Die Evangelien und die Apostelgeschichte

Unglücklicherweise steht das Lukasevangelium in der Bibel unter den Evangelien an dritter Stelle, noch vor dem Johannesevangelium – und wurde so getrennt von der Apostelgeschichte. Das ist bedauerlich, denn so kann man leicht übersehen, dass das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte vom selben Autor, nämlich Lukas, stammen. Auch bleibt so unsichtbar, dass es sich um zwei Bände einer Reihe handelt und nicht um zwei unabhängige Bücher. Zumindest bis zu einem gewissen Grad sollten diese beiden Bücher zusammen gelesen und interpretiert werden. Das wird allzu oft nicht getan.

Darüber hinaus erweckt seine Platzierung den Eindruck, dass das Lukasevangelium zur gleichen Literaturgattung gehört wie die anderen drei Evangelien. Aber die Apostelgeschichte (Band 2) soll kein Evangelium sein. Was genau ist aber ein „Evangelium“? Und zu welcher Gattung gehört denn die Apostelgeschichte?

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„Evangelium“ als Literaturgattung

Diese Fragen werden nach wie vor heftig diskutiert, und das aus gutem Grund. Die Bestimmung der Gattung oder der Literaturart eines Textes ist ein wichtiger Schritt, um ihn richtig zu verstehen. Ein offensichtliches Beispiel: Ein Märchen ist etwas anderes als ein Zeitungsartikel. Wir lesen sie unterschiedlich und mit sehr unterschiedlichen Erwartungen.

Was macht eine Gattung aus? Sie beruht auf Elementen wie Form, Inhalt, Funktion und Zweck, die bestimmte Texte gemeinsam haben. Daraus leiten sich Regeln oder Prinzipien ab, wie ein Text zu rezipieren und zu interpretieren ist.

Bis zum frühen 20. Jahrhundert wurden die Evangelien allgemein als eine Art Biografie verstanden. Zur Zeit der Abfassung des Neuen Testaments wurde die Biografie zu einer immer beliebteren Form des Schreibens. Streng genommen sollten wir von Bios reden, da dies der damals verwendete Begriff war. Bios ist das griechische Wort für Leben. Der Bios (Vita im Latein) befasste sich mit dem Leben besonderer Personen. Das tun auch die Evangelien.

Seit den 1920er Jahren änderte sich der Konsens der Bibelwissenschaft dramatisch; die Evangelien wurden nun als „ein einzigartiger Typus frühchristlicher Schriften verstanden, der nicht durch Bezugnahme auf irgendeine andere Art von Literatur der antiken Welt erklärt werden kann. Diese Position wurde zur Standardansicht unter den Gelehrten des Neuen Testaments, die bis in die letzten Jahrzehnte praktisch unangefochten blieb“ (Hurtado 1992: 277). Mit anderen Worten: Evangelium war zu einer eigenen Literaturgattung geworden:

Bis in die 1970er Jahre herrschte praktisch ein Konsens darüber, dass die Evangelien eine einzigartige literarische Gattung in der griechisch-römischen Welt darstellten und dass alle offensichtlichen Ähnlichkeiten mit anderen frühchristlichen Schriften oder dem weiteren griechisch-römischen literarischen Umfeld irrelevant waren. Dieser Konsens wurde jedoch in Frage gestellt, und verschiedene Gelehrte haben argumentiert, dass die Evangelien mit einer oder mehreren Arten griechisch-römischer Literatur verwandt sind, am häufigsten mit biografischen Schriften. (Ebd.: 276)

In gewissem Sinne ist jeder Mensch – und jeder Text – einzigartig. Allerdings ist die Einzigartigkeit Jesu, so darf man das wohl sagen, einzigartig, sui generis, one of a kind. Aber macht dies die Evangelien zu einer einzigartigen Literaturform? Erforderte die Einzigartigkeit Jesu eine ebenso einzigartige Gattung, um seine Geschichte zu erfassen?

„Evangelium“ als Biografie der Antike

Wahrscheinlich nicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte ein Leser der Antike, der beispielsweise ein Exemplar von Markus oder Johannes in die Hand genommen hätte, es als eine Art Biografie betrachtet.

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Blatt dann auch gewendet. Laut dem Lexham Bible Dictionary betrachten viele Wissenschaftler die Evangelien heute innerhalb eines „Rahmens der altgriechischen Biografie oder des Bios … sie passen in die Gattung der altgriechischen Biografie … Diese Sichtweise der Gattung der Evangelien als eine Untergruppe der antiken Biografie ist heute allgemein akzeptiert“ (Smith 2016).

