Kanaanitische Mythologie in der Bibel?

Das AT lehnt die kanaanitische Religion konsequent ab. Der Baalsdienst, ein Dauerproblem im vorexilischen Israel, wird nachdrücklich verurteilt. Obwohl die kanaanitische Mythologie nicht direkt angesprochen wird, können wir davon ausgehen, dass sie den Jahweh-treuen Israeliten ebenso ein Dorn im Auge war. Die Mythologie legt die Grundlage dafür, Baal und andere Götter als Herrscher über Himmel und Erde zu verstehen.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST. Den deutschen Text gibt es als Dowload in WORD und PDF.

Umso überraschender ist das Vorhandensein von Elementen oder Fragmenten in der hebräischen Bibel, die eindeutig die kanaanitische Mythologie widerspiegeln. Natürlich können wir nicht sicher sein, dass sie tatsächlich von den Kanaanitern übernommen wurden, aber die Ähnlichkeit legt dies nahe.

In dieser Ausgabe bespreche ich drei solcher Elemente: den Wolkenfahrer, den Berg Zaphon im hohen Norden sowie die Idee einer göttlichen Ratsversammlung. In einer späteren Ausgabe werde ich mich mit Drachen und anderen Ungeheuern und dem sogenannten Chaoskampf-Motiv beschäftigen.

Wolkenfahrer

Von Baal wird in kanaanitischen Texten oft als Wolkenfahrer gesprochen. Als der Sturmgott erscheint er in Gewitter, Sturm und Regen. Die Wolken können somit als sein Streitwagen aufgefasst werden. Baal reitet aus, um Regen zu bringen. Oder er fährt als Krieger auf seinem Wolkenwagen in die Schlacht. Einige Beschreibung von JHWH (der hebräische Name des Gottes Israels wird ohne Vokale geschrieben) verwenden eine ähnliche Sprache.

Es ist bemerkenswert, dass dieses Element nur in poetischen Texten vorkommt. Es soll wahrscheinlich darauf hinweisen, dass JHWH, nicht Baal, der wahre Wolkenfahrer und damit der wahre Spender von Regen und Fruchtbarkeit ist. Dennoch ist es bemerkenswert, dass solch eine Baal-ähnliche Symbolik verwendet werden kann, um Israels Gott zu beschreiben:

Siehe, der HERR wird auf einer schnellen Wolke fahren und über Ägypten kommen. (Jes. 19,1)

Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und kommst daher auf den Fittichen des Windes. (Ps. 104,3; vgl. Ps 18,10f)

Er fährt einher durch die Himmel, die von Anbeginn sind. (Ps. 68,34; vgl. Ps. 68,5)

Es ist kein Gott wie der Gott Jeschuruns, der am Himmel daherfährt dir zur Hilfe und in seiner Hoheit auf den Wolken. (5. Mo. 33,26)

Kurz gesagt, eine Eigenschaft Baals wird JHWH zugeschrieben und drückt aus, dass Macht und Vorherrschaft allein JHWH gehören. Er ist die wahre Version, wovon Baal nur eine falsche und schwache Nachahmung ist.

Jebel Aqra, alias der Berg Zaphon (Anthiok 2008)

Der Berg Zaphon (der hohe Norden)

Psalm 48 beschreibt den heiligen Berg und Jerusalem als Stadt Gottes mit überraschenden Worten: „Schön ragt empor der Berg Zion, daran sich freut die ganze Welt, der Gottesberg fern im Norden, die Stadt des großen Königs“ (Ps 48,3).

Fern im Norden? Jerusalem liegt ungefähr in der Mitte des Landes Israel, nicht irgendwo im Norden.

Die Erklärung für diese merkwürdige Ortsangabe finden wir in der kanaanitischen Mythologie. Baal, so glaubte man, hatte seinen Palast auf dem Berg Zaphon (hebr. zaphon = Norden) gebaut. Dieser Berg, heute bekannt als Jebel Aqra, liegt 30 Kilometer nördlich von Ugarit, an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien. Er ist 1717 m ü. M. Durch seine Lage nahe am Meer ist er von weitem sichtbar. Der Berg ist bekannt für die Gewitter an seinen Hängen. Deshalb glaubte man, dass Baal dort lebte.

Der Berg Zaphon erscheint auch in den Worten, die Jesaja dem König von Babylon in den Mund legt: „Ich will in den Himmel steigen und meinen Thron über die Sterne Gottes erhöhen, ich will mich setzen auf den Berg der Versammlung im fernsten Norden“ (Jes. 14,13). Ziel des Königs ist es, sich mit den Göttern und ihrer Versammlung zu verbinden. Der Vers spiegelt die gleichen Vorstellungen über den Sitz Baals wider.

Es ist zu beachten, dass der hebräische Text von Psalm 48, „fern im Norden“, keine Präposition enthält. Der Berg Zion befindet sich nicht fern im Norden; er ist der ferne Norden. Anders gesagt: Was vom Berg Zaphon, dem Berg im fernen Norden, behauptet wird (dass Baal dort herrscht), trifft in Wirklichkeit auf JHWH und den Berg Zion zu. Zion ist die wahre Wohnstätte des höchsten Gottes.

Interessanterweise übersetzt die Zürcher Bibel wortgenau (d.h. ohne „in“): „… der Berg Zion, äusserster Norden“; die Hermann Menge Bibel übersetzt, erklärend: „… der Zionsberg, der wahre Götterberg“ – denn das ist gemeint: Zion, nicht Zaphon, ist der wahre Gottesberg.

Ich schließe mich deswegen der Schlussfolgerung von David Tsumura an (2015: 15):

Es ist also offensichtlich, dass die kanaanitische Religion auf verschiedene Weise Einfluss auf das religiöse Leben der Israeliten ausübte. Andererseits wurden diese kanaanitischen religiösen Praktiken von der prophetischen Religion vollständig abgelehnt, obwohl die biblischen Autoren manchmal kanaanitische Ausdrücke und göttliche Namen für metaphorische Zwecke übernahmen. Man sollte sorgfältig zwischen literarischen Metaphern und religiösem Synkretismus unterscheiden. Diese kanaanitischen Ausdrücke wurden von den biblischen Autoren entweder metaphorisch oder apologetisch verwendet.

Das allgemeine Prinzip ist: Die kanaanitische Mythologie liefert hilfreiche Hintergrundinformationen zum Verständnis des AT. Was aber nicht heißt, dass sie ähnliche Vorstellungen hat; dieser Punkt ist wichtig für das nächste Thema.

Die göttliche Ratsversammlung

Das Konzept einer göttlichen Ratsversammlung oder Zusammenkunft spielt eine wichtige Rolle; die genaue Bedeutung ist kontrovers. Ich werde mich mit der Arbeit von Michael Heiser auseinandersetzen, dessen Buch The Unseen Realm (2015b) besonders bekannt ist.

Heiser gelang es, seine Idee einem breiteren Publikum nahezubringen: JHWH, der Gott Israels, regiere die Welt durch einen Rat von elohim oder Göttern, ähnlich wie El oder Baal in der kanaanitischen Mythologie. Nach Heisers Ansicht hätten sich einige dieser Götter gegen Gott aufgelehnt, nachdem Gott sie als Statthalter oder Regenten über die Nationen eingesetzt hätte. Dabei handle es sich um eine dritte Rebellion im Himmel, nach der des Satans und der in 1. Mose 6. So seien sie Götter der Nationen geworden. Obwohl diese Götter dem Gott Israels weit unterlegen seien, existieren sie nach Heiser dennoch real.

Wie in der vorherigen Ausgabe besprochen, spricht die kanaanitische Mythologie von den 70 Söhnen Els. Sie alle waren auch Götter und gehörten dem Rat Els an. Zu ihnen gesellte sich im Rat mindestens eine weitere Gruppe von Himmelswesen: Engel oder Boten, die eine Stufe niedriger standen.

