Ich bereite mich darauf vor, Hebräer an zwei verschiedenen Orten zu unterrichten. Als Teil meiner Vorbereitung wollte ich das Buch auf Griechisch lesen. Das stellte sich als harter Brocken heraus. Ich hatte das Buch schon einmal auf Griechisch gelesen, also hätte ich es wissen müssen, aber vielleicht habe ich die Erinnerung verdrängt!
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST
Die Sprache
Es handelt sich von der Sprache her wohl um den schwierigsten Text im gesamten Neuen Testament: ausgefeilt, kultiviert, elegant, anspruchsvoll. Die Gelehrten sind sich einig, dass der Hebräerbrief im auserlesensten Griechisch des NT geschrieben ist (so Witherington 2007: 39).
Betrachten wir die Wortstatistik für Hebräer (ebd.):
- 4942 Wörter insgesamt
- 1038 unterschiedliche Wörter
- 169 davon kommen nur einmal im NT vor (sog. hapax legomena)
- 90 werden nur in einem weiteren Buch des NT verwendet
- 10 kommen in der griechischen Literatur vor dem Hebräerbrief nicht vor
Wir kennen den Namen des Verfassers nicht, aber sein Wortschatz war erstaunlich groß!
[Ich möchte nicht viel über die Frage der Autorschaft sagen. Nach dem heutigen Stand der Forschung war es nicht Paulus; Paulus schreibt anders, und Hebräer 2,3 trifft nicht auf ihn zu. Ansonsten können wir nur Vermutungen anstellen: Apollos, Barnabas, Lukas, Aquila, … Apollos ist interessant; er war ein Jude aus Alexandrien und wird als „ein beredter Mann und gelehrt in der Schrift“ beschrieben (Apg. 18,24). Aber wir wissen nicht, wie redegewandt andere im NT erwähnte Personen waren, ganz zu schweigen von den vielen, deren Namen es nicht ins NT geschafft haben. Wir wissen nicht, wer den Hebräerbrief geschrieben hat.]
Die reiche Sprache, die verwendet wird, zeigt sich nicht nur in der obengenannten Statistik der Wortwahl. Ich habe eine Liste mit allen Warnungen oder Gefahren im Buch erstellt. Es gibt eine Reihe von Begriffen, die von relativ mild bis schwerwiegend reichen. Am milden Ende des Spektrums stehen Worte wie vorbeitreiben (Heb. 2,1), nicht achten (Heb. 2,3), harthörig (Heb. 5,11), träge (Heb. 6,12) und matt werden (Heb. 12,3). Auf der harten Seite warnt der Autor davor, ein böses, ungläubiges Herz zu haben (Heb. 3,12), mutwillig zu sündigen (Heb. 10,26), und Gott abzuweisen (Heb. 12,25). Dreimal warnt er vor einem Fall (Heb. 3,12, 4,11, 6,6), verwendet dabei allerdings drei verschiedene griechische Verben.
Ich habe eine zweite Liste mit Begriffen erstellt. Der Autor verwendet sie für das, was er von den Lesern verlangt, damit sie die Gefahren der ersten Liste vermeiden oder ihnen entgegenwirken.
Die Liste enthält mehr als 20 Begriffe und Ausdrücke; die meisten erscheinen nur einmal. Nur Geduld und erdulden wird wiederholt verwendet, ebenso festhalten. Der letztgenannte Begriff kommt fünfmal vor (Heb. 3,6, 3,14, 4,14, 6,18 und 10,23). Es werden jedoch zwei verschiedene griechische Verben verwendet. Außerdem ist der Gegenstand jedes Mal ein anderer. Die Leser sollen festhalten:
- das Vertrauen und den Ruhm der Hoffnung (Heb. 3,6)
- die Zuversicht vom Anfang (Heb. 3,14)
- an dem Bekenntnis (Heb. 4,14)
- an der gebotenen Hoffnung (Heb. 6,18)
- an dem Bekenntnis der Hoffnung (Heb. 10,23)
Offensichtlich handelt es sich durchweg um eine ähnliche Idee, aber der Autor findet jedes Mal eine andere Formulierung. Die Sprache ist reich und vielfältig.
Rhetorische Struktur und Strategie
Der Hebräerbrief zeichnet sich auch durch die brillante Verwendung der antiken Rhetorik aus (für eine Einführung in dieses Thema siehe Briefe, die keine sind). Wahrscheinlich hatte der Autor Rhetorik studiert.
