Samuel: Eine großartige Geschichte, aber was ist der Zweck?

Unter den Büchern der Bibel gibt es einige, die ich oft unterrichte, darunter die Offenbarung und Jesaja. Es gibt viele, die ich gelegentlich unterrichte. Und dann gibt es welche, die ich überhaupt nicht oder vielleicht nur einmal unterrichtet habe. Zu ihnen gehört Samuel. Ich möchte aber keinen Teil der Bibel ignorieren, und so habe ich diesem Buch in letzter Zeit Aufmerksamkeit geschenkt, auch wenn ich nicht erwarte, es bald zu unterrichten.

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Und je mehr ich mich mit Samuel (dem Buch) befasste, desto geheimnisvoller erschien es mir. Ich fühlte mich wie ein absoluter Anfänger mit diesem Buch. Was ist seine Botschaft oder sein Zweck?

Nun, eine Antwort lautet: Es erzählt uns von David und der Monarchie in Israel. Samuel ist Teil einer fortlaufenden Geschichte, die die Bücher Josua und Richter mit dem Buch Könige verbindet. Ohne Samuel gäbe es eine große Lücke in der fortlaufenden Erzählung. Die Antwort ist so weit richtig, aber es gibt vieles im Buch, das dafür nicht nötig ist. Wozu der Rest?

Außerdem: Die anderen drei Bücher der fortlaufenden Geschichte haben einen ganz klaren Schwerpunkt, der über die reine Erzählung der Geschichte Israels hinausgeht. Das Buch Josua dokumentiert Gottes Treue, die es Israel ermöglichte, sich im Land der Verheißung niederzulassen. Das Buch Richter zeigt Israels Untreue im Land. Das Buch Könige erklärt, weshalb es zum Verlust des Landes und zum Exil kam. Und Samuel? Was ist sein Schwerpunkt?

Nun, das Königtum. So viel kann man sagen. Aber was genau ist die Aussage dazu?

Größere Einheiten

Treten wir einen Schritt zurück und stellen zunächst eine grundlegende Frage: Was gibt es in diesem Buch? Es gibt mehrere größere Texteinheiten. Eine weitere grundlegende Frage ist, wie diese zusammenpassen. Es gibt:

1. Die Geschichte Samuels, einschließlich der Geschichte von Hannah mit ihrem Lied (1. Sam. 1-7). Nebenbei bemerkt: Ich bin der Meinung, dass wir die Bedeutung Samuels für die Entwicklung Israels unterschätzen. Er ist die überragende Gestalt seiner Ära; in der Zeit zwischen Josua und David ist er ohnegleichen. Als Prophet und Richter stand er im Zentrum einer bedeutenden Wiederbelebung des israelitischen Glaubens. Ohne ihn hätte der Glaube Israels vielleicht nicht überlebt.

2. Samuels Geschichte wird unterbrochen durch die sogenannte Ladeerzählung: Die Bundeslade fällt in die Hände der Philister. In dieser Erzählung ist Samuel abwesend (1. Sam. 4,1-7,2, und vielleicht 2. Sam. 6).

3. Ab 1. Samuel 8 erfahren wir von der Einführung des Königtums in Israel mit dem ersten König, Saul.

4. Sauls Geschichte überschneidet sich mit dem Aufstieg Davids zur Macht, der in 1. Samuel 15 beginnt. Das Ende dieses Abschnitts ist weniger klar, vielleicht 2. Samuel 5. Die Überschneidung bedeutet, dass sie auch als Kampf zwischen den beiden Häusern Sauls und Davids verstanden werden kann.

5. Sobald David als König über ganz Israel etabliert ist, lesen wir von seiner Sünde. Was folgt, wird oft als Erzählung der Thronnachfolge bezeichnet (2. Sam. 10-20), obwohl bis zum Buch Könige keine Thronnachfolge stattfindet.

6. Das Buch Samuel schließt mit einem Anhang, der sechs Teile enthält und einen Chiasmus bildet (2. Sam. 21-24):

A Sauls Schuld durch die Tötung der Gibeoniter

B Heldentaten gegen „Riesen“

C Davids Psalm der Errettung (vgl. Ps. 18)

C’ Davids letzte Worte

B’ Die Helden Davids

A’ Davids Schuld durch die Volkszählung

Nicht wenige Ausleger gehen davon aus, dass diese Einheiten aus verschiedenen Quellen stammen. Keine von ihnen ergibt jedoch für sich allein einen Sinn; sie überschneiden sich und lassen sich nur verstehen auf Grund von Informationen, die in anderen Einheiten enthalten sind. Die sechs Abschnitte im Anhang sind gut in das Buch integriert.

Dennoch ist das Material vