechtigkeit verstanden. Sie wird jetzt als „die Bundestreue Gottes“ gedeutet, wie der Titel des monumentalen Werks von N. T. Wright, Paulus and the Faithfulness of God (2013), zum Ausdruck bringt. Gott ist gerecht, weil er seine Verpflichtung gegenüber dem Bund einhält, deswegen Treue.
Ein wichtiges Argument, das für diese neue Interpretation vorgebracht wird, ist das Wesen des hebräischen Wortes für Gerechtigkeit als positiv (d.h. nicht verurteilend und strafend), beziehungsorientiert und auf den Bund bezogen. Zusammengenommen bedeutet Gottes Gerechtigkeit, dass er sein Versprechen hält und den Bund erfüllt.
Es ist jedoch keineswegs klar, dass das hebräische Wort für Gerechtigkeit immer so gemeint ist (siehe Horton 2018: ii, 160-172; Eisen 2015; Seifrid 2001 – oder versuche dein eigenes Wortstudium für Gerechtigkeit im Alten Testament). Noch unwahrscheinlicher ist dies im Griechischen, wo Begriffe wie Gerechtigkeit und Rechtfertigung nicht beziehungszentriert sind, sondern zum Bereich des Rechts und der Justiz gehören.
Außerdem hätte Paulus, wenn er von der Treue reden wollte, andere Worte benutzen können; es ist durchaus möglich, im Griechischen „Treue Gottes“ zu sagen.
Wenn Gott seinem Versprechen oder Bund nicht treu wäre, wäre er natürlich nicht gerecht. Treue ist Teil der Gerechtigkeit. Aber letztere ist eine umfassendere Kategorie: Sie umfasst mehr als nur Treue. Wer gerecht ist, muss treu sein; wer treu ist, ist aber nicht unbedingt gerecht.
Ein zweites Argument für die Neudefinition ist die enge Beziehung zwischen der Gerechtigkeit Gottes und der Errettung insbesondere in Jesaja 40-55. das soll bestätigen, dass Gerechtigkeit im hebräischen positiv geladen ist und keine beurteilende oder gar verdammende Bedeutung hat. Dazu gleich mehr.
Das Ergebnis der Neudefinition von sowohl Gerechtigkeit als auch Glauben als Treue (und ihrer Verwendung zur Neudefinition der Rechtfertigung) lässt sich aus dem folgenden Zitat ablesen:
Für Paulus ist Gottes Gerechtigkeit in Römer 3 also nichts anderes als seine Bundestreue, nicht sein Festhalten an einem abstrakten Gesetzeskodex, der von ihm verlangt, diejenigen zu bestrafen, die das Gesetz brechen. Und Gottes Bündnistreue offenbart sich in der Treue Jesu Christi, insbesondere in seinem Tod. In einem solchen Rahmen würde sich „Rechtfertigung“ darauf beziehen, dass Gott Gläubige, Juden und Heiden, als Mitglieder seines Volkes annimmt. Gott tut dies für diejenigen, die glauben, aus dem Grund, dass ihre Sünden durch den Opfertod Jesu reingewaschen wurden. (Baker und Green 2011: 120)
Eine große Veränderung. Man beachte, wie dieses Zitat auf der Neuen Perspektive basiert, ohne dies jemals anzuerkennen; es wird einfach angenommen, dass Paulus es so gemeint hat. Nebenbei bemerkt: Das Zitat lässt offen, wie die Sünden „durch den Opfertod Jesu reingewaschen wurden“ – was uns zur Frage der Versöhnung führt, mit der ich mich demnächst befassen werde (ich arbeite daran).