Es gibt verschiedene Arten von Rhetorik, die unterschiedlichen Zwecken dienen. Im NT begegnet uns häufig eine abwägende oder beratende Rhetorik. Das Ziel des Redners oder des Autors ist es, die Meinung und das Verhalten seiner Zuhörer zu ändern. Gute Beispiele dafür sind der Römerbrief, der 1. Korintherbrief und der 2. Korintherbrief.
Es gibt auch Beispiele für die Rhetorik der Lobrede. Dazu gehört der Epheserbrief. Und vor allem der Hebräerbrief. Die Lobrede zielt nicht darauf ab, Menschen zu überzeugen, ihre Meinung zu ändern. Sie versucht nicht, eine These zu beweisen (deswegen wird auch keine These explizit formuliert). Vielmehr geht es um Lob oder Tadel und darum, zu zeigen, was lobenswert ist (oder nicht), um so die gemeinsamen Werte und Überzeugungen zu stärken – wie z.B. am Naitonalfeiertag.
Diese Art von Rhetorik geht davon aus, dass die Menschen grundsätzlich mit dem Autor übereinstimmen, aber möglicherweise Ermutigung oder Ermahnung brauchen, um das Engagement für die Werte und Überzeugungen, die sie teilen, aufrechtzuerhalten:
Wir müssen uns ständig vor Augen halten, dass die Funktion von Lob und Tadel bei jedem Thema darin besteht, die Zuhörer zu motivieren, sich weiterhin an ihre Grundwerte zu erinnern und an diesen festzuhalten (was sowohl die Ideologie als auch die Praxis einschließt) und ein Abgleiten in tadelnswerte Überzeugungen und Verhaltensweisen zu vermeiden. (Witherington 2007: 52)
Synkrisis. Ein Instrument, das der Hebräerbrief dazu einsetzt, ist Synkrisis, eine vergleichende Gegenüberstellung. In diesem Fall wird Neues mit Altem verglichen. Punkt für Punkt erfahren wir, warum das Neue, also Jesus, besser ist als das Alte: Engel, Mose, die Ruhe (Josua), Priestertum, Zelt, Opfer und mehr dienen dem Vergleich.
Wir sollten daraus nicht schließen, dass das alte Opfersystem und der alte Bund deshalb schlecht oder wertlos waren. Die stärkste Synkrisis vergleicht die bevorzugte Option mit etwas Gutem und Wertvollem und zeigt, dass sie sogar noch besser ist. Zur Verdeutlichung: „Jesus ist besser als Essig“ sagt nicht viel aus; „deine Liebe ist besser als Wein“ ist hingegen eine Aussage mit Gewicht. Das alte, von Mose eingeführte System war die beste verfügbare Option – bis Jesus kam.
Die Schrift. Der Hebräerbrief ist nicht nur eine schriftlich niedergelegte Rede, er ist eine Predigt. Der Autor selbst nennt ihn ein „Wort der Ermahnung“, und zwar ein kurzes (Heb. 13,22; man fragt sich, wie ein langes Wort ausgesehen hätte). Der Hebräerbrief enthält eine beträchtliche Anzahl von Zitaten aus dem AT. Er beginnt mit einer Kette von sieben Zitaten in Kapitel 1. Danach gibt es sieben Bibelstellen, mit denen er sich intensiver auseinandersetzt (und viele zusätzliche Zitate und Anspielungen; die sieben Hauptstellen werden unten aufgeführt).
Die wichtigste Stelle scheint Psalm 110 zu sein. Dort fand der Autor die Idee von Melchisedek und eine Erklärung dafür, wie Jesus Priester sein kann, ohne von Aaron und Levi abzustammen.
Die Auslegung der Schrift wechselt mit Ermahnungen ab (wie es sich für eine gute Predigt gehört). Diese Ermahnungen sind das eigentliche Ziel des Autors und dominieren gegen Ende zunehmend den Text.