Die Frage stellt sich jetzt: Verfügt Gott ebenfalls über einen solchen „Staatsrat“?

Götter und Engel auf Hebräisch

Bevor wir uns damit befassen, brauchen wir etwas hebräisches Vokabular.

El ist nicht nur ein Name, sondern auch ein Wort, das Gott bedeutet. Sein Plural ist elim.

Elohim ist eine Pluralform, wird aber oft als Singular verwendet und bedeutet Gott. Je nach Kontext kann es auch eine Pluralbedeutung haben. In diesen Fällen ist seine Bedeutung normalerweise Götter. Sowohl el als auch elohim können sich auf den Gott Israels beziehen.

Dann gibt es die bene elohim oder bene elim, wörtlich die Söhne Gottes oder der Götter. Zum ersten Mal erscheinen diese Götter oder Söhne Gottes in 1. Mose 6 in einem schockierenden Zusammenhang. Es gibt aber auch gute Gottessöhne, die JHWH treu blieben. Der Begriff ist selten; wir finden ihn in Psalm 29, 82 und 89, in 5. Mose 32,8 und in Hiob 1 und 2.

Eine Frage in der Kontroverse, mit der wir uns befassen werden, ist, ob diese Söhne Gottes gleichzeitig Engel sind oder ob wir es mit zwei unterschiedlichen Kategorien zu tun haben.

Das hebräische Wort, das mit Engel übersetzt wird, mal‘akh, bedeutet wörtlich Bote, ähnlich wie das griechische Wort angelos, von dem sich unser Wort ableitet.

Es werden noch weitere Begriffe verwendet. In Psalm 103,20f werden Engel auch als Helden, Diener und Heerscharen bezeichnet, die bereit sind, Gottes Willen zu gehorchen und seine Befehle auszuführen.

Ein weiterer Begriff ist Heilige. Er kann für Himmelwesen verwendet werden (so in Hiob 5,1; 15,15; Ps. 89,6-8; Sach. 14,5; Dan. 4,10, 14, 20; in Dan. 4 werden sie auch Wächter genannt). Wer genau sind diese Heiligen: Gottessöhne, Engel oder beides? Psalm 89,6-8 spricht von „der Versammlung der Heiligen“ und scheint die Söhne elims (die „Himmlischen“ in der Lutherbibel) einzuschließen. Wenn Engel und Gottessöhne zu unterscheiden sind, ist es unklar, ob die Bezeichnung Heilige auch Engel einschließen kann, als übergeordneter Begriff, oder sich nur auf Gottessöhne bezieht.

Aber vielleicht (obwohl Heiser es anders sieht) sind alle diese Begriffe in etwa synonym oder überschneiden sich zumindest. Der Begriff Heerscharen des Himmels scheint auf jeden Fall weit und umfassend zu sein. Der allgemeine Bezug auf Gott als HERR der Heerscharen legt dies nahe. In The Message übersetzt Eugene Peterson (2005) treffend: Gott der Engelheere (was übrigens darauf hindeutet, dass Engel mehr tun, als nur Botschaften zu überbringen). Mehr dazu in Anhang 2.

Überbleibsel und literarisches Motiv oder wesentliche Glaubensüberzeugung?

Die entscheidende Frage ist: Haben wir es mit Relikten zu tun, Überbleibsel kanaanitischer Glaubensvorstellungen, die auf verschiedene Weise für literarische und rhetorische Zwecke verwendet werden, ähnlich wie Wolkenfahrer und Berg Zaphon? Oder handelt es sich um ein wesentliches Element der israelitischen Theologie und Weltanschauung (und ist es deshalb vielleicht auch für uns essenziell)?

Michael Heiser vertritt die zweite Möglichkeit. Er spricht sogar von der „göttlichen Ratsversammlung als Weltanschauung der Bibel“ (Heiser 2015a) und von einer „Ratsversammlung der Götter“ (Heiser 2008: 2). Er definiert diese Versammlung wie folgt:

Ein von hebräischen Bibelforschern verwendeter Begriff für die himmlische Heerschar, die Versammlung der göttlichen [!] Wesen, die unter Jahwe, dem Gott Israels, die Angelegenheiten des Kosmos verwalten. Alle antiken Mittelmeerkulturen hatten eine Vorstellung von einer göttlichen Ratsversammlung, auch Israel. Allerdings war der göttliche Rat der israelitischen Religion atypisch. (Heiser 2016)

Was gehört also zu dieser Weltanschauung? In Heisers eigener Darstellung:

Die israelitische Religion kannte eine Versammlung himmlischer Heerscharen unter der Autorität Jahwes. Diese Versammlung hat eine sehr enge Verwandtschaft [!] mit den Pantheons des alten Orients, insbesondere mit dem Pantheon der kanaanitischen Religion. (Heiser 2011: 2; eine kühne Behauptung, wenn man bedenkt, dass sich aus dem AT nichts wie ein Pantheon, eine Übersicht über die Götter einer bestimmten Religion, konstruieren lässt – wie viele Mitglieder des vermeintlichen Rates kennen wir namentlich?)

Das AT weist einen Rat mit drei Ebenen auf … In der israelitischen Religion war Jahwe, auf der obersten Stufe, die höchste Autorität über den göttlichen Rat, der eine zweite Stufe von geringeren Elohim („Göttern“) umfasste, die auch „Söhne Gottes“ oder „Söhne des Höchsten“ genannt wurden. Die dritte Ebene bestand aus den mal‘akhim („Engeln“). (Heiser 2012b; vgl. 2001: 67)

Es gibt solide Belege [!] in der hebräischen Bibel für einen Rat mit drei Ebenen. (Heiser 2016; eine weitere kühne Behauptung, angesichts des Mangels an Beweisen; siehe Anhang 2.)

Ein weiteres Element in Heisers Sicht ist die Rolle der Ratsmitglieder bei der Herrschaft über die Völker. Heiser stützt sich dabei auf seine Interpretation von 5. Mose 32,8, wo es heißt, dass Gott „die Grenzen der Völker nach der Zahl der Söhne [Gottes]“ festlegte. Manche Übersetzungen, darunter die Lutherbibel, enthalten hier „die Söhne Israels“, aber wahrscheinlich ist „Söhne Gottes“ die richtige und ursprüngliche Lesart (siehe Anhang 3). Nach Heisers Verständnis geschah dies unmittelbar nach dem Turmbau zu Babel (1. Mo. 11,8). Zu diesem Zeitpunkt habe Gott die Völker den Söhnen Gottes zugeteilt. Gott habe somit nicht den Völkern ihren Erbteil gegeben, sondern habe die Nationen als Erbteil vergeben. Später hätten manche dieser Söhne Gottes rebelliert und seien von Gott zur Rechenschaft gezogen worden, wie in Psalm 82 festgehalten. In Heisers eigenen Worten:

Die Folgen des Zwischenfalls von Babel zeigen, dass Jahwe erwartete, dass die Ratsmitglieder ihre eigene freie Entscheidungsfähigkeit nutzen würden. In 5. Mose 4,19-20 und 32,8-9 teilte Jahwe die Völker auf und wies sie geringeren Göttern zu [eine weitere kühne Behauptung, wie in Anhang 3 sichtbar wird] … Jahwe delegierte Autorität – Er verwarf die Nationen als sein eigenes Volk und nahm Israel als seinen Anteil. Obwohl Jahwe letztlich souverän ist, regiert er die anderen Völker nicht direkt. Er überlässt das den Untergebenen, die nach seinem Willen regieren sollen. Wenn sie das nicht tun, werden sie verurteilt. Das ist genau der Punkt von Psalm 82, wo Jahwe die Götter seines Rates richtet, die für die korrupte Herrschaft über die Völker der Erde verantwortlich sind. (Heiser 2016)

