Es ist eine Zoologie der anderen Art, die sich mit einer Fauna beschäftigt, die von Biologen nicht studiert wird: Leviatan, Rahab und Behemoth, alles Transliterationen von hebräischen Wörtern, die im Deutschen verwendet werden, sowie der weniger präzise Begriff Tannin, der verschiedentlich als Seeschlange, großer Fisch, Wal, Krokodil oder Drache übersetzt wird. Und vielleicht gehört sogar das Meer selbst zu dieser Auflistung: Das kanaanitische Wort yam steht sowohl für das Mittelmeer als auch für den kanaanitischen Gott des Meeres, der Yam hieß.
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Ozeane brausen mächtig: Chaoskampf im AT?
Ein kleiner Katalog von Ungeheuern; was machen wir daraus? Wieder einmal müssen wir einen Blick auf die Mythologie im Hintergrund werfen – nicht die Mythologie Israels, sondern die seiner Nachbarn. In einer früheren Ausgabe schrieb ich über den sogenannten Baal-Zyklus (siehe auch Ausgabe 25, „Die verlorene Welt von Genesis 1-11“). In diesem kämpft Baal mit dem Meeresgott Yam und seinem Gefährten Leviatan. Letzterer erscheint in der kanaanitischen Mythologie als siebenköpfiges, drachen- oder schlangenartiges Meeresungeheuer.
Wir müssen uns auch vor Augen halten, dass das Meer eine unglaublich zerstörerische Kraft darstellt. Im alten Orient wurde es verständlicherweise sehr gefürchtet. Die Seefahrt war nichts für Feiglinge. Es ist kein großer Schritt, eine solche Naturgewalt als lebendiges, vielleicht übernatürliches und böswilliges Lebewesen zu verstehe.
Darüber hinaus glaubten die Menschen im alten Orient allgemein, dass die Welt aus dem Wasser, genauer gesagt, aus dem ungeformten wässrigen Chaos des Anfangs, entstanden sei. Heutzutage spricht man oft vom Ur-Ozean.
Wir wissen nicht, wie sich die Kanaaniter die Schöpfung vorstellten (der Baal-Zyklus beschreibt Ereignisse in einer späteren Zeit), aber im babylonischen Ursprungsmythos mit dem Titel Enuma Elisch erscheint dieser Ozean definitiv als eine halbpersönliche Kraft, ein schreckliches Ungeheuer. Babylons führende Gottheit ist Marduk und der Drache heißt Tiamat. Selbst die Götter fürchten Tiamat, und der Kampf ist erbittert. Die Schöpfung wird erst möglich, nachdem sich die Götter auf diesen Kampf auf Leben und Tod eingelassen haben und siegreich daraus hervorgegangen sind.
Ungeformtes Wasser umgab weiterhin den Kosmos, die bewohnbare Welt. Als solches war es eine unheilvolle Präsenz, eine immerwährende Bedrohung, die eines Tages die Schöpfung überwältigen oder zumindest einen weiteren Angriff starten könnte. Tiamat war tot, aber wer wusste schon, welche Art von Kreaturen sich noch in den Tiefen des Meeres versteckten?
Der Kampf der Anfänge wird sogar in der englischsprachigen Theologie oft mit einem deutschen Wort bezeichnet: Chaoskampf, der Urkampf, in dem die Götter furchterregende, monsterartige Gegner bezwangen. Oft stellt man diese Wesen heute als Kräfte des Chaos dar, eine eher moderne Umdeutung oder Einschätzung dessen, wofür der Mythos „wirklich“ stand. Es scheint aber unwahrscheinlich, dass die Kanaaniter oder die Babylonier den Mythos in dieser Weise verstanden haben. Immerhin: Die moderne Interpretation des Mythos erklärt das ‘Chaos’ im Chaoskampf.
Viele Bibelforscher sind zu dem Schluss gekommen, dass auch das AT einen solchen Kampf der Anfänge widerspiegelt, auch wenn dieser in 1. Mose 1 reduziert ist. Sie erkennen Hinweise auf den finsteren Gegner in der formlosen, leeren Finsternis und „der Tiefe“ von 1. Mose 1,2.
Andere sind vorsichtiger und ziehen es vor, allgemeiner von einem Kampfmythos zu sprechen: In verschiedenen Bibelstellen kämpft JHWH mit Kräften des Chaos und der Zerstörung; es muss sich dabei nicht zwangsweise um die Schöpfung handeln. Schließlich ist das im Baal-Zyklus auch nicht der Fall. In dieser Sicht können Szenen, in denen Gott als Krieger auftritt oder die von verschiedenen mythologischen Ungeheuern sprechen, solche Kampfmythen widerspiegeln.
Sicher ist, Elemente eines solchen Kampfes tauchen gelegentlich in der Bibel auf. Wieder einmal stehen wir vor der Frage: Haben wir es mit Elementen antiker Mythen zu tun, die auf verschiedene Weise für literarische und rhetorische Zwecke verwendet werden, ähnlich wie beim „Wolkenfahrer“? Oder war ein solcher Kampf ein integrierter Bestandteil der Theologie und Weltanschauung Israels (und sollte es deswegen vielleicht auch für uns sein)? Beinhaltete die Schöpfung einen Kampf und ein aktives „Chaos-Monster“?