Zusammenfassung. Es ist leicht, den Faden einer Predigt zu verlieren, besonders bei einer Predigt, die so lang und dicht ist. Es ist hilfreich, dass der Autor seine Hauptaussage an drei Stellen darlegt und zusammenfasst:
Hebräer 4,14-5,1 // Hebräer 8,1-3 // Hebräer 10,19-23
Ich zitiere diese Verse vollständig, wobei wiederholte Begriffe fett gedruckt sind (meine Hervorhebung):
Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversichtzu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben. Denn jeder Hohepriester, der von den Menschen genommen wird, der wird eingesetzt für die Menschen zum Dienst vor Gott, damit er Gaben und Opfer darbringe für die Sünden. (Heb. 4,14-5,1)
Das ist nun die Hauptsache bei dem, wovon wir reden: Wir haben einen solchen Hohenpriester, der da sitzt zur Rechten des Thrones der Majestät im Himmel und ist ein Diener am Heiligtum und an der wahren Stiftshütte, die Gott aufgerichtet hat und nicht ein Mensch. Denn jeder Hohepriester wird eingesetzt, um Gaben und Opfer darzubringen. Darum muss auch dieser etwas haben, was er opfern kann. (Heb. 8,1-3; das Priestertum Jesu ist bis Kapitel 8 das Hauptthema; ab Kapitel 8 geht es um den besseren Bund, die wahre Stiftshütte und vor allem um das bessere Opfer)
Weil wir denn nun, liebe Brüder, durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns aufgetan hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch das Opfer seines Leibes, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser. Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat. (Heb. 10,19-23)
Die erste und die letzte dieser drei Aussagen bilden eine Klammer um den zentralen Teil des Buches (Heb. 5,1-10,18), der fast ausschließlich erklärend ist. Es geht um Jesus als Hohepriester und um das überragende Opfer, das er gebracht hat.
Erklärung | Ermahnung | Bibelstellen |
1,1-14 Engel | Kette von Zitaten (7) | |
2,1-4 | ||
2,5-18 Engel | Ps. 8 (Heb. 2,6-8) | |
3,1-4,13 | Ps. 95 (Heb. 3,7-11) | |
4,14-5,1* 5,2-10 Priester | Ps. 110 (Heb. 5,6) | |
5,11-6.20 | ||
7,1-28 Priester 8,1-3* 8.4-10:18 Bund, Zelt, Opfer | Jer. 31,31-34 (Heb. 8,8-12) Ps. 40 (10,5-7) | |
10,19-23* 10,24-39 | Hab. 2,3-4 (Heb. 10,37f) | |
11 Vorbilder | ||
12 | Spr. 3,11-12 (Heb. 12,5-6) | |
13 | ||
* Zusammenfassung: Der Punkt ist … |
Tiefsinnige Theologie
Mit seiner Rhetorik leistet der Hebräerbrief einen einzigartigen und wesentlichen Beitrag zu unserem Verständnis von Jesus und dem Kreuz. Vor etwa einem Jahr habe ich zu diesem Thema, über das Sühnopfer, geschrieben und dabei Modelle und Erklärungen zusammengestellt. Der Hebräerbrief gibt uns zwei davon, die wir sonst nirgendwo finden.
Das offensichtliche ist Jesus als der Hohepriester, der das vollkommene Opfer bringt. Darüber hinaus zeigt Hebräer Jesus als Vorläufer und Wegbereiter, der einen Weg durch den Tod bahnt. Er schmeckt für uns alle den Tod (Heb. 2,9) und vernichtet denjenigen, der die Macht des Todes benutzt hat, um uns durch Angst vor dem Tod in lebenslanger Sklaverei zu halten (so Heb. 2,14f).
Dabei gibt uns der Autor zugleich auch den Schlüssel zum Verständnis des gesamten Opfersystems des Alten Bundes – und liefert eine Fülle von Gründen, im Wettkampf mit Ausdauer (Luther: Geduld) zu laufen, während wir „aufsehen zu Jesus“ (Heb. 12,1f).
Er spielt im Hebräerbrief – und überhaupt – die Hauptrolle.
Bildnachweis
Chamb, Jovyn. 2019 <https://unsplash.com/photos/iWMfiInivp4> [accessed 29 October 2021] CC0
edmondlafoto. 2018 <https://pixabay.com/photos/paris-festival-france-july-14th-3568523/> [accessed 29 October 2021] CC0
Radford, Stephen. 2016 <https://unsplash.com/photos/86QxYjwq8LU> [accessed 29 October 2021] CC0
Literaturangaben
Bibelzitate: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Witherington, Ben. 2007. Letters and Homilies for Jewish Christians: A Socio-Rhetorical Commentary on Hebrews, James and Jude (Downers Grove, IL; Nottingham, UK: IVP Academic; Apollos)