Ein Gelehrter, der viel zu dieser Veränderung beigetragen hat, ist Richard A. Burridge. Im Dictionary of New Testament Background fasst er die Argumente für die Evangelien als Biografie zusammen:

Im Gegensatz zu modernen Biografien decken die griechisch-römischen Biografien nicht das gesamte Leben einer Person in chronologischer Reihenfolge ab, und sie enthalten keine psychologische Analyse des Charakters der Person. Inhaltlich beginnen sie mit einer kurzen Erwähnung der Abstammung, der Familie oder der Stadt des Helden, seiner Geburt und einer gelegentlichen Anekdote über seine Erziehung; in der Regel geht die Erzählung rasch zu seinem späteren öffentlichen Auftritt über. Berichte über Generäle, Politiker oder Staatsmänner sind eher chronologisch geordnet und erzählen von ihren großen Taten und Tugenden, während das Leben von Philosophen, Schriftstellern oder Denkern eher anekdotisch und thematisch um Materialsammlungen herum angeordnet wird, um ihre Ideen und Lehren darzustellen. Auch wenn der Autor den Anspruch erhebt, Informationen über sein Thema zu liefern (und wir stellen fest, dass keine antiken Biografien von Frauen verfasst wurden), so verfolgt er doch oft apologetische (um das Andenken des Betreffenden gegen die Angriffe anderer zu verteidigen), polemische (um seine Rivalen anzugreifen) oder didaktische (um seine Anhänger über ihn zu unterrichten) Ziele. In vielen antiken Biografien wird der Tod des Protagonisten sehr ausführlich beschrieben, da er hier seinen wahren Charakter offenbart, seine endgültige Lehre erteilt oder seine größte Tat vollbringt. (Burridge 2000: 168)

Wie andere antike Biografien sind auch die Evangelien fortlaufende Prosaerzählungen von der Länge einer einzigen Schriftrolle, die aus Geschichten, Anekdoten, Sprüchen und Reden bestehen. Die Konzentration auf das öffentliche Wirken Jesu, von der Taufe bis zum Tod, auf seine Lehre und seine großen Taten unterscheidet sich nicht wesentlich vom Inhalt anderer antiker Biografien. Auch der Raum, der der letzten Lebenswoche Jesu, seinem Tod und der Auferstehung eingeräumt wird, spiegelt den Raum wider, der dem Tod und den nachfolgenden Ereignissen in den Werken von Plutarch, Tacitus, Nepos und Philostratus eingeräumt wird. (Ebd.: 169)

Hurtados Warnung

Im Dictionary of Jesus and the Gospels schlägt Larry Hurtado einen vorsichtigeren Ton an, und wir tun gut daran, seine Warnung zu beherzigen. Es gibt eben auch Unterschiede zwischen den Evangelien und den Biografien. Der Schwerpunkt der Evangelien liegt nicht auf dem Charakter Jesu als nachahmenswertem Vorbild, sondern auf seiner einzigartigen Rolle. Er ist mehr als ein moralisches Beispiel oder ein herausragender und bewundernswerter Mensch.

Außerdem ist der Zweck ein anderer. Die Evangelien wurden nicht für ein allgemeines Publikum geschrieben, sondern um der christlichen Gemeinschaft zu dienen, wenn sie zum Gottesdienst zusammenkommt. Es handelt sich nicht um Texte für den privaten Gebrauch. Hurtado fasst zusammen:

Es ist wahrscheinlich, dass beide Seiten in der Debatte ihre Berechtigung haben. Einerseits weisen die Evangelien verschiedene Merkmale einer oder mehrerer Arten der griechisch-römischen Literatur auf und können daher mit bestimmten literarischen Gattungen dieser Zeit verglichen werden. Darüber hinaus sollten wir erwarten, dass die Autoren des Neuen Testaments von den allgemeinen literarischen Konventionen und Praktiken ihrer Zeit beeinflusst wurden. Dennoch weisen die neutestamentlichen Evangelien auch eine gewisse Einzigartigkeit auf und bilden somit zumindest teilweise eine eigene Kategorie oder Untergattung. Das heißt, die Evangelisten scheinen, obwohl sie von ihrem literarischen Umfeld beeinflusst wurden, Werke geschaffen zu haben, deren Ursprung und Merkmale am unmittelbarsten im Hinblick auf die frühchristlichen Gruppen zu verstehen sind, für die die Evangelien geschrieben wurden. (Hurtado 1992: 276)

Wie bereits erwähnt, hätte ein antiker Leser, der ein Exemplar von Markus oder Johannes in die Hand nahm, dieses als eine Form der Biografie betrachtet. Wir müssen auch bedenken, dass die antike Biografie „ein äußerst flexibles Genre“ war (Burridge 2000: 168). Sie konnte an eine Vielzahl von Zielen angepasst werden, doch die daraus resultierenden Texte wiesen weiterhin „eine klare Familienähnlichkeit“ auf (ebd.: 169) – etwas, das auch für die neutestamentlichen Evangelien gilt.