Die Kurzfassung
Um es anders auszudrücken: Es ist eine Sache, zu sagen, wir finden Elemente eines Kampfmythos in einem Text. Das kann man als poetische (Wieder-)Verwendung erklären oder sogar als polemische Ablehnung, etwa in Form einer Entmythologisierung des Mythos. Es ist etwas anderes zu argumentieren, dass ein solcher Kampf den biblischen Verweisen auf die Schöpfung zugrunde liegt und dass daraus folgt, dass die alten Hebräer (und ihr biblischer Text) glaubten, dass Gott einen solchen Kampf führen musste, um die Schöpfung möglich zu machen oder auch um sie anschließend aufrechtzuerhalten und zu schützen. Nur im letzteren Fall können wir wirklich von einem Chaoskampf in der Bibel sprechen.
Also, was ist es, rhetorische Fantasie oder historische Tatsache? Zunächst die Kurzversion; meine Schlussfolgerung ist:
1. Die Bibel entmythologisiert in der Regelden Schöpfungsakt und entpersonifiziert das, was dann in modernen Begriffen am besten als „Nicht-Ordnung“ oder die „ungezähmte“ und „wilde“ Seite der Schöpfung beschrieben wird: das Chaos im Chaoskampf. Der Kampf kann dabei ebenfalls eine Metapher oder ein Bild – von Gottes Macht – sein wie Drachen und Ähnliches.
2. Die Bibel personifiziert manchmal die „wilde Seite“ der Schöpfung und ihre Unordnung, wenn sie vom Vorhandensein des Bösen in der Welt und vom Sieg Gottes spricht, entweder in der Vergangenheit (z.B. Ägypten) oder in der Zukunft. In diesen Fällen geht es nicht um Ereignisse „vor“ der Zeit oder jenseits der Zeit, sondern um Ereignisse, die sich innerhalb der Zeit oder der Geschichte abspielen. Die Bibel verwendet mythische Elemente, ohne dadurch den größeren Mythos, dem sie entnommen sind, zu bestätigen. Mit anderen Worten, sie tut dies, ohne zu remythologisieren.
Wir sollten uns vor „illegitimer Totalitätsübertragung“ hüten (so Middleton 2005: 243): Nur weil ein Wort oder eine Idee verwendet wird, heißt das nicht, dass alles, wofür es stehen kann, und alles, was in anderen Kontexten mit ihm verbunden ist, implizit auch bejaht wird.
Was folgt, ist die längere Version meiner Antwort. Ich werde zunächst die verschiedenen Begriffe für Ungeheuer untersuchen und wie die Bibel sie verwendet. Dann werde ich der Chaoskampf-Idee nachgehen, beginnend mit dem Schöpfungsbericht in 1. Mose 1.
Leviatan
Es gibt nur wenige explizite Hinweise auf Leviatan, den siebenköpfigen Drachen des kanaanitischen Mythos.
In Psalm 104,26 ist der Leviatan ein Teil der Schöpfung (vgl. 1. Mo. 1,21), von Gott geschaffenes – zum Spielen!
Aus Hiob 3,8 erfahren wir nichts über den Leviatan, außer dass es eine Art magisches Ritual gab, bei dem die Menschen den Leviatan beschworen (sie „wecken“ ihn).
Nachdem in Hiob 40,15-24 von Behemoth die Rede ist, wird in Kapitel 41 ausführlich von Leviatan gesprochen. Manche argumentieren, dass es sich hier um ein Krokodil oder sogar einen Dinosaurier handeln muss, aber das macht keinen Sinn. Menschen können Krokodile beherrschen und töten. Kein Mensch hat jemals einen lebenden Dinosaurier gesehen. Die ersten Leser von Hiob haben von der Existenz der Dinosaurier nicht gewusst. Außerdem spuckt kein Tier Feuer, wie es der Leviatan tut (Hiob 41,19-21).
In Hiob ist der Leviatan, ähnlich wie in Psalm 104, Teil der Schöpfung (Gott hat keine Angst vor ihm), aber kein sicherer Teil. Vielleicht repräsentiert er, modern ausgedrückt, die verbleibende Nicht-Ordnung in der Welt, „das mächtigste Meeresgeschöpf, das man sich vorstellen kann“ (so Walton und Longman III 2015: 81). Alternativ könnten die ersten Leser den Leviatan als ein legendäres drachenartiges Ungeheuer verstanden haben.
So oder so, und das ist das Wichtigste: Gott kämpft nicht mit ihm.
In Jesaja 27,1 ist die Sprache der des Baal-Zyklus bemerkenswert ähnlich, abgesehen vom Hinweis auf die sieben Köpfe:
Du hast wahrlich Lotan, die flüchtige Schlange geschlagen, / 2 du hast vernichtet die gewundene Schlange! / 3 Die Mächtige mit sieben Köpfen … Du wirst hinabsteigen 7 in den Rachen des göttlichen Mot, / in den 8 Schlund des Geliebten Els, des Helden! (KTU 1.5 I 1-8, zitiert in Bauks 2006; vgl. Offb. 12,3)
Zu der Zeit wird der HERR heimsuchen mit seinem harten, großen und starken Schwert den Leviatan, die flüchtige Schlange, und den Leviatan, die gewundene Schlange, und wird den Drachen im Meer töten. (Jes. 27,1)
Die Bedeutung ist jedoch eine andere: Jesaja verwendet ein ihm bekanntes Element aus der kanaanitischen Mythologie für etwas Zukünftiges.