Schließlich wurden die „Söhne Gottes“, denen die Völker nach dem Turmbau zu Babel zugewiesen wurden, an irgendeinem Punkt in der Ausführung ihrer Aufgabe verdorben. In Psalm 82 geht es um ihr Gericht. Diese territorialen Mächte sind die Grundlage für die übernatürlichen „Fürsten“, die in Daniel 10 mit den Völkern in Verbindung gebracht werden, sowie für die „Fürstentümer“, „Herrscher“, „Mächtigen“, „Throne“ und „Gewalten“, von denen Paulus an verschiedenen Stellen schreibt (z. B. Eph. 6,11-12). Alle diese Begriffe sprechen von geographischer Herrschaft und sind daher geeignet, die Situation zu beschreiben, die in der biblischen Geschichte nach Babel entstanden ist. (Heiser 2018: Kindle Loc. 1782-6)

Nach Heisers Verständnis ist in 5. Mose 32,8 und Psalm 82 viel los. Das erklärt die außerordentliche Bedeutung dieser Bibelstellen für Heisers Rekonstruktion (wie sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten zeigt, z. B. Heiser 2001, 2010, 2011). Leider sind diese Bibelstellen nicht so klar, wie für Heisers Thesen notwendig wäre; beide sind offen für recht unterschiedliche Interpretationen, wie wir sehen werden.

Da diese Ausgabe lang ist, werde ich 5. Mose 32,8 in einem Anhang (Anhang 3) besprechen. Die Frage des Polytheismus (Anhang 1) und der Engel und Gottessöhne (zwei Klassen? Anhang 2) wird ebenfalls Gegenstand eines Anhangs sein.

Die Ratsversammlung im Alten Testament

Mit diesem Vokabular und der entscheidenden Frage (Überbleibsel oder wesentliches Element?) geklärt, wenden wir uns nun den biblischen Belegen zu.

Noch eine Bemerkung nebenbei: Die Idee einer Versammlung wird – mit Abstand – am häufigsten erwähnt, wenn von der Gemeinde oder Versammlung Israels die Rede ist. Der Versammlung von Gottes Volk auf der Erde wird in der Bibel weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt als ihrem himmlischen Gegenstück. Die Tabelle zeigt eine Zählung von drei wichtigen Substantiven. Nur sechsmal werden sie verwendet, um von einer himmlischen Versammlung zu sprechen.

HebräischDie VorkommenDavon im Himmel
Sod214
Edah1491
Qahal1231

Natürlich kann von einer himmlischen Versammlung auch gesprochen werden, ohne dass eines dieser drei Substantive vorhanden ist, aber dennoch ist das Verhältnis auffällig. Es deutet darauf hin, dass die Bibel nicht so viel über eine himmlische Ratsversammlung zu sagen hat, wie wir vielleicht möchten. Der Schwerpunkt der Bibel liegt auf der Gemeinde Gottes auf Erde. Interessanterweise lesen wir in der hebräischen Bibel nie von den 70 Söhnen Gottes, aber wir lesen von 70 Mitgliedern von Jakobs Haushalt, die nach Ägypten zogen (1. Mo. 46:27). Ihre Nachkommen bekommen viel Aufmerksamkeit.

Dennoch existiert auch die himmlische Ratsversammlung; Gott ist im Himmel nicht allein. Eine riesige Schar ist bei ihm. Aber wer? Was sind das für Wesen und was tun sie?

Hiob

Beginnen wir mit dem Buch Hiob. In Hiob 1,6ff kamen „die Gottessöhne [bene elohim]“ und traten vor den HERRN. Unter ihnen war eine Gestalt, die Satan oder Widersacher genannt wird. Offensichtlich findet eine Art himmlische Versammlung statt, aber wir erfahren so gut wie nichts über deren Zweck und Aufbau und noch weniger über die Söhne Gottes. Es werden keine Details genannt. Das Gleiche gilt für Hiob 2,1-6. Die Gottessöhne werden ein weiteres Mal erwähnt, in Hiob 38,7. Sie waren bei der Schöpfung anwesend und „lobten und jauchzten“.

Es gibt noch einige weitere Hinweise in Hiob, die unser Thema berühren (Hiob 4,8; 5,1; 15,8; 15,15), aber ebenfalls ohne irgendwelche Details zu nennen.

Genesis

Im Schöpfungsbericht in 1. Mose 1 finden wir keine Beteiligung eines himmlischen Rates, mit einer möglichen Ausnahme in 1. Mose 1,26. Gott ist bei der Schöpfung der einzige Handelnde. Der Text ist polemisch; als Antithese zu den Schöpfungs- und Gründungsmythen des Alten Orients zeigt er eine starke Tendenz zur Entmythologisierung der Schöpfung:

  • Es gibt keinen Kampf mit einer gegnerischen Kraft oder einem Ungeheuer, das das Chaos oder die Nicht-Ordnung repräsentiert.
  • Die Tiefe in 1. Mose 1,2 ist einfach formloses, dunkles, leeres Wasser. Anders als in den alten Mythen ist dieses Urmeer weder böse noch in irgendeiner Weise lebendig.
  • Die Sonne, der Mond und die Sterne sind nur Lichter und Indikatoren der Zeit und keine göttlichen Wesen.
  • In 1. Mose 1,21 werden Meeresungeheuer erwähnt, in der Lutherbibel unglücklich mit „Walfische“ übersetzt; besser ist „große Seetiere“ (so Herman Menge, Zürcher Bibel; vgl. die Parallele in Ps. 104,26, wo wörtlich vom „Leviathan“ die Rede ist). Aber diese Tiere sind keine Bedrohung für Gott; wie in Psalm 104 und Hiob 41 geht es einfach um weitere Geschöpfe, die er geschaffen hat.

Wenn es also noch jemanden gibt, wenn in 1. Mose 1 eine göttliche Ratsversammlung anwesend ist, dann versteckt sie sich – je nach Übersetzung – in zwei oder drei kurzen Wörtern: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei“ (1. Mo. 1,26; Hervorhebung hinzugefügt).

Die plötzliche Pluralform, nur hier, ist eine Überraschung. Was bedeutet sie?

Etwas Ähnliches kommt noch dreimal in der Bibel vor. In 1. Mose 3,22 sagt Gott: „Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“ In 1. Mose 11,7 sagt er: „Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren.“ Und in Jesaja 6,8: „Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein?“ Zumindest in Jesaja 6 wissen wir, dass Gott von zwei oder mehr seraphim begleitet wird. Aber in 1. Mose scheint er allein zu sein. Oder doch nicht?

Es ist unwahrscheinlich, dass wir es hier mit einem frühzeitigen Hinweis auf die Dreifaltigkeit zu tun haben: der eine Gott als Pluralität von Personen, als ob Vater, Sohn und Heiliger Geist hier ein Gespräch miteinander führen. Pluralis majestatis, das königliche Wir, ist im Hebräischen unbekannt. Ist dies also ein subtiler Hinweis darauf, dass Gott doch nicht allein war, ein Überbleibsel der göttlichen Ratsversammlung, die in heidnischen Schöpfungsmythen so prominent ist?

Wenn ja, dann ist es kaum eine Bestätigung für die Bedeutung einer solchen Ratsversammlung, und noch weniger für ihre Rolle. Sie ist so gut wie verschwunden und spielt keine aktive Rolle. Abgesehen von den wenigen Pluralpronomen bleibt sie völlig unsichtbar.

Es stellt sich in dem Fall die Frage, ob es Sinn macht, die gesamte Götterversammlung herauszuschneiden – mit Ausnahme dieses einen Überrestes, eines letzten, unklaren Verweises auf etwas, das im weiteren Kontext des Buches nicht explizit gemacht wird (abgesehen, möglicherweise, von 1. Mose 6 – einer schwierigen Passage).