Hintergrund im Alten Testament
Es ist bemerkenswert, dass Gottes Gerechtigkeit und die Errettung (oder das Heil) in der zweiten Hälfte des Jesajabuches häufig zusammen erwähnt werden (besonders in Jes. 51,5-8 – dreimal innerhalb von vier Versen). Die hebräische Poesie kennzeichnet sich durch Parallelität und Wiederholung. Das bedeutet nicht, dass Gerechtigkeit und Heil Synonyme sind, aber sie sind eng miteinander verbunden. Vielleicht könnten wir sagen, dass bei Jesaja Gottes Gerechtigkeit die treibende Kraft hinter seiner Initiative zur Erlösung ist. In diesem Zusammenhang ist Gerechtigkeit tatsächlich positiv und nicht einfach verurteilend.
Das bedeutet auch, dass die Verbindung zwischen der Errettung und der Gerechtigkeit Gottes keine Erfindung des Paulus ist. Tatsächlich ist die Ähnlichkeit in der Sprache sogar noch größer. Im folgenden Vers sind wir den Worten des Paulus in Römer 1,17, „die Gerechtigkeit Gottes wird offenbart“, sehr nahe:
So spricht der HERR: Wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit; denn mein Heil ist nahe, dass es komme, und meine Gerechtigkeit, dass sie offenbart werde. (Jes. 56,1; Hervorhebung hinzugefügt)
Eine ähnliche Sprache finden wir in Psalm 98:
Singet dem HERRN ein neues Lied,
denn er tut Wunder.
Er schafft Heil mit seiner Rechten
und mit seinem heiligen Arm.
Der HERR lässt sein Heil kundwerden;
vor den Völkern macht er seine Gerechtigkeit offenbar.
Er gedenkt an seine Gnade und Treue für das Haus Israel,
aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes. (Ps. 98,1-3; Hervorhebung hinzugefügt)
Im Kontext von Psalm 98 finden wir sogar einen Verweis auf Gnade und Treue. All diese Begriffe sind miteinander verwandt – aber nicht gleichbedeutend. Deshalb, obwohl die Gerechtigkeit Gottes in Römer 1 sich nicht auf einen objektiven Maßstab des Rechts beschränkt, sollte sie auch nicht auf Treue reduziert werden. Besonders nicht in Römer 1-3, wo das Problem nicht das Exil oder die Zukunft des Bundes ist, sondern das moralische Versagen sowohl der Juden als auch der Heiden.
In Psalm 98 und anderen Texten des Alten Testaments führt Gottes Gerechtigkeit dazu, dass er auf Erden für Gerechtigkeit sorgt und das Recht aufrichtet (so Seifrid 2001: 441). Er bleibt nicht unbeteiligt oder passiv: „Er kommt, das Erdreich zu richten. Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit und die Völker, wie es recht ist“ (Ps. 98, 9). Im Psalm ist das ein Grund zur großen Freude (Ps. 98,4-8); es ist eine gute Nachricht.
Psalm 98 zeigt, dass Gottes Gerechtigkeit nicht nur in Gericht und Verurteilung zum Ausdruck kommt, sondern auch darin, dass er denen zu Hilfe kommt, die sich zu ihm bekennen, oder, laut Jesaja 56,1, denen, die Recht wahren und Gerechtigkeit üben. Aber wer kann das von sich behaupten? Aufgrund von Römer 1,18-3,20, niemand. Wie kann Gottes Gerechtigkeit also etwas anderes tun als verurteilen?
Eine dritte Möglichkeit
Nehmen wir an, wir haben es in Römer 1,17 tatsächlich mit einem Genitiv zu tun, der uns etwas über Gott sagt: Es ist seine Gerechtigkeit, die offenbart wird. Dann gibt es dazu entweder die traditionellen Auslegungen (Gottes Maßstab für Gerechtigkeit oder seine Gabe der Gerechtigkeit) oder die der Neuen Perspektive (die Bundestreue Gottes).
Es gibt noch eine Möglichkeit. Die Gerechtigkeit Gottes, die im Evangelium offenbart wird, ist die überraschende Art und Weise, in der Gott gerecht ist und dennoch „den Gottlosen gerecht erklärt“, wie Paulus in Römer 4,5 sagt.