Die Schlacht um Baal liegt in der Vergangenheit oder sogar außerhalb der Zeit, in der zeitlosen Welt des Mythos. In der zugrundeliegenden Erzählung geht es um die sichere und geordnete Existenz auf der Erde. Baal muss sein Reich gegen die zerstörerischen Kräfte des Meeres und des Chaos verteidigen, die es zeitweise zu überwältigen drohen.
Der Kampf Gottes in Jesaja 27 liegt jedoch nicht in der Vergangenheit; er hat nichts mit einem vermeintlichen Chaoskampf am Anfang der Zeit oder später zu tun. Er ist auch nicht „zeitlos“. Er findet erst noch statt, „an jenem Tag“. Die Kapiteleinteilung ist hier unglücklich, denn dieser Tag wurde gerade definiert, im vorhergehenden Kapitel. Es ist der Tag, an dem Gott „die Bosheit der Bewohner der Erde“ heimsuchen wird (Jes. 26,21).
Jesaja erkannte, dass dies nicht ausreicht. Die Kräfte, die sich Gott und seinem Volk entgegenstellten, waren nicht auf andere Nationen und Königreiche beschränkt. Da war etwas mehr, etwas nicht ganz von dieser Welt. Mit dem Vorteil der neutestamentlichen Rückschau können wir sehen, wohin das führt: das Konzept von Satan und dem Krieg, der in Offenbarung 12 und 20 beschrieben wird. Jesaja sah nicht so weit und nicht so scharf. Aber er ahnte, dass es um mehr geht als nur um menschlichen Widerstand – etwas, wofür Leviatan ein geeignetes literarisches Bild ist.
Psalm 74 ist ein Klagelied über die Zerstörung von Gottes Heiligtum. In seinem Zentrum steht jedoch ein Glaubensbekenntnis (Ps. 74,12-17). Gott hat in der fernen Vergangenheit seine überwältigende Macht bewiesen:
Du hast das Meer gespalten durch deine Kraft,
zerschmettert die Köpfe der Drachen im Meer.
Du hast dem Leviatan die Köpfe zerschlagen
und ihn zum Fraß gegeben dem wilden Getier. (Ps. 74,13f)
Aber was genau wird hier beschrieben? Ist es der Exodus? Oder ist es die Schöpfung? Psalm 74,15f scheint von der Schöpfung zu sprechen (Gott hat „Gestirn und Sonne die Bahn gegeben“). Aber der Hinweis auf Hilfe oder Errettung in Psalm 74,12 und andere Elemente („du hast das Meer gespalten“, Vers 13!) weisen auf Gottes Eingreifen zur Zeit des Exodus hin. Außerdem wird Leviatans Leichnam an Wüstentiere (so wörtlich Vers 14) verfüttert; das ereignet sich nach der Schöpfung.
Vermutlich bezieht sich der Psalm also zuerst auf den Exodus und dann – in Vers 15f – auf die Schöpfung. Aber der Kampf gegen den Leviatan geht mit dem Exodus einher (vgl. Rahab in Jes. 51,9). Die mythische Vorstellung vom Leviatan wird als Bild für die Macht des Pharao wiederverwendet. In Psalm 74 gibt es keinen Chaoskampf bei der Schöpfung.
Behemoth
Behemoth ist die Pluralform eines Wortes, das normalerweise Tier, oft Vieh, bedeutet. Allerdings kann diese Pluralform auch im Singular verwendet werden. Als solcher erscheint Behemoth in Hiob 40,15-24. Er ist keinem Landtier gleich. Parallel zum Leviatan in Hiob 41 kann Behemoth als „das mächtigste Landtier, das man sich vorstellen kann“ verstanden werden (so Walton und Longman III 2015: 81). Oder Behemoth ist, wie Leviatan, eine Art mythisches oder sprichwörtliches, brutales Tier.
Drache (Heb. Tannin)
Das hebräische Wort Tannin erscheint 15 Mal in der hebräischen Bibel. Es lässt sich nicht einfach definieren. An fünf Stellen bezeichnet es eine Schlange. Ohne die „Drachenquelle“ (Neh. 2,13) mitzuzählen, bezeichnet das Wort neunmal eine Art Ungeheuer oder große Meereskreatur.
Tannin erscheint als poetische Parallele zu Leviatan (Jes. 27,1; Ps. 74,13f) und Rahab (Jes. 51,9). Hiob 7,12 verortet ihn im Meer.
Jeremia 51,34 spricht von Babylon als einem „Drachen“, der Zion verschlungen hat.
In Hesekiel 29,2 und 32,3 ist Tannin ein Tier, das im Nil oder im Meer liegt. Als solches repräsentiert es ausdrücklich den Pharao. Beide Passagen sprechen vom kommenden Gericht über Ägypten. Hesekiel spricht also nicht von Schöpfung oder Chaoskampf, sondern verwendet, wie Jeremia, einen vertrauten mythischen Begriff für eine politische Realität und verspottet Pharaos Pomp und Pracht.
In 1. Mose 1,21 und Psalm 148,7 wird Tannin mit dem Meer in Verbindung gebracht und mit „große (Wal-)Fische“ übersetzt. Hier wird Tannin als Teil von Gottes Schöpfung gefeiert (ähnlich wie der Leviatan in Psalm 104,26). Psalm 148 ruft ihn sogar dazu auf, Gott zu loben.
Das Wort kann also auf verschiedene Weise verwendet werden. Aber Tannin erscheint nie als Gottes Gegner in einem Chaoskampf am Anfang der Schöpfung. Wie der Leviatan ist Tannin, wenn es sich um die Schöpfung handelt, ein Teil von ihr – nicht eine Kraft, die ihr vorausging und sie zu verhindern suchte.
Rahab
Als Name hat Rahab keine offensichtliche Parallele in kanaanitischen oder verwandten Sprachen, aber seine Bedeutung ist ähnlich wie die von Leviatan und Tannin. Wir haben nur sechs Textstellen.
Rahab und der mythologische Kampf können als Bild für die Niederlage Ägyptens im Exodus verwendet werden. Jesaja 51,9f hat dieses Ereignis im Blick und spricht davon in diesem Sinne:
Wach auf, wach auf, zieh Macht an, du Arm des HERRN! Wach auf, wie vor alters zu Anbeginn der Welt! Warst du es nicht, der Rahab zerhauen und den Drachen durchbohrt hat? Warst du es nicht, der das Meer austrocknete, die Wasser der großen Tiefe, der den Grund des Meeres zum Wege machte, dass die Erlösten hindurchgingen. (Jes. 51,9f)
Auf dieser Grundlage ist Rahab manchmal einfach ein Name für Ägypten (Jes. 30,7; Ps. 87,4).
Rahab wird zweimal in Hiob erwähnt (9,13 und 26,12f). Diese Verse beziehen sich tatsächlich auf einen Kampf zwischen Gott und Rahab. Sie scheinen antike Mythologie widerzuspiegeln, aber sie sind kurz. Es gilt zu bedenken: Hiob ist hier nicht darauf aus, uns oder seine Freunde über die Schöpfung zu belehren. Außerdem: Selbst wenn Hiob – und seine Freunde – an einen solchen Kampf glaubten, folgt daraus nicht unbedingt, dass wir das auch tun sollten.
Psalm 89 geht mehr ins Detail:
Du herrschest über das ungestüme Meer,
du stillest seine Wellen, wenn sie sich erheben.
Du hast Rahab zu Tode geschlagen
und deine Feinde zerstreut mit deinem starken Arm.
Himmel und Erde sind dein,
du hast gegründet den Erdkreis und was darinnen ist.
Nord und Süd hast du geschaffen,
Tabor und Hermon jauchzen über deinen Namen.
Du hast einen gewaltigen Arm,
stark ist deine Hand, und hoch ist deine Rechte. (Ps. 89,10-14)
Erst in diesen letzten drei Bibelstellen finden wir etwas, was tatsächlich auf einen Chaoskampf hindeuten könnte. Es gibt einen Konflikt, aber war er Teil der Schöpfung? Vielleicht, obwohl sich in Psalm 89 nur Vers 13 auf die Schöpfung bezieht. Die Sprache ist hochpoetisch und feiert in erster Linie die überlegene Macht Gottes – über die „wilde Seite“ der Schöpfung. Es ist nicht klar, ob wir dies wörtlich nehmen können, als Information über einen historischen Konflikt, geschweige denn darüber, was bei der Schöpfung geschah.
Wir haben es mit Poesie zu tun; es ist unwahrscheinlich, dass Rahab jemals ein echtes lebendes Wesen war, das den Kosmos durchstreifte (oder was auch immer ihm vorausging). Ich werde das letzte Wort Gott selbst überlassen, der zu Hiob spricht. Wenn er in seiner Rede von der Schöpfung spricht, gibt es keinen Kampf, nur einen souveränen Schöpfer, der allein arbeitet und einem entmythologisierten Meer – verglichen mit einem neugeborenen Baby! –seinen Platz zuteilt:
Wer hat das Meer mit Toren verschlossen, als es herausbrach wie aus dem Mutterschoß, als ich’s mit Wolken kleidete und in Dunkel einwickelte wie in Windeln, als ich ihm seine Grenze bestimmte mit meinem Damm und setzte ihm Riegel und Tore und sprach: „Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!“? (Hiob 38,8-11; vgl. Jer. 5,22)
Von der Nicht-Ordnung zur Ordnung: Die entmythologisierte Schöpfung (1. Mo. 1)
Warum sollte man 1. Mose 1 den ersten Platz einräumen? Greg Boyd, der überzeugt ist, dass sich der Kampfmythos an vielen Stellen in der Bibel finden lässt, wendet ein (1997: 103): „Zum einen ist nicht ersichtlich, warum 1. Mose 1 ein normativer Status gegenüber den anderen, zahlreicheren Konflikt-Schöpfungsberichten in der Bibel eingeräumt werden sollte.“
- Zahlreiche Schöpfungsberichten? Welche Berichte? Es gibt viele kurze Verweise, und wir schauen uns in dieser Ausgabe einige davon an. Aber abgesehen von Hiob 26, Sprüche 8,22-31 und Psalm 104 kann keiner von ihnen als „Bericht“ über die Schöpfung bezeichnet werden. Und selbst diese drei sind kaum Berichte; außerdem entmythologisieren zwei von ihnen (Spr. 8; Ps. 104) die Schöpfung fast so sehr wie 1. Mose 1.