Vielleicht geht es dem Autor also um etwas anderes. Vielleicht versucht er, eine komplexe und tiefgründige Idee auszudrücken. Irgendwie ist Gott einer, und doch ist er keine Singularität. Er ist einer, aber er ist gleichzeitig größer als die Idee eins, er transzendiert diese Idee. Es gab – noch – keine bessere Möglichkeit, dies auszudrücken.

Es kann aber auch sein, dass die Pluralpronomen tatsächlich auf die Anwesenheit von Himmelswesen hinweisen. Hiob 38,7 deutet darauf hin, dass sie zu dieser Zeit existierten und Zeuge dessen waren, was Gott tat. Mehr aber nicht.

1. Könige 22

Jetzt kommen wir zu einer ausführlicheren Beschreibung einer himmlischen Ratsversammlung. Als Teil von Michas Antwort an König Ahab beschreibt der Prophet eine Vision:

Darum höre nun das Wort des HERRN! Ich sah den HERRN sitzen auf seinem Thron und das ganze himmlische Heer neben ihm stehen zu seiner Rechten und Linken. Und der HERR sprach: „Wer will Ahab betören, dass er hinaufzieht und vor Ramot in Gilead fällt?“ Und einer sagte dies, der andere das. Da trat ein Geist vor und stellte sich vor den HERRN und sprach: „Ich will ihn betören.“ Der HERR sprach zu ihm: „Womit?“ Er sprach: „Ich will ausgehen und will ein Lügengeist sein im Munde aller seiner Propheten.“ Er sprach: „Du sollst ihn betören und sollst es ausrichten; geh aus und tu das!“ Nun siehe, der HERR hat einen Lügengeist gegeben in den Mund aller deiner Propheten; und der HERR hat Unheil gegen dich geredet. (1. Kö. 22,19-23)

Heiser (2016) nimmt die Geschichte, die als rhetorisches Instrument eingesetzt wird, als eine direkte und faktische Beschreibung des Himmels: Hier wird in der Ratsversammlung Gottes diskutiert und beraten.

Wir haben in der Tat eine klare Parallele zum kanaanitischen Konzept. Es gibt aber ein Problem: Die Erzählung wird in prophetischer Rede verwendet – um einen Punkt zu machen, nicht um darzulegen, wie der Himmel funktioniert und Entscheidungen trifft. Oder sollen wir wirklich glauben, dass Lügengeister Mitglieder von Gottes Ratsversammlung sind und er auf sie hört? Micha erzählt eine scharfsinnige und bissige Geschichte, die in mancher Hinsicht einem Gleichnis ähnlich ist. Wir sollten nicht erwarten, dass sie sachlich und historisch in jeder Hinsicht „wahr“ ist.

Daniel

Das Buch Daniel enthält mehrere Erscheinungen von himmlischen Wesen, zum Teil unter Verwendung seiner eigenen Terminologie. Es gibt uns sogar zwei Namen: Gabriel und Michael. Die ausführlichste Beschreibung des Himmels finden wir in Kapitel 7.

In Daniel 7,9f wird „einer, der uralt war“ beschrieben in Begriffen, die an den Gott El in der kanaanitischen Mythologie erinnern. Er setzt sich in der Gegenwart einer riesigen himmlischen Schar nieder. Es handelt sich eindeutig um das himmlische Gericht, das tagt. „Das Gericht wurde gehalten“, wird uns gesagt – aber wer richtet, und wie? Und was ist mit den vielen Millionen von weiteren Anwesenden? Wieder erfahren wir nur wenig über die himmlische Schar.

Psalm 29,1

Psalm 29 verwendet eine Sprache, die die alten Israeliten an Baal, den Gott des Donners, erinnert hätte. Auch hier geht es darum, zu zeigen, dass JHWH, nicht Baal, stark und mächtig ist. Vers 1 ruft die „Himmlischen“, wörtlich bene elim, Söhne der Götter, auf, Gott zu loben.

Da der Psalm mit dem Bekenntnis endet, dass Gott für ewig als König thront (Ps. 29,10), scheint die Szene im Himmel stattzufinden, wo die Söhne der elim aufgerufen sind, ihn anzubeten. Weitere Einzelheiten gibt der Psalm nicht her.

Psalm 89,6-8

Psalm 89,6-8 spricht eindeutig von einer himmlischen Versammlung und verwendet zwei der relevanten hebräischen Substantive:

Und die Himmel werden, HERR, deine Wunder preisen

und deine Treue in der Gemeinde [Hebr. qahal] der Heiligen.

Denn wer in den Wolken könnte dem HERRN gleichen

und dem HERRN gleich sein unter den Himmlischen [Hebr. bene elim, Söhne der Götter]?

Gott ist gefürchtet in der Versammlung [Hebr. sod] der Heiligen,

groß und furchtbar über alle, die um ihn sind. (Ps. 89,6-8)

Es scheint, dass Söhne der elim anwesend sind, aber es ist nicht klar, ob die „Heiligen“ auch andere außer ihnen einschließt oder ob die beiden Ausdrücke Synonyme sind. Die einzige Tätigkeit, von der hier die Rede ist, ist wieder einmal der Lobpreis.

Psalm 82

Schließlich kommen wir zu Psalm 82, dem vielleicht wichtigsten Baustein für Heisers These. Er verdient aus dem Grund eine längere Erläuterung. Nach Psalm 82,1 findet eine Versammlung Els (so wörtlich: eine edah von El) statt; die Götter (Hebr. elohim) werden gerichtet. Gott wirft ihnen ihre Ungerechtigkeit vor (Ps. 82,2-4) und spricht das Urteil:

Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter [Hebr. elohim]

und allzumal Söhne des Höchsten;

aber ihr werdet sterben wie Menschen

und wie ein Tyrann zugrunde gehen. (Ps. 82,6f; streng genommen unterscheiden sich „Söhne des Höchsten“ und „Söhne Gottes“; die Bedeutung ist aber nahezu gleich)

Die Aussage ist gleich zweifach schockierend. Gibt es andere Götter neben JHWH? Und haben die Mitglieder seines Rates sich schuldig gemacht?

Genau so sieht es Heiser. Traditionell wird Psalm 82 so verstanden, dass es um die Richter oder eventuell auch Herrscher Israels geht, die als Götter bezeichnet werden, weil sie Gott repräsentieren. Oder vielleicht geht es um das Volk Israel als Ganzes; schließlich nennt 5. Mose 14,1 Israel „Kinder [wörtlich „Söhne“] des HERRN, eures Gottes“. In diesem Fall würde die Ratsversammlung auf der Erde stattfinden.

Heiser lehnt diese Interpretation ab. Er besteht darauf, den Psalm im Licht von Psalm 89,6-8 zu lesen. Er argumentiert, dass die Versammlung im Himmel tagt und folglich die elohim nicht Menschen, sondern himmlische Wesen (Götter) sind:

Die אֱלֹהִים (elohim) von Jahwes Rat in Psa 82 sind göttliche Wesen, nicht menschliche Herrscher. Dies geht aus der Parallelstelle in Ps 89,5-8 hervor. In Psa 82,6 werden die אֱלֹהִים (elohim) im Plural „Söhne des Höchsten“ genannt. Diese אֱלֹהִים (elohim) sind nicht menschlich, da Psa 89,7 (Psa 89,6 in der englischen Bibel) ihre Versammlung oder ihren Rat in den Wolken oder Himmeln (בַשַּׁחַק, vashshachaq) und nicht auf der Erde lokalisiert. (Heiser 2016)

Heiser verbindet Psalm 82 mit 5. Mose 32,8. Das ist ein großer Schritt. Es gibt wenig oder nichts im Text von Psalm 82, was darauf hindeutet; es gibt keine offensichtliche Beziehung zu 5. Mose 32,8. Heiser kommt auf Grund von 5. Mose 32,8 zu dem Schluss, dass die elohim und die Söhne der elohim/elim zu Herrschern oder Statthaltern über die Nationen eingesetzt wurden. Als solche waren sie ungehorsam und wurden so zu den Göttern dieser Nationen:

Die Enterbung der Nationen und ihre Unterwerfung unter die Söhne Gottes in Dtn 4,19-20; 32,8.9 stellen einen souveränen Akt Jahwes dar, mit dem er die direkte Herrschaft der rebellischen Menschheit zurückweist. Dass die Söhne Gottes in dieses Vakuum einziehen, wird nicht als Anmaßung geschildert. Sie wurden von Jahwe über die Nationen gesetzt und dann später in Psalm 82 für ihre korrupte Verwaltung gerichtet. (Heiser 2008: 26)

So weit Heiser; was folgt, ist meine Kritik.

