Der Grund, weshalb der Sanhedrin, der jüdische Rat, Jesus zum Tode verurteilte, hat mich immer etwas verwirrt: Gotteslästerung. Als Jesus während seines Prozesses direkt danach gefragt wurde, bestätigte er, der Messias zu sein. Das ist aber kein Verbrechen. Man kann diese Behauptung für Unsinn halten, aber das macht sie nicht zur Gotteslästerung.
Keiner der anderen messianischen Anwärter, die im ersten Jahrhundert auftraten, wurden wegen ihres Anspruchs vom Sanhedrin verklagt, geschweige denn aus diesem Grund verurteilt. Was war bei Jesus anders?
Ein Buch von Eckhard Schnabel (2018) gab mir die Gelegenheit, dieser Frage nachzugehen.
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST
Das Buch
Jesus in Jerusalem: The Last Days ist ein seltsames Buch; ich hätte fast aufgehört, es zu lesen. Der Text ist mit mehr als 2000 Endnoten versehen. Für jede Seite gibt es fast eine halbe Seite mit Anmerkungen – kleingedruckt! Das kommt mir etwas übertrieben vor.
Außerdem wird im ersten Abschnitt, der fast hundert Seiten umfasst, detailliert beschrieben, was wir über jeden wissen, der in der letzten Woche Jesu eine Rolle spielte, sowohl Einzelpersonen wie auch Gruppen. Es sind insgesamt 72 Personen und Gruppen. Ich fand dieses Material nicht besonders hilfreich.
Nachdem der Autor sich mit dem „Wer“ beschäftigt hat, geht er auf das „Wo“, das „Wann“ (Zeitrahmen der Woche) und das „Was“ (Ereignisse der Woche) ein. Hier wird es zunehmend interessant. Der Autor gibt sich viel Mühe, die unterschiedlichen Berichte in den Punkten zu harmonisieren, in denen sie sich zu widersprechen scheinen. Und noch interessanter ist seine Sicht auf den Prozess gegen Jesus.
Fairer Prozess?
Der Prozess gegen Jesus vor den Hohepriestern scheint aus drei Teilen bestanden zu haben (so Schnabel 2018: 234). Es gab eine Voruntersuchung vor Hannas, dem ehemaligen Hohepriester und Schwiegervater des Kaiphas, des amtierenden Hohepriesters (Joh. 18,12-14, 19-24). Dann gab es eine formellere Untersuchung vor Kaiphas in dessen Haus, bei der alle oder die meisten Mitglieder des Sanhedrins anwesend waren. Schließlich gab es eine abschließende Sitzung des Sanhedrins in dessen offiziellem Gebäude, der herodianischen Halle, direkt außerhalb des Tempelbereichs (Schnabel 2018: 106, 125-7, 264f). Die Schlusssitzung führte zum formellen Urteil (Lk. 22,66-71; Mk. 15,1; Mt. 27,1).
Oft wird argumentiert, dass der Prozess gegen Jesus eine Farce oder illegal war und dass der Sanhedrin mehrere seiner eigenen Regeln für solche Verfahren brach. Craig Keener zum Beispiel nennt es „The Sanhedrin‘s Mock Trial“, „Der Schauprozess des Sanhedrins“ (1993: Mk. 14,53-65).
Eckhard Schnabel ist da anderer Meinung (2018: 243-5, 251-6). Wenn es sich nur um einen Schauprozess mit einem abgekarteten Ergebnis handelte, warum haben die Ratsmitglieder dann so hart daran gearbeitet, eine Anklage zu finden, die Bestand hat und den gesetzlichen Anforderungen entspricht (ebd.: 251-6)? Allem Anschein nach waren sie stundenlang damit beschäftigt. Sie brauchten (und suchten) mindestens zwei Zeugen, die sich einig waren. Diese Zeugen mussten zu Details ins Kreuzverhör genommen werden; die Übereinstimmung musste sich auch auf Aspekte wie den Zeitpunkt und den Ort einer angeblichen Straftat erstrecken, die begangen (und beobachtet) worden war. In einem echten Schauprozess wären die Zeugen darauf vorbereitet worden, sich in ihren Aussagen nicht zu widersprechen. Das ist hier nicht der Fall. Die Richter gehen leer aus.
Darüber hinaus argumentiert Schnabel, dass mehrere Regeln (wie die, das Urteil nicht am selben Tag wie das Verhör zu verkünden, sondern mindestens eine Nacht dazwischen vergehen zu lassen) nicht für so ernsthafte Verbrechen wie Gotteslästerung und Verführung galten (Schnabel 2018: 244). Basierend auf 3. Mose 24,10-16 und 5. Mose 13,5-18 verdienten diese Verbrechen die Todesstrafe.