- 1. Mose 1 ist mit Abstand die umfangreichste Bibelstelle und die Schöpfung ist ihr Thema; letzteres kann nur von 1. Mose 2 und von Psalm 104 behauptet werden. Andere Bibelstellen berühren die Schöpfung im Zusammenhang mit der Behandlung eines anderen Themas.
- 1. Mose 1 ist Prosa, keine Poesie; sie spricht direkter und deutlicher.
- 1. Mose 1 ist das allererste Kapitel der Bibel. Das sollte für etwas zählen. Wir geben ihm nicht den ersten Platz; es hat den ersten Platz.
Es gibt also gute Gründe, am Anfang zu beginnen. An diesem Punkt sind wir mit ungeformtem Wasser konfrontiert. Chaos ist das griechische Wort; der hebräische Ausdruck zur Beschreibung dieses Zustands ist tohu wabohu, formlos und leer (1. Mo. 1,2). Anders als in den gängigen Mythen zur Zeit der Niederschrift, ist das Wasser hier nicht lebendig. Es ist einfach nur Wasser, wenn auch ohne Form und Funktion.
Gibt es irgendeine Spur einer Schlacht oder eines Chaoskampfes? In einer neueren Veröffentlichung geht David Tsumura (2020) tief ins Detail, um zu beweisen, dass es keine solche Spur gibt. Die Tiefe (hebr. tehom) in 1. Mose 1 ist nicht Tiamat. Das einzige, was sie gemeinsam haben, ist die Verbindung mit Wasser und der erste Buchstabe „t“. Es gibt keinen Kampf.
Das Fehlen eines Kampfes ist so auffällig, dass es nach Absicht aussieht, besonders wenn wir andere religiöse und mythische Elemente erkennen, die umgedeutet wurden:
- Am vierten Tag erschafft Gott die Lichter: Sonne, Mond und Sterne (1. Mo. 1,14-18). Sie sind keine Götter. Sie bestimmen nicht das Schicksal der Menschen. Sie spenden Licht. Sie markieren die Zeit. Das ist alles.
- In 1. Mose 1,20f. erschafft Gott die großen Meerestiere. Das hier verwendete hebräische Wort ist Tannin. Es ist von etwas Großem die Rede. Deshalb verwenden einige Übersetzungen (wie die Lutherbibel und die King James Bible) Wal oder Walfisch – das größte Tier, das der Mensch kennt. Wie wir gesehen haben, kann es sich auch auf ein drachenartiges Ungeheuer beziehen. Unabhängig davon, ob man Tannin als einen Wal oder ein anderes Meerestier interpretiert oder ob man es als Hinweis auf ein mythologisches Wesen versteht, ist der polemische Punkt klar. Dieses große Meerestier ist nicht Gottes Gegenspieler, und es hat nicht schon vor der Schöpfung existiert; im Gegenteil, es ist einfach eines seiner Geschöpfe. Psalm 104, eine Meditation über die Schöpfung, verwendet das andere, aber ähnliche Wort, Leviatan, den Gott gemacht hat, um „mit ihm zu spielen“ (Ps. 104,26). Die Menschen und ihre Götter mögen sich vor solchen Geschöpfen fürchten, aber Gott, der Schöpfer, braucht sie nicht zu fürchten, eben weil sie Geschöpfe sind – seine Geschöpfe.
- Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, die Arbeit der Götter zu tun und sie mit Nahrung zu versorgen; er soll Gottes Stellvertreter sein, und Gott versorgt ihn mit Nahrung (siehe Ausgabe 76).
Kurzum, die Abwesenheit von Kampf ist absichtlich und polemisch. 1. Mose 1 schließt jeden Chaoskampf oder Kampf der Ursprünge aus, sogar jeden anderen Akteur als Gott, und entmythologisiert auf diese Weise die Schöpfung.
Chaoskampf anderswo?
Und an anderer Stelle in der Bibel? Es gibt weitere Passagen, in denen der ursprüngliche Chaoskampf sichtbar werden soll; wir werden uns einige Beispiele ansehen.