1. Selbst, wenn Psalm 89,6-8 im Himmel angesiedelt ist, beweist das nicht, dass Psalm 82 das auch ist. Das müsste auf Grund von Psalm 82 selbst nachgewiesen werden: Welche Gemeinde JHWHs ist im Blick? Es könnte Israel sein. Oder auch nicht. Aber Psalm 89 gibt dazu keine Auskunft.

2. Heiser glaubt, der göttliche Rat sei mit Göttern bevölkert. In den relevanten ugaritischen Texten scheinen die Begriffe Götter und Göttersöhne austauschbar zu sein (Heiser 2001: 67), aber im Hebräischen ist dies nicht der Fall. Der hebräische Text ist vorsichtiger. Er vermeidet es, von „Göttern“ zu reden, wenn es um Gottes Rat geht. Nur in Psalm 82 wird der Ausdruck „Söhne von …“ zusammen mit dem Wort elohim verwendet; nur in Psalm 82 erscheinen elohim explizit als Anwesende in Gottes Versammlung.

Anders gesagt: Nirgendwo sonst werden die Gottessöhne als Götter bezeichnet. Das ist mit Sicherheit bedeutsam. Es deutet darauf hin, dass die Verfasser mit den Grenzen des ihnen zur Verfügung stehenden Vokabulars gerungen haben, so wie wir es auch tun. Dies könnte ihr Versuch sein, zum Ausdruck zu bringen, dass diese Wesen Gott oder Göttern nahestehen, aber immer noch eine Stufe niedriger als Götter sind. Das Wort elohim wird in der Bibel ohne weiteres für Götter verwendet, die auf der Erde verehrt werden, aber nicht für Mitglieder der himmlischen Versammlung Gottes.

Aus diesem Grund leidet Heisers These, dass die Gottessöhne selbst Götter sind und dass Gottes Ratsversammlung die Götter einschließt, an einem Mangel an Beweisen, sobald Psalm 82 anders interpretiert wird.

3. Der Psalm ist seltsamer, als Heiser zugibt. Er enthält eine ungewöhnliche Kombination. Die erwähnten Elemente passen nicht zusammen. Das gilt unabhängig davon, ob Psalm 82 von den Richtern Israels, von Israel insgesamt oder von einer Klasse von (halb-)göttlichen himmlischen Wesen spricht.

Zunächst kündigt der Psalm an: „Ihr werdet wie Menschen sterben“ (Ps. 82,7). Wie können Götter sterben? Heiser entgegnet, dass Menschen nicht „wie Menschen“ sterben können. Das überzeugt nicht. Wir könnten umschreiben: wie [andere] Menschen [auch] sollt ihr [ebenso] sterben. Aber Götter?

Zweitens spricht der Text davon, gerecht zu urteilen und die Schwachen und Bedürftigen zu retten (Ps. 82,2-4). Wie tun Götter dies? Heiser (2010: 14) behauptet: „Nirgendwo in Psalm 82 finden wir einen Hinweis auf das mosaische Gesetz, den Sinai, ein jüdisches Volk oder die kanonische Offenbarung, die den Juden gegeben wurde.“ Dies ist eine erstaunliche Behauptung, wenn man bedenkt, dass Gerechtigkeit zu üben und die Armen und Waisen zu schützen ein zentrales Anliegen des Gesetzes ist; die gesamte Anklageschrift in Psalm 82 stützt sich darauf.

4. Die Verbindung zu 5. Mose 32,8 (mehr zu diesem Vers in Anhang 3) ist zu spekulativ, dass sie in unserer Interpretation von Psalm 82 Gewicht haben sollte.

5. Es gibt andere Möglichkeiten, Psalm 82 zu verstehen. Asaph könnte die Götter der Völker anklagen, indem er die Vorstellung einer aus Kanaan bekannten göttlichen Ratsversammlung nutzt, ohne damit eine informative Aussage über Gottes Wirken im Himmel zu beabsichtigen. Es könnte ein literarischer Kunstgriff sein, keine Tatsachenbeschreibung – ein Stilmittel, das dazu dient, den Götzendienst (und seine Götter) für seine schlechte Bilanz bei der Förderung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit prophetisch zu tadeln. Es ist schließlich ein prophetischer Psalm, also können wir erwarten, dass er eher unkonventionell vorgeht.

Psalm 82 in Johannes 10

Es gibt eine weitere Komplikation bei der Auslegung von Psalm 82: Er wird von Jesus in Johannes 10,34 zitiert. Jesus hat gerade von sich selbst gesagt: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh. 10,30). Daraufhin wollen die Juden ihn steinigen, weil er sich selbst zu Gott gemacht hat. Jesus verteidigt sich so:

Jesus antwortete ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: „Ich habe gesagt: Ihr seid Götter“? Wenn er die Götter nennt, zu denen das Wort Gottes geschah – und die Schrift kann doch nicht gebrochen werden –, wie sagt ihr dann zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott –, weil ich sage: Ich bin Gottes Sohn? (Joh. 10,34-36)

Indem Jesus das Zitat so einleitet, impliziert er wahrscheinlich, dass „ihr“ in „ihr seid Götter“ die Zuhörer einschließt.

Heiser (2010: 14) argumentiert, dass dies ein schwaches „Ich auch“-Argument ist; Jesus würde lediglich sagen: Wenn das Wort Gott auf Israel angewandt werden kann, kann ich es auch für mich verwenden. Das Argument ist aber nicht „ich auch“, sondern „wie viel mehr“. Unabhängig davon, ob die ursprüngliche Aussage sich auf Menschen oder auf himmlische Wesen bezog, funktioniert das Argument: Wenn es für sie gilt (oder galt), wie viel mehr gilt es dann für den, der vom Vater in die Welt gesandt wurde.

Die Rabbiner verstanden Psalm 82 so, dass er von Israel spricht. Das Wort Gottes kam zu ihnen am Berg Sinai:

Der Bezug der Stelle zu Israels Richtern ist ebenfalls unwahrscheinlich; in Johannes 10,35 heißt es, die Empfänger des Spruchs „Ich habe gesagt: Ihr seid Götter“ seien „die, zu denen das Wort Gottes gekommen ist (ἐγένετο)“; dies ist am besten so zu verstehen, dass es die um den Berg Sinai versammelten Stämme Israels beschreibt, wie praktisch alle Rabbiner glaubten. In diesem Zusammenhang sollten wir uns an die Bedeutung von 2. Mose 4,21-22 für die Juden erinnern: „Israel ist mein erstgeborener Sohn…. Lass meinen Sohn gehen, dass er mir diene.“ (Beasley-Murray 1999: 176f)

Es ist unwahrscheinlich, dass die Zuhörer Jesu dies anders verstanden hätten.

NT: Größere Klarheit

Der Untertitel von The Unseen Realm nennt Heisers Ziel: die „übernatürliche Weltsicht der Bibel“ wiederherzustellen. Ein Großteil der westlichen Welt macht sicherlich den Fehler, diese Seite der Realität zu wenig anzuerkennen. Ich stimme mit Heiser überein, dass die unsichtbare Welt real und wichtig ist.