Die Apostelgeschichte als antike Geschichtsschreibung

Während die Evangelien den Lesern der Antike im Großen und Ganzen als so etwas wie Bios erschienen, hätten sie die Apostelgeschichte als Geschichtsschreibung erkannt. Wie bei den Evangelien und den Biografien passt die Gattung freilich nicht perfekt. Die Geschichtsschreibung des Lukas ist von der alttestamentlichen und jüdischen Geschichtsschreibung, etwa von Josephus, beeinflusst (vgl. Green 1997: 8), und sie behandelt ein ungewöhnliches Thema. Aber sie gehört dennoch in die Kategorie der Geschichtsschreibung.

Und genau hier führt uns die Tatsache in die Irre, dass das Lukasevangelium von der Apostelgeschichte abgetrennt und den Evangelien zugeordnet wurde. Lukas hat sein Evangelium als Teil eines zweibändigen Werkes geschrieben. Beide Teile dienen demselben Ziel und würden normalerweise zur selben Gattung gehören. Das bedeutet, dass das Lukasevangelium in erster Linie Geschichtsschreibung ist, wie die Apostelgeschichte, und nicht eine Biografie.

Die Art und Weise, wie Lukas sein Evangelium beginnt, unterstützt dies. In Lukas 1 sagt er ausdrücklich, was er vorhat, und das ist nicht, eine Biografie zu schreiben. Anders als in den anderen Evangelien geht es ihm nicht um eine Person, sondern um Ereignisse, was auf Geschichte und Geschichtsschreibung schließen lässt:

Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten [gr. pragmata, eher Ereignisse oder Taten], die unter uns geschehen sind, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Worts gewesen sind. So habe auch ich’s für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, damit du den sicheren Grund der Lehre erfährst, in der du unterrichtet bist. (Lk. 1,1-4; Hervorhebung hinzugefügt)

Zugegeben, das Lukasevangelium handelt hauptsächlich von einer Person. Aber, wie Witherington betont, Geschichtsschreibung „konnte beträchtliche Mengen an biografischem Material enthalten, wenn man der Meinung war, dass eine bestimmte Person maßgeblich für die Veränderung des Laufs der Geschichte verantwortlich war (wie Alexander der Große oder Jesus von Nazareth)“ (Witherington 1998: 17; Hervorhebung im Original). Und wer hat den Lauf der Geschichte mehr verändert als Jesus?

Das Lukasevangelium als antike Geschichtsschreibung

Indem wir das Lukasevangelium in einen anderen Kontext (den der Apostelgeschichte) stellen, eröffnen wir einen neuen Blickwinkel auf seine Botschaft. Lukas geht einen bedeutenden Schritt über die anderen Evangelien hinaus. Er schreibt nicht nur über eine herausragende Person, ein einzigartiges Individuum, und was sein Leben – und sein Tod – für uns bedeuten.

Lukas schreibt nicht nur Theologie, er schreibt auch Geschichte. Vielleicht mehr als das: Er interpretiert Geschichte, Weltgeschichte. In den Ereignissen rund um Jesus hat die Geschichte ihren Dreh- und Angelpunkt und ihr Zentrum gefunden. Die Apostelgeschichte zeigt, wie sich dies auf die Welt auszuwirken begann.

Lukas bietet eine kühne neue Deutung der Weltgeschichte, in deren Zentrum der Tod und die Auferstehung Jesu Christi stehen. Das hat keiner der anderen Evangelisten so deutlich dargestellt wie er.

Bildnachweis

OpenClipart-Vectors. 2016 <https://pixabay.com/vectors/unicorn-fantasy-fairy-tale-pony-1293942/> CC0

ChristopherPluta. 2014 <https://pixabay.com/photos/old-newspaper-newspaper-retro-sepia-350376/> CC0

PhilipBarrington. 2015 <https://pixabay.com/vectors/gospel-christian-evangelists-four-881290/> CC0

Literaturangaben

Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Burridge, Richard A. 2000. ‘Biography, Ancient’, in Dictionary of New Testament Background: A Compendium of Contemporary Biblical Scholarship, ed. by Craig A. Evans and Stanley E. Porter (Downers Grove, IL: InterVarsity Press)

Green, Joel B. 1997. ‘Acts of the Apostles’, in Dictionary of the Later New Testament and Its Developments, ed. by Ralph P. Martin and Peter H. Davids (Downers Grove, IL: InterVarsity Press)

Hurtado, L. W. 1992. ‘Gospel (Genre)’, in Dictionary of Jesus and the Gospels, ed. by Joel B. Green and Scot McKnight (Downers Grove, IL: InterVarsity Press)

Smith, Zachary G. 2016 ‘Gospel Genre’, in The Lexham Bible Dictionary, ed. by John D. Barry, David Bomar, Derek R. Brown, Rachel Klippenstein, Douglas Mangum, and others (Bellingham, WA: Lexham Press)

Witherington, Ben. 1998. The Acts of the Apostles: A Socio-Rhetorical Commentary (Grand Rapids, MI: Eerdmans)

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