Psalm 93 ist Teil einer Folge von Inthronisierungspsalmen (93, 95-99), in denen JHWH als König gefeiert wird. Hier gibt es in der Tat Anklänge an die antike Kosmologie und Weltanschauung. Im Baal-Zyklus und in Enuma Elisch errichtet der jeweilige Gott seine Herrschaft, nachdem er seine Gegner besiegt hat, und garantiert so Ordnung und Stabilität. Nach Psalm 93 ist es die Herrschaft JHWHs, nicht die von Baal oder Marduk, die die Erde sicher und stabil macht:
HERR, die Wasserströme erheben sich,
die Wasserströme erheben ihr Brausen,
die Wasserströme heben empor die Wellen;
die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig;
der HERR aber ist noch größer in der Höhe. (Ps. 93,3f)
Das Wasser zeigt seine Kraft. Es gibt aber keine Schlacht und keinen Hinweis auf die Schöpfung. Wir könnten nur zu dem Schluss kommen, dass die Wasserströme lebendige und aggressive Gegner bei der Schöpfung (oder später) waren, indem wir einen antiken Mythos zum Schlüssel für die Interpretation machen; der Text selbst stellt sie nicht als Gegner dar. In anderen Inthronisationspsalmen sind Fluss und Meer Teil der Schöpfung und werden aufgefordert, in den Chor des Lobes auf den kommenden König einzustimmen:
Das Meer brause und was darinnen ist,
der Erdkreis und die darauf wohnen.
Die Ströme sollen frohlocken,
und alle Berge seien fröhlich
vor dem HERRN; denn er kommt, das Erdreich zu richten. (Ps. 98,7-9a; vgl. Ps. 96,11)
Es geht in Psalm 93 nicht darum, was in der Vergangenheit geschehen ist. Welche Bedrohung oder Kraft auch immer sich erhebt, die Erde ist sicher, denn Gott ist mächtig.
Eine ähnliche Erklärung gilt für Psalm 29. Er stellt JHWH, nicht Baal, als Gott des Donners dar. Besonders Psalm 29,10 erinnert an Psalm 93.
Psalm 104,1-9. Der Kontext ist die Schöpfung, beschrieben als der Bau eines Hauses (oder eines Tempels), ähnlich wie in Enuma Elish. Aber Chaoskampf? Am nächsten kommen diese Verse:
Mit Fluten decktest du [das Erdreich] wie mit einem Kleide,
und die Wasser standen über den Bergen.
Aber vor deinem Schelten flohen sie,
vor deinem Donner fuhren sie dahin. (Ps 104,6f)
Es sind aber genau jene Gewässer, die Gott selbst gerade geschaffen hat, die er dann auch zurückdrängt. Es findet kein Kampf statt. Zurechtweisung und Flucht sind hier wahrscheinlich reine poetische Bilder und Personifikation. Die Fluten sind nicht lebendig. Diese Verse funktionieren eher als eine Verneinung des Chaoskampfes.
Als nächste, Psalm 77 und Psalm 114:
Die Wasser sahen dich, Gott,
die Wasser sahen dich und ängstigten sich,
ja, die Tiefen tobten.
Wasser ergossen sich aus dem Gewölk,
die Wolken donnerten,
und deine Pfeile fuhren einher. (Ps. 77,16f)
Das Meer sah es und floh,
der Jordan wandte sich zurück.
Die Berge hüpften wie die Lämmer,
die Hügel wie die jungen Schafe. (Ps. 114,3f)
Das klingt, als ob Gott gegen das Wasser kämpft. Aber wenn man es im Kontext nachschlägt, geht es um den Exodus und den Durchzug durch das Schilfmeer und den Jordan. Wenn man bedenkt, was zu dieser Zeit geschah, ist dies eine klare metaphorische Wiederverwendung mythologischer Bilder.
Ich erwähne Habakuk 3 nur am Rande. Es ist ein reiches poetisches Kapitel, das offensichtlich Kampfsprache und den Mythos des Sturmgottes verwendet. Genauso offensichtlich geht es hier um den Gott Israels, nicht Baal oder Hadad, der für sein Volk kämpft. Habakuk verwendet eine höchst poetische, metaphorische und hyperbolische Sprache (für partielle Parallelen siehe 2. Mo. 15, Ps. 18,7-15 und Nah. 1,3-5), voller Anspielungen auf Mythen und Geschichte. Aber die Schlacht gilt Nationen, Israels Feinden, nicht Drachen oder Meer.
Ich schließe diesen Abschnitt mit mehreren Beispielen, in denen die mythologische Sprache von Tieren und tosenden Meeren ebenfalls verwendet wird, um von Nationen oder Menschen zu sprechen, die sich dem Volk Gottes widersetzen oder es angreifen:
Ha, ein Brausen vieler Völker, wie das Meer brausen sie, und ein Getümmel mächtiger Nationen, wie große Wasser tosen sie! Ja, wie große Wasser werden die Nationen tosen. Aber er wird sie schelten, da werden sie in die Ferne fliehen und werden gejagt wie Spreu auf den Bergen vom Winde und wie wirbelnde Blätter vom Ungewitter. (Jes. 17,12f; vgl. Ps. 46,2-6)
Bedrohe das Tier im Schilf,
die Rotte der Mächtigen, die Gebieter der Völker;
tritt nieder, die das Silber lieb haben,
zerstreue die Völker, die gerne Krieg führen. (Ps. 68,31)
…der du die Berge festsetzest in deiner Kraft
und gerüstet bist mit Macht;
der du stillst das Brausen des Meeres,
das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker,
dass sich entsetzen, die an den Enden wohnen, vor deinen Zeichen. (Ps. 65,7-9a; da sich Vers 7 vermutlich auf die Schöpfung bezieht, gibt es hier einen doppelten Bezug, sowohl auf die Beruhigung des chaotischen Meeres – entmythologisiert und entpersonalisiert – als auch auf die Nationen)
Er streckte seine Hand aus von der Höhe und fasste mich
und zog mich aus großen Wassern.