Wo ich mit Heiser jedoch nicht übereinstimme, ist:

  • Heisers eindeutige Sprache von Göttern als Mitglieder des göttlichen Rates (siehe dazu Anhang 1)
  • Die Andeutung einer direkten Entsprechung zwischen Göttern, die auf der Erde angebetet werden, und den Söhnen der Götter resp. den Göttern im Himmel
  • Die vermeintlich dritte Rebellion, nach der des Satans und der der Söhne Gottes in 1. Mose 6

Es kann keine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen den von Menschen verehrten Göttern und den Söhnen Gottes (oder anderen himmlischen Wesen) geben. Die Welt der Götter auf Erden ist flexibel und wandelbar; neue Götter entstehen, alte werden vergessen. Die Anzahl und Beschaffenheit der Himmelswesen hingegen ändern sich nicht. Übrigens, wenn die Götter auf Erden doch elohim oder Söhne Gottes sind, was ist dann mit der Tatsache, dass etwa die Hälfte dieser Gottheiten weiblich ist? Weibliche Gottessöhne?

Heisers Argument stützt sich stark auf Psalm 82, 5. Mose 32,8 und eine Kette von Interpretationen und Schlussfolgerungen um diese Verse herum. Er baut zu sehr auf zwei notorisch schwierigen und umstrittenen Bibelstellen auf. Wenn irgendein Glied in der Kette reißt, ist Heisers Konstrukt eines Götterrates, durch den Gott die Welt regiert (Heiser 2015a), in Schwierigkeiten.

Zudem scheint das NT die Relikte der kanaanitischen Mythologie hinter sich gelassen zu haben. Keine Götter und keine Gottessöhne bevölkern den Himmel oder den Thronsaal Gottes. Die einzigen Söhne Gottes, die es noch gibt, sind Gläubige (Menschen!). Beschreibungen von Gottes himmlischem Thronsaal oder von den himmlischen Heerscharen reden nur von Engeln (plus vier cherubim und 24 Ältesten, falls sie nicht zu den Engeln zählen; Offb. 4). Wenn im Himmel ein Krieg ausbricht, kämpfen Michael und seine Engel gegen den Drachen und seine Engel (Offb. 12,7).

Davon zu sprechen, dass Götter die himmlische Welt bewohnen, ist nicht hilfreich und potenziell irreführend. Es gibt tatsächlich „Götter“, die auf der Erde verehrt werden. Aber im NT werden diese nicht als wirklich göttlich oder gar real betrachtet. Was wirklich existiert, sind dämonische Mächte im Hintergrund:

Was nun das Essen von Götzenopferfleisch angeht, so wissen wir, dass es keinen Götzen gibt in der Welt und keinen Gott als den einen. Und obwohl es solche gibt, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele Götter und viele Herren gibt, so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn. (1. Kor. 8,4-6; das Paradox: Es gibt sie, und es gibt sie nicht – es hängt davon ab, was man meint; die Lösung: Diese „Götter“ sind in Wirklichkeit etwas anderes, nämlich:)

Was will ich nun damit sagen? Dass das Götzenopfer etwas sei? Oder dass der Götze etwas sei? Nein, sondern was man da opfert, das opfert man den bösen Geistern und nicht Gott. Nun will ich nicht, dass ihr in der Gemeinschaft der bösen Geister seid. (1. Kor. 10,19f; cf. Dt. 32,17)

Viele Israeliten in alttestamentlicher Zeit mögen durchaus geglaubt haben, dass die Götter ihrer Nachbarn wirklich existierten. Sie hielten auch die Sterne als Heerscharen des Himmels für „beseelte Wesen“ (Heiser 2008: 24), ein universeller Glaube im Alten Orient. Das heißt aber nicht, dass wir das auch glauben sollten. Dies war ein Teil ihrer Welt. Es ist kein Teil, den wir übernehmen müssen. Ich glaube, dass sowohl Sterne als auch Engel existieren, aber nicht, dass jeder Stern die Darstellung oder Manifestation eines bestimmten Engels ist. Die Sterne sind keine geistigen Wesen. In Gottes Gerichtssaal gibt es keine anderen Götter. Denn es gibt keine anderen Götter – nicht wirklich.

Selbst im AT kommt diese Wahrheit gelegentlich zum Ausdruck:

[Schaut,] ob die Heiden ihre Götter wechseln, die doch keine Götter sind. (Jer. 2,11a)

Denn alle Götter der Völker sind Götzen; aber der HERR hat den Himmel gemacht. (Ps. 96,5; vgl. 1. Chr. 16,26; 5. Mo. 4,39)

Überbleibsel und literarisches Motiv oder wesentliche Glaubensüberzeugung?

Ich komme zum Ende eines weiteren langen Diskurses (obgleich noch drei Anhänge folgen) und kehre zu meiner Frage zurück: Ist der göttliche Rat ein weiteres Beispiel für die literarische Verwendung der kanaanitischen Mythologie, ähnlich wie der Wolkenfahrer und der Berg Zaphon, der ferne Norden?

Manchmal ja. Micha macht brillanten Gebrauch vom Konzept des kanaanitischen Rates, als er König Ahab konfrontiert (1. Kö. 22,19-23).

Es gibt jedoch einen bedeutenden Unterschied zu den anderen zwei Elementen. Das Konzept der göttlichen Ratsversammlung ist viel zu fest verwurzelt und wird viel zu ausgiebig verwendet, um ein bloßes Relikt zu sein, das für literarische Zwecke verwendet wird. Das Konzept wird bewahrt und weiterentwickelt; es wird sogar ins NT übertragen. Seine Entwicklung beinhaltet:

  • Die Mitglieder sind keine Götter, die dem König gleich oder fast gleichgestellt sind, sondern Himmelswesen (eben Söhne Gottes, nicht Götter).
  • Die Zahl der himmlischen Heerscharen ist riesig; es sind Hunderte von Millionen. Eine Parallele dazu in der kanaanitischen Mythologie ist mir nicht bekannt.
  • JHWH herrscht in dieser Versammlung, ohne Streit und Konkurrenz, mit wenigen Ausnahmen (Hiob 1f; nach Heisers Lesart, Psalm 82). Die himmlische Heerschar ist da, um ihm zu dienen. Das tun sie am häufigsten, indem sie ihn anbeten.

Letzteres ist zweifelsohne die wichtigste Entwicklung. In der Heiligen Schrift wird die himmlische Versammlung zu einem Ort der Anbetung, nicht der Debatten.

Anhang 1: Polytheismus? Und: Mit welcher Sprache können wir von Göttern sprechen?

Rutscht Heiser in den Polytheismus ab, da es in seinem Rat viele Götter gibt? Das glaube ich nicht. Ich verwende lieber andere Wörter, aber Heiser erklärt sorgfältig, was er meint (und nicht meint). JHWH ist einzigartig, „in einer Klasse für sich“, anders als alle anderen; nur er ist nicht geschaffen und ist selbst der Schöpfer aller anderen elohim (Heiser 2008: 29f).

Zu einem großen Teil ist es eine Frage der Semantik, der Wortbedeutung; es kommt darauf an, wie wir die Begriffe definieren. Dazu kommt: Wenn wir über das Göttliche sprechen, stoßen wir an die Grenzen der Sprache. Im Deutschen stehen wir vor einem ähnlichen Problem: Das Wort Gott bedeutet etwas anderes, je nachdem, ob wir es für JHWH oder für „andere“ Götter verwenden – die Götter sind oder nicht, je nachdem, was mit dem Wort gemeint ist. Zumindest die englische Sprache hat eine praktische Lösung: Sie neigt dazu, das Wort groß zu schreiben (God), wenn es um den einen Gott geht – und sonst klein (god).