Dieser Satz ist ein schockierendes Paradoxon. Ist dies nicht eine Perversion des Rechts? Wie kann jemand den Gottlosen für gerecht erklären und das Gerechtigkeit nennen?
Die Antwort auf diese Frage wird im Evangelium offenbart und erklärt, wie die Erlösung möglich geworden ist. Sie ist das eigentliche Thema des Römerbriefes.
Bestätigung in Römer 3,21-26
Römer 1,16f, die These oder propositio des Römerbriefes, hat eine Parallele in Römer 3,21-26, wo Paulus seine These wiederholt. Viermal bezieht er sich auf die Gerechtigkeit Gottes:
Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt [wörtlich: die Gerechtigkeit Gottes], offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott [wörtlich: der Gerechtigkeit Gottes], die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit [hier kann es sich nicht um Gerechtigkeit als Gabe handeln], indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeitzu erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus. (Röm. 3,21-26; Hervorhebung hinzugefügt)
Wenn Paulus hier und in Römer 1,16f die Gerechtigkeit als eine Gabe Gottes versteht, macht er dies nicht besonders deutlich (und noch unklarer ist er, wenn er eigentlich von der Bundestreue Gottes reden will). Die Offenbarung von Gerechtigkeit klingt nicht nach einer Gabe der Gerechtigkeit.
Zugegeben, man kann Vers 24 als Gabe verstehen: Alle werden „ohne Verdienst“ gerecht. Allerdings bezieht sich diese Gabe auf Rechtfertigung, Gnade und Erlösung, nicht auf Gerechtigkeit.
Die beiden abschließenden Verse machen meiner Meinung nach deutlich, dass Paulus den Genitiv tatsächlich als Besitz im breiteren Sinne versteht. Es geht darum, wie Gott gerecht ist. Wie kann er die Sünden, die früher begangen wurden, d.h. in der Zeit vor Christus, vergeben? Und wie zeigt er, dass er „in dieser Zeit“ gerecht ist? Wie kann er selber gerecht sein und gerecht machen, wer glaubt?
Die Antwort ist eine dichte Aussage über das Sühneopfer in Römer 3,24f, ein wichtiger Teil des Themas, über das ich als nächstes schreiben möchte.
Ich sehe daher keine Notwendigkeit, die Gerechtigkeit Gottes neu zu definieren. Gerechtigkeit bedeutet hier nicht Treue, sondern, nun ja, Gerechtigkeit. Gott ist gerecht, auch wenn er Sündern vergibt und – ein herrliches Paradoxon – die Gottlosen rechtfertigt.
Bildnachweis
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Literaturangaben
Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Baker, Mark D., und Joel B. Green. 2011. Recovering the Scandal of the Cross: Atonement in New Testament and Contemporary Contexts, 2nd ed (Downers Grove, IL: IVP Academic)
Horton, Michael Scott. 2018. Justification, New Studies in Dogmatics, 2 Bände (Grand Rapids, MI: Zondervan)
Irons, Charles Lee. 2015. The Righteousness of God: A Lexical Examination of the Covenant-Faithfulness Interpretation, Wissenschaftliche Untersuchungen Zum Neuen Testament. 2. Reihe, 386 (Tübingen: Mohr Siebeck)
Seifrid, Mark A. 2001. ‘Righteousness Language in the Hebrew Scriptures’, in The Complexities of Second Temple Judaism, Justification and Variegated Nomism, 1, Hrsg. Donald A. Carson, Peter T. O’Brien, und Mark A. Seifrid (Tübingen: Mohr Siebeck), S. 415-42
Keating, Corey. 2004. ‘Common Uses of Genitive Case’, Version 2.1 <https://www.ntgreek.org/pdf/genitive_case.pdf> [abgerufen 4. Juni 2020]
Wright, N. T. 2013. Paul and the Faithfulness of God, Christian Origins and the Question of God, Band 4 (London: Society for Promoting Christian Knowledge)