Er errettete mich von meinen starken Feinden,
von meinen Hassern, die mir zu mächtig waren (Ps. 18,16f, nach einer poetischen Beschreibung von JHWH, der zum Kampf auszieht; David wurde nie tatsächlich aus Wasser gerettet; er selbst interpretiert das Bild für uns)
Poetische Verwendung: Das Böse neu verkörpert
Elemente der alten Kampfmythen werden in der hebräischen Bibel auf ganz unterschiedliche Weise verwendet.
Wenn es um die Schöpfung geht, ist die allgemeine Richtung Entmythologisierung und Entpersonifizierung, auch wenn sie gelegentlich die Sprache der Mythologie verwendet.
Wenn es um das Chaos und das Böse und den Sieg Gottes geht, sei es in der Vergangenheit oder in der Zukunft, dann wird in der Schrift häufiger in mythischen Begriffen geredet und personifiziert. Oft ist das Böse menschlich. Ein Beispiel ist der frühere Sieg Gottes über Ägypten und den Pharao im Exodus (wie in Jes. 51,9). Damit wird nicht die wörtliche oder historische Wahrheit des Mythos bekräftigt. Es ist nicht anders als bei William Shakespeare, der in seinen Stücken viel griechische Mythologie verwendete, wohl ohne sie für historisch wahr zu halten.
Die Bibel tut dies, ohne zu re-mythologisieren. Der Fehler von Greg Boyd und anderen ist, aus der Verwendung von Teilen eines Mythos zu schließen, dass deshalb der Mythos im Großen und Ganzen wahr ist. Es gibt keine Rückkehr zu einem mythologischen Weltbild mit einem Chaoskampf bei der Schöpfung.
Wenn die Bibel das Motiv des Chaoskampfes und des Kampfmythos verwendet:
1. Wird ein mythologisches Fragment wiederverwendet, um etwas zu verdeutlichen (nicht um die mythologische Weltanschauung zu lehren oder zu bestätigen, aus der es entnommen ist). Dies geschieht fast immer in hochpoetischen Texten. Die jeweilige Naturgewalt wird oft entpersonifiziert und als Bild verwendet. Das Meer selbst ist nie ein wirklicher Gegner, sondern steht im Dienste Gottes (vgl. Jona 1!).
2. Wird seine Bedeutung üblicherweise verändert
- in etwas Historisches (Ägypten)
- in etwas Politisches (Königreiche und Weltreiche; vgl. die Königreiche in Dan. 7)
- in etwas Eschatologisches (Mächte des Bösen, ob menschlich oder anders)
Im Buch Offenbarung finden wir die umfangreichste Verwendung sowohl des Motivs eines mythologischen Wesens als auch des kosmischen Kampfes (besonders in Offb. 12). Hier ist es nicht Leviatan, sondern Satan selbst, der als siebenköpfiger Drache dargestellt wird. Und wir lesen nicht von einem Urkonflikt am Anfang der Zeit, sondern vom endgültigen Untergang des Bösen.
Die Strategie Satans im nächsten Kapitel ist das Tier, das aus dem Meer aufsteigt (Offb. 13,1). Es ist ebenfalls ein siebenköpfiges Ungeheuer und repräsentiert in erster Linie das Römische Reich. Im Licht der Mythologie und der Bilder, die wir besprochen haben, macht es Sinn, dass es aus dem Meer kommt – und dass es ein Tier ist! Allerdings ist das Meer an dieser Stelle nicht der Ur-Ozean. In Offenbarung 17,15 wird uns gesagt: „Die Wasser, die du gesehen hast, an denen die Hure sitzt, sind Völker und Scharen und Nationen und Sprachen.“ Die Bedrohung durch das Chaos geht nicht mehr (wenn sie es jemals tat) vom buchstäblichen oder physischen Meer aus, sondern von der Völkerwelt.
Die Idee findet sich bereits in Daniel 7 (und in mehreren der Psalmen, die wir betrachtet haben): „Die vier Winde unter dem Himmel wühlten das große Meer auf. Aus diesem steigen vier Tiere herauf, die vier aufeinanderfolgende Königreiche repräsentieren (Dan. 7,2f).
Jetzt wird auch verständlich, warum es in der neuen Schöpfung kein Meer mehr geben wird (Offb. 21,1). Damit ist nicht das Fehlen großer Gewässer gemeint, sondern das symbolische Meer als Ort der Gefahren und Bedrohungen. Diese wird es nicht mehr geben.
Damit setzt die Offenbarung der Entmythologisierung der Schöpfung und der Wiederverwendung des Kampfmythos durch die Schrift die Krone auf. Es geht nicht darum, zu erklären, was am Anfang geschah (es fand kein Kampf statt, als Gott die Welt erschuf). Es geht darum, die Kräfte zu identifizieren, die sich Gott und der Menschheit im Laufe der Heilsgeschichte entgegenstellen, und von ihrem endgültigen Untergang zu sprechen.