Allerdings kommt es mir vor, dass Heiser in seiner Übersetzung von elohim inkonsequent ist, besonders in Bezug auf elohim im Himmel. Er weist zu Recht darauf hin, dass das hebräische Wort elohim einen breiteren und anderen Bedeutungsbereich hat als unser Wort Gott. Er argumentiert, dass das hebräische Wort nicht auf eine Reihe von Attributen hinweist, wie es das Wort Gott tut, sondern eher auf eine Sphäre oder einen Bereich: Es bezieht sich auf nicht-körperliche Wesen in der unsichtbaren Welt:

Alle Dinge, die in der hebräischen Bibel אֱלֹהִים (elohim) genannt werden, haben eines gemeinsam: Sie bewohnen alle den nicht-menschlichen Bereich. Das heißt, sie sind von Natur aus nicht Teil der Welt der Menschen, einer Welt der gewöhnlichen Verkörperung. אֱלֹהִים (elohim) als Begriff beschreibt den Wohnsitz – es identifiziert den angemessenen Lebensbereich der durch ihn beschriebenen Entität. Jahwe, die geringeren Götter, Engel, Dämonen und die körperlosen Toten sind alle rechtmäßige Bewohner der Geisterwelt. (Heiser 2016)

Aber wenn das so ist, ist Götter keine gute Übersetzung für die (Söhne der) elohim im Himmel, weil sie nicht die Attribute Gottes (oder der Götter) teilen. Stattdessen wäre Himmelswesen eine nahezu perfekte Übersetzung, da dies ein Begriff des Bereichs und nicht der Attribute ist.

Gleichzeitig macht die Übersetzung Götter durchaus Sinn, wenn man von den Göttern (elohim) der Völker spricht, wie sie auf der Erde verehrt werden. In diesem Fall handelt es sich eben doch um Attribute: Diese Götter werden verehrt, wenn auch zu Unrecht, und eine solche Verehrung ist Göttern vorbehalten. In den Augen ihrer Verehrer sind sie tatsächlich Götter.

Ein weiterer Punkt: Es lohnt sich, über die Sprache nachzudenken, die wir wählen, denn die falschen Wörter (und Worte!) können in eine falsche Richtung lenken. Ich schließe diesen Abschnitt mit einem Beispiel dafür ab. Die folgenden Zitate haben mit unserem Thema, nicht aber mit Heiser zu tun; sie stammen aus einer Quelle, die älter ist alle seinen Schriften. Diese Zitate zeigen, was es m.E. zu vermeiden gilt.

Das soll jedoch nicht bedeuten, dass die Israeliten die Existenz von Engeln oder geistigen Wesen leugneten. In der Tat bezeichneten sie diese Wesen oft als „Götter“. Mehr noch: Während viele Menschen heute Engel als eher harmlose Geschöpfe verstehen, als bloße Verlängerung von Gottes Willen, ohne eigenen Verstand und Willen, gehen die alttestamentlichen Autoren überall davon aus, dass diese Götter ein gutes Maß an autonomer Macht haben. (Boyd 1997: 115)

Wie wir weiter unten und in den folgenden Kapiteln sehen werden, ist ein Großteil der biblischen Tradition wie auch der Kirchengeschichte davon ausgegangen, dass alles in der Schöpfung direkt oder indirekt unter der Autorität eines Engels steht. Die Erde, der Wind, der Regen, die Sonne, die Tiere, die Vegetation und so weiter haben jeweils ihren eigenen Schutzengel. (Ebd.: 128; eine unglaubliche Aussage; der einzige Beweis, der in einer Fußnote erwähnt wird: Der Autor habe irgendwo gelesen, dass diese Idee dem Kirchenvater Augustinus zugeschrieben werde)

Wir haben also gesehen, dass das Alte Testament neben dem Verständnis, dass die Welt von feindlichen kosmischen Kräften umgeben ist, die Anwesenheit einer unsichtbaren Gesellschaft von geschaffenen Göttern annimmt, die unter Jahwe und über der Menschheit existiert. Diese göttliche Gesellschaft wird so dargestellt, dass sie in vielerlei Hinsicht der menschlichen Gesellschaft gleicht. Diese geistlichen Wesen haben, wie die Menschen, eindeutig einen eigenen Verstand und einen eigenen Willen. Sie können sich dafür entscheiden, für Gott oder gegen ihn zu arbeiten. Sie sind, wie die Menschen, moralisch verantwortlich. (Ebd.: 143)

Mit diesen Zitaten (älter als Heisers Veröffentlichungen) sind wir nicht weit vom Polytheismus Ägyptens, Babylons, Kanaans, Griechenlands und Roms entfernt.

Anhang 2: Gottessöhne und Engel: Zwei Kategorien?

Im Abschnitt über das hebräische Vokabular für Engel und Götter habe ich darauf hingewiesen, dass es Uneinigkeit über den Status der Gottessöhne und Engel gibt: Sind sie unterschiedlich und wenn ja, handelt es sich um zwei Klassen oder Ebenen von Himmelswesen?

Laut Heiser (2016) gibt es dafür „solide Belege in der hebräischen Bibel“. Eins seiner Argumente besagt, dass die Söhne der elohim/elim nie als Engel bezeichnet werden (Heiser 2001: 67; Heiser 2018: Kindle Loc. 1778-81).

Lässt man jedoch den Ausdruck Engel des HERRN außer Betracht, so sind beide Begriffe im AT selten. Die zwei Begriffe werden nie in der gleichen Bibelstelle verwendet. Daher ist es nicht überraschend, dass die Gottessöhne nicht als Engel identifiziert werden. Es bleibt daher unklar, ob die beiden Begriffe unterschiedlich oder in ihrer Bedeutung identisch sind, oder ob sie sich vielleicht überschneiden. Wir haben nicht genug Textmaterial, um das entscheiden zu können.

Es gibt nur eine Ausnahme. In Daniel 3,25 beschreibt Nebukadnezar die vierte Person im Feuer „als wäre er ein Sohn der Götter“. In Daniel 3,28 bezeichnet er die gleiche Erscheinung als einen Engel Gottes. Für Nebukadnezar waren die Göttersöhne also Engel – aber können wir seinem Verständnis trauen?

Die untere, dritte Ebene des Rates besteht angeblich aus Engeln. Doch Michael, selbst ein (Erz-)Engel, führt die Engel Gottes in den Kampf gegen Satan und dessen Engel (Offb. 12,7). In Offenbarung 20,1-3 ergreift ein Engel den Teufel und sperrt ihn für tausend Jahre ein. Diese zwei Aussagen deuten nicht auf einen niedrigen Rang der Engel hin.

M.E. reichen die Beweise nicht aus, um Heisers These zu belegen.

Anhang 3: 5. Mose 32,8 und seine Auslegung nach Heiser

Ich behandle 5. Mose 32,8 in diesem Anhang, weil in diesem Vers nicht ausdrücklich vom himmlischen Rat gesprochen wird. Dennoch ist er für Heisers Schema von großer Bedeutung:

5. Mose 32,8 beschreibt Jahwes Zerstreuung der Völker zu Babel und die daraus resultierende Enterbung dieser Völker, indem er sie anderen, geringeren Göttern (elohim) übergibt. (Heiser 2012a)

Die Enterbung der Nationen und ihre Unterwerfung unter die Söhne Gottes in Dtn 4,19-20; 32,8.9 stellen einen souveränen Akt Jahwes dar, mit dem er die direkte Herrschaft der rebellischen Menschheit zurückweist. Dass die Söhne Gottes in dieses Vakuum einziehen, wird nicht als Anmaßung geschildert. Sie wurden von Jahwe über die Nationen gesetzt und dann später in Psalm 82 für ihre korrupte Verwaltung gerichtet. (Heiser 2008: 26)

In 5. Mose 4,19-20 und 32,8-9 teilte Jahwe die Nationen auf und wies sie geringeren Göttern zu … Er verwarf die Nationen als sein eigenes Volk und nahm Israel als seinen Erbteil. (Heiser 2016)

Schließlich wurden die „Söhne Gottes“, denen die Nationen nach dem Turmbau zu Babel zugeteilt wurden, an irgendeinem Punkt ihrer Mission verdorben. In Psalm 82 geht es um ihr Gericht. (Heiser 2018: Kindle Loc. 1782-6)

Zumindest auf den ersten Blick wird hier deutlich mehr behauptet als in 5. Mose 32,8 steht. Es gibt keine offensichtliche Verbindung zwischen dem Vers und Psalm 82. Die Verbindung zu 1. Mose 10 oder 11 hat mehr für sich, obwohl es in diesen Kapiteln um Sprache und Völker geht, nicht um Territorium oder Grenzen. An keiner Stelle werden Gottessöhne oder andere Himmelswesen in der Erzählung sichtbar (es sei denn, sie verstecken sich hinter dem „wir“ in 1. Mose 11,7). Und selbst im 5. Mose ist es nicht klar, dass Gott Gottessöhne als Herrscher über die Völker eingesetzt hat. Urteile selbst:

Als der Höchste den Völkern Land zuteilte

und der Menschen Kinder voneinander schied,

da setzte er die Grenzen der Völker

nach der Zahl der Söhne Israels.