Genau genommen bestand der Tatbestand der Gotteslästerung ursprünglich darin, den göttlichen Namen zu verfluchen. Verführung bedeutete, Israel dazu zu bringen andere Götter anzubeten oder das Volk in anderer Form zum Abfall zu bewegen. Das Verständnis dieser Verbrechen hatte sich mit der Zeit jedoch etwas erweitert und umfasste auch den Versuch, Israels Gehorsam gegenüber Gott und seinem Gesetz ernsthaft zu untergraben (Schnabel 2018: 261). Den Tempel in Frage zu stellen oder die Absicht, ihn zu zerstören, konnte daher als ein Fall von Gotteslästerung und der Verführung Israels in diesem weiteren Sinne betrachtet werden.
Obwohl das Verfahren alles andere als unparteiisch war, hält Schnabel den Prozess deswegen nicht für einen Justizirrtum mit dreistem Fehlverhalten seitens der Richter; im Großen und Ganzen wurden die Regeln eingehalten.
Tatsache ist, dass der Prozess gerade wegen der Einhaltung der Regeln sein Ziel fast verfehlt hätte. Denn, wie wir in den Evangelien lesen, wurden keine Zeugen gefunden, die sich einig waren.
Ein Akt der Verzweiflung
Die Zeugen sind sich nicht einmal in der Frage einig, was Jesus über den Tempel gesagt hat. Allerdings kommen sie bei diesem Thema einer Anklage, die eine Verurteilung rechtfertigen würde, am nächsten. Sie behaupten, Jesus hätte angekündigt, er werde den Tempel zerstören. Das hat zwar Jesus nie gesagt, aber möglicherweise wurden seine Worte so gehört und verstanden; wir hören oft nicht genau das, was gesagt wird.
In seiner Prophezeiung in derselben Woche über die bevorstehende Zerstörung des Tempels hatte Jesus gesagt, dass andere den Tempel zerstören würden, nicht er (Mk. 13). Viel früher hatte er behauptet, dass er „diesen Tempel“ wieder aufbauen würde, wenn sie ihn zerstören würden. Obwohl er damit seinen Körper meinte, wäre Jesus, selbst wenn man seine Absicht missverstanden hätte, nicht derjenige gewesen, der den Tempel zerstören würde (Joh. 2,19-21).
Der Prozess gerät aus den Fugen. Kaiphas, der Hohepriester, der die Verhandlung leitet, muss dies bemerkt haben. Er schaltet sich ein und verhört Jesus direkt:
Und der Hohepriester stand auf, trat in die Mitte und fragte Jesus und sprach: Antwortest du nichts auf das, was diese gegen dich bezeugen? (Mk. 14,60)
Jesus „aber schwieg still und antwortete nichts“ (Mk. 14,61). Kaiphas sieht sich gezwungen, ein kühnes Spiel zu treiben; es ist ein Akt der Verzweiflung:
Da fragte ihn der Hohepriester abermals und sprach zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? (Mk. 14,61)
Wenn Jesus an diesem Punkt weiter geschwiegen hätte, wäre der Fall erledigt gewesen. Es wurde kein Fehlverhalten bewiesen; sie hätten ihn gehen lassen müssen. Oder den Prozess verlängern, um weitere Zeugen zu suchen. Bei Tausenden von Jesus-Anhängern in der Stadt wäre das ein großes Risiko gewesen.
Aber Jesus schweigt nicht, er antwortet auf die Frage. Und er gibt Kaiphas mehr, als dieser wohl zu hoffen gewagt hat:
Jesus aber sprach: Ich bin‘s; und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen mit den Wolken des Himmels. (Mk. 14,62)
Diese Aussage, und nur sie, führt zu seiner Verurteilung. Aber warum wird sie als Blasphemie gewertet?
Es handelt sich nicht um Gotteslästerung im engeren Sinn (Verfluchung des Namens Gottes). Jesus definiert jedoch neu, was Christus (oder Messias) bedeutet: Er ist mehr als nur ein menschlicher, sterblicher Messias, der nur in einem nichtwörtlichen Sinn „Sohn Gottes“ ist. Das wäre vielleicht zulässig gewesen. Jesus verbindet den „Menschensohn“ aus Daniel 7,13f, 27 (keine offensichtliche messianische Stelle) mit Psalm 110,1. Er sieht sich Seite an Seite mit Gott, auf derselben Ebene – und das ist zu viel.
(Nebenbei bemerkt: Es bedeutet auch, dass Jesus den Spieß umdreht. Er lässt es so klingen, als stünden in Wirklichkeit sie vor Gericht, und er sei der Richter.)
Im erweiterten Sinne des Wortes ist dies tatsächlich Gotteslästerung. Für wen hält sich Jesus eigentlich? Für Gott? Blasphemie!
Es sei denn, was er sagt, ist wahr.
Bei Pilatus
Der Sanhedrin braucht Pontius Pilatus, den römischen Statthalter, um das Urteil zu bestätigen. Das erweist sich als schwieriger als erwartet; Pilatus leistet Widerstand.