Anhang: Einschlägige Zitate
Im Folgenden einige Zitate, die unser Thema berühren:
Wie bei Gottes Kampf mit den mythologischen Wassern sind die meisten Verweise auf Gottes Sieg über diese verschiedenen Ungeheuer nicht mit der Schöpfung verbunden, sondern beschreiben Gottes historisches Gericht über fremde militärische oder politische Mächte. Zu den deutlichsten solchen Verweisen gehören die Orakel gegen die Nationen in Hesekiel und Jeremia. Sowohl Hesekiel 29,2-7 als auch 32,2-4 stellen den ägyptischen Pharao als ein großes Wassermonster (Tannin) dar, das Gott mit Haken aus dem Nil ziehen oder in einem Netz einholen wird. (Middleton 2005: 239)
Während ich nicht leugnen möchte, dass die Schöpfung durch Kampf im Alten Testament vorkommt, ist es wichtig zu bemerken, dass dieses Motiv nicht annähernd so häufig ist, wie viele Bibelwissenschaftler behaupten. Es ist sicherlich nicht so häufig, wie John Day oder Jon Levenson in ihren wichtigen Studien über den Kampfmythos zu denken scheinen. (Ebd.: 240)
Zweifellos wird es immer mehrdeutige Texte geben, über die sich die Bibelwissenschaftler berechtigterweise nicht einig sind. Nichtsdestotrotz entpuppt sich meines Erachtens die Mehrzahl der vermeintlichen Schöpfungstexte bei näherer Betrachtung entweder als Hinweis auf einen innergeschichtlichen (oder eschatologischen) Konflikt, der in mythologischer Sprache beschrieben wird, oder als Hinweis auf die konfliktfreie Eindämmung des Urwassers bei der Schöpfung. (Ebd.: 241; Betonung hinzugefügt)
Was bleibt, sind nach Middletons Ansicht drei „Schöpfung-durch-Kampf-Texte“: Hiob 26,7-14, Psalm 74,12-17 und Psalm 89,5-14. Er gibt zu, dass der erste den Kampf, den er beschreibt, nicht explizit mit der Schöpfung verbindet (ebd.: 245). Oben habe ich ebenso für Psalm 74 argumentiert, so dass vielleicht nur ein einziges klares, aber kurzes Beispiel in Psalm 89 bleibt.
Schließlich ist es nötig, sich mit der Frage zu befassen, wie lebendig die mythologische Bildsprache des göttlichen Konflikts mit dem Drachen und dem Meer im alten Israel und im Alten Testament war. Wurde sie wörtlich genommen oder hatte sie einfach den Charakter einer poetischen Symbolik, wie oft behauptet wird, vergleichbar mit den Zitaten aus der klassischen Mythologie im Werk Miltons? Dies ist eine Frage, auf die es schwierig ist, eine einheitliche und kategorische Antwort zu geben. Ein Argument, das dafürsprechen könnte, dass es sich um poetische Symbolik handelt, ist die vielfältige Verwendung der Bilder, die Tatsache, dass die Bilder des Drachens und des Meeres nicht nur im Zusammenhang mit der Erschaffung der Welt verwendet werden, sondern auch historisiert, d.h. zur Symbolisierung verschiedener feindlicher Völker eingesetzt werden. In jedem Fall hat es, wenn es zur Bezeichnung fremder Nationen verwendet wird, eindeutig den Status einer poetischen Metapher erhalten. Es ist auch klar, dass für diejenigen, die das entmythologisierte Bild von 1. Mo. 1 akzeptierten, in dem die göttliche Kontrolle über die Wasser der Schöpfung einfach eine Arbeitsaufgabe war, die Vorstellung eines ursprünglichen Kampfes mit einem Drachen und dem Meer ebenfalls poetisch war. Es kann jedoch nicht bezweifelt werden, dass es im alten Israel Menschen gab, die eine synkretistische Form des Jahwismus praktizierten, die z.B. Jahwe mit Baal gleichsetzten (vgl. Hos 2,18, ET 16) und alle Heerscharen des Himmels anbeteten (vgl. Zeph 1,5), und für sie wäre die Mythologie des göttlichen Konflikts mit dem Drachen und dem Meer sicherlich lebendig gewesen. Das Alte Testament selbst duldet natürlich keinen Synkretismus, und sein Monotheismus, zunächst implizit, später explizit, muss einen transformierenden Einfluss auf den Mythos ausgeübt haben, der seinen polytheistischen Kontext erschütterte. Es sollte jedoch angemerkt werden, dass der Monotheismus an sich nicht bedeutet, dass der Mythos nicht wörtlich genommen werden konnte, da er zwar mit dem Glauben, dass der Drache und das Meer Götter waren, unvereinbar ist, aber mit der Ansicht, dass es sich um dämonische Kräfte handelte, die in der antiken Welt oft in Tierform dargestellt werden, vereinbar ist … Zusammenfassend scheint es also, dass für einige im alten Israel die Mythologie lebendig war und für andere nicht, und selbst für diejenigen, für die sie lebendig war, hatte der israelitische Monotheismus sie bis zur Unkenntlichkeit verändert. (Day 1985: 189)
Bildnachweis
dimitrisvetsikas1969. 2018 <https://pixabay.com/de/photos/welle-wasser-surfen-ozean-meer-3445011/> [accessed 15 April 2021] CC0
Literaturangaben
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