Denn des HERRN Teil ist sein Volk,

Jakob ist sein Erbe. (5. Mo. 32,8f)

Zunächst sollte ich darauf hinweisen, dass es hier ein textliches Problem gibt. Der sogenannte masoretische Text, im Großen und Ganzen der zuverlässigste hebräische Text, lautet, wie die Lutherbibel übersetzt, „nach der Zahl der Söhne Israels“. Einige Manuskripte, die in Qumran (unter den Schriftrollen vom Toten Meer) gefunden wurden, und mehrere alte Übersetzungen (darunter die Septuaginta) lesen jedoch entweder „nach der Zahl der Söhne Gottes“ oder „Engel“.

Es gibt keinen guten Grund, warum jemand in diesem Vers „Söhne Israels“ in „Söhne Gottes“ geändert haben könnte. Es ist leichter vorstellbar, dass ein Schreiber „Söhne Gottes“ in „Sohne Israels“ geändert hat, um jedes Anzeichen des Polytheismus zu vermeiden. Der heutige Konsens ist deswegen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach die Lesart von Qumran korrekt ist.

Aber was bedeutet es, dass Gott Grenzen gesetzt hat „nach der Zahl der Söhne Gottes“? Es könnte heißen, dass es eine Entsprechung gibt, in Zahlen. Das gilt insbesondere dann, wenn die ursprüngliche Lesart doch „nach der Zahl der Söhne Israels“ lauten würde. Am Ende von 1. Mose wird gesagt, dass 70 Mitglieder des Hauses Jakobs nach Ägypten gekommen sind (1. Mo. 46,27). 1. Mose 10 listet 70 Nationen auf. Die Zahlen stimmen überein.

Auch wenn die alternative Lesart, „die Zahl der Söhne Gottes“, richtig ist, was als wahrscheinlich (aber als nicht sicher) gilt, deutet dies darauf hin, was gemeint sein könnte: Es gibt eine Übereinstimmung in den Zahlen (vgl. Josua 4,5, wo eine ähnliche Formulierung für zwölf Steine verwendet wird, die den zwölf Stämmen entsprechen: „nach der Zahl der Stämme [der Söhne] Israels“). Es gibt keinen Hinweis darauf, dass mehr gemeint ist, etwa dass diese Wesen dazu bestimmt sind, über die Völker zu herrschen, oder dass die Völker ihnen „übergeben“ sind, damit sie die Gottessöhne als ihre Götter verehren. Dazu braucht es weitere Belege. Heiser meint, sie zu haben.

Erstens werden in 5. Mose 32 mehrere verwandte Wörter verwendet: Erbe, zuteilen und Teil. Die Frage ist, wer erbt was, oder wer wird wem zugeteilt? So wie der Vers steht, erhalten die Nationen Land als Erbe (vgl. Apg. 17,26), und Gott nimmt Israel als seinen Erbteil. Es ist jedoch möglich, den Vers so zu übersetzen, dass die Nationen nicht die Empfänger sind, sondern das Erbe. Das geht aber nur, wenn wir eine kleine Änderung am Verb vornehmen. In diesem Fall gibt Gott die Nationen als Erbe: „Er teilte die Völker den Söhnen Gottes zu“ (Heiser 2016). Diese Lesart hat den Vorteil, dass die Parallele zwischen den beiden Versen 8 und 9 klarer wird: Gott erhält (oder nimmt) Israel als seinen Teil; andere (vermutlich die Söhne Gottes) erhalten die Völker.

Zweitens weist Heiser auf 5. Mose 4,19f ein. Er liefert die Begründung für seine Interpretation von 5. Mose 32,8, denn dort soll sichtbar werden, dass Gott die Völker den Gottessöhnen als ihren Göttern zuteilt:

Hebe auch nicht deine Augen auf gen Himmel, dass du die Sonne sehest und den Mond und die Sterne, das ganze Heer des Himmels, und fallest ab und betest sie an und dienest ihnen. Denn der HERR, dein Gott, hat sie zugewiesen allen andern Völkern unter dem ganzen Himmel; euch aber hat der HERR angenommen und aus dem glühenden Ofen, nämlich aus Ägypten, geführt, dass ihr das Volk sein sollt, das allein ihm gehört, wie ihr es jetzt seid. (5. Mo. 4,19f)

Es ist seltsam, dass Heiser sich so stark auf diese Stelle stützt (z.B. Heiser 2008: 20; 2016), denn sie sagt nicht das, was Heiser sie sagen lässt. Die Götter sind den Völkern zugeteilt (was auch immer das bedeutet), nicht andersherum. Nichts hier deutet darauf hin, dass diese Götter ursprünglich göttliche oder himmlische Herrscher waren, die von Gott eingesetzt wurden und denen so diese Völker zugewiesen wurden – Vorsteher, die sich erst später gegen Gott auflehnten und rebellierten. Heiser verweist auch auf 5. Mose 29,24-26, aber diese Verse leiden unter demselben Problem: Die Richtung der Zuweisung ist nicht an die Götter, sondern – in diesem Fall – an Israel.

Außerdem bedeutet 5. Mose 4,19 wahrscheinlich etwas ganz anderes. Sonne, Mond und Sterne sind „allen Völkern“ zugewiesen (die Lutherbibel übersetzt falsch; das Wort „andern“ kommt im Grundtext nicht vor). „Allen Völkern“ schließt Israel ein. Der Punkt ist: Die Schöpfung (konkret: Sonne, Mond und Sterne) ist für alle da, ein Geschenk – aber nicht als Objekt der Anbetung gedacht.

Alles in allem stellt sich heraus, dass Heisers Rekonstruktion der Ereignisse, wie am Anfang dieses Abschnitts zusammengefasst, auf einem einzigen, schwierigen Bibelvers und auf einer unsicheren Kette von Schlussfolgerungen und Behauptungen beruht.

Bildnachweis

Weidner, Michael, Diane Weidner. 2018 <https://unsplash.com/photos/h-rP5KSC2W0> CC0

Anthiok. 8 August 2008. “Jebel Aqra (Kel Dağı, Mount Casius), 2008.jpg” < https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jebel_Aqra_(Kel_Da%C4%9F%C4%B1,_Mount_Casius),_2008.jpg> [accessed 9 February 2021] CC-BY-3.0

Literaturangaben

Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Beasley-Murray, George R. 1999. John, Word Biblical Commentary, xxxvi (Dallas: Word)

Boyd, Gregory A. 1997. God at War: The Bible & Spiritual Conflict (Downers Grove, IL: InterVarsity Press)

Die Heilige Schrift übersetzt von Hermann Menge. 1994. Neuausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

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Tsumura, David Toshio. 2005. ‘Canaan, Canaanites’, in Dictionary of the Old Testament: Historical Books, ed. by Bill T. Arnold and H. G. M. Williamson (Downers Grove, IL: InterVarsity Press), pp. 122-32

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