Und [sie] fingen an, ihn zu verklagen, und sprachen: Wir haben gefunden, dass dieser unser Volk aufhetzt und verbietet, dem Kaiser Steuern zu geben, und spricht, er sei Christus, ein König. (Lk. 23,2; es ist bemerkenswert, dass die zweite Anklage völlig falsch ist: Jesus hat dies niemals verboten; im Gegenteil: Mk. 12,14-17)
Die Hohepriester versuchen, die Verbrechen der Verführung und der Gotteslästerung in Begriffe zu übersetzen, die Pilatus verstehen würde. Ein „religiöses“ Vergehen wird politisiert: Aus Verführung wird Aufruhr. Von größtem Interesse für Rom ist der Anspruch auf die Königsherrschaft. Jesus hatte in der Tat zugestimmt, der Christus zu sein, d. h. der kommende König; die Anklage ist nicht ganz ohne Grund.
Pilatus fragt Jesus unverblümt und direkt: „Bist du der König der Juden?“ Und Jesus antwortet: „Du sagst es“ (Mk. 15,2). Heißt das, ja? Bedeutet es: Das sind die Begriffe und Kategorien, in denen du denkst, aber ich nicht? Die längere Fassung des Gesprächs zwischen Pilatus und Jesus in Johannes 18,32-38 legt die zweite Alternative nahe: Jesus erklärt, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist. Daher sieht Pilatus in Jesus keine Bedrohung für die römische Ordnung und versucht beharrlich, ihn freizulassen.
Nach einigem Hin und Her wechseln die Ankläger die Taktik:
Die Juden antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht. (Joh. 19,7)
Wenn Pilatus Jesus nicht als Anwärter-König verurteilt, wird er ihnen vielleicht erlauben, ihr eigenes Gesetz zu befolgen. Die Juden sind ohnehin mehr über die angebliche Gotteslästerung besorgt als über den messianischen Anspruch. Aber auch das überzeugt Pilatus nicht. Deshalb ziehen die Ankläger ihren letzten Trumpf:
Die Juden aber schrien: Lässt du diesen frei, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum König macht, der ist gegen den Kaiser. (Joh. 19,12)
Das bedeutet für Pilatus Alarmstufe Rot. Es besteht die reale Gefahr, dass die Juden eine Botschaft mit einer formellen Beschwerde nach Rom schicken, was später in seiner Laufbahn in einer anderen Angelegenheit tatsächlich geschehen ist. Er konnte dem Kaiser nicht glaubhaft erklären, dass er einen Mann, der behauptete, König von Israel zu sein, auf freiem Fuß gelassen hatte. Pilatus gibt nach. Ironischerweise ist es dieser Anklagepunkt – nicht Blasphemie, sondern die Behauptung, er sei der messianische König –, der Bestand hat. Aus diesem Grund wird er gekreuzigt, wie die Beschriftung am Kreuz zeigt: „Der König der Juden“ (Joh. 19,19f; Mk. 15,26).
Der König der Juden
Jesus wurde also als König der Juden gekreuzigt: für die Römer ein Akt des Aufruhrs, für die Juden aufgrund der erhöhten Bedeutung, die Jesus für sich beanspruchte, eine gotteslästerliche Behauptung, die die Israeliten in die Irre und von Gott wegführte. Für Juden und Römer war der Anspruch ausreichend Grund zur Todesstrafe durch Kreuzigung
Aber dann…
Gott ist mit den menschlichen Richtern nicht einverstanden. Er greift ein, setzt ihr Urteil außer Kraft und macht die verhängte Strafe (Hinrichtung) durch die Auferstehung rückgängig. Und geht sogar noch weiter: Er setzt Jesus zu seiner Rechten und macht ihn zum Mitregenten des Universums.
Damit hat niemand gerechnet.
Bildnachweis
Weglinde. 2015. “Jesus is led away after Pontius Pilate has delivered his verdict” <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jesus_led_away_from_Pontius_Pilate.JPG> [accessed 24 August 2021] CC0 1.0
Botaurus. 2012. “He is guilty of death” by Vasily Polenov <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%D0%92%D0%B0%D1%81%D0%B8%D0%BB%D0%B8%D0%B9_%D0%94%D0%BC%D0%B8%D1%82%D1%80%D0%B8%D0%B5%D0%B2%D0%B8%D1%87_%D0%9F%D0%BE%D0%BB%D0%B5%D0%BD%D0%BE%D0%B2_-_%D0%9E%D0%BD_%D0%B2%D0%B8%D0%BD%D0%BE%D0%B2%D0%B5%D0%BD_%D0%B2_%D1%81%D0%BC%D0%B5%D1%80%D1%82%D0%B8.jpg> [accessed 24 August 2021] Public Domain
Gandvik. 2015. “Jesus Before Pilate, First Interview” by James Tissot <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jesus_Before_Pilate,_First_Interview.jpg> [accessed 24 August 2021] Public Domain
geralt. 2012 <https://pixabay.com/illustrations/cross-bridge-faith-sunset-religion-4364095/> [accessed 24 August 2021] CC0
Literaturangaben
Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Keener, Craig S. 1993. The IVP Bible Background Commentary: New Testament (Downers Grove, IL: InterVarsity Press)
Schnabel, Eckhard J. 2018. Jesus in Jerusalem: The Last Days (Grand Rapids, MI: William B. Eerdmans Publishing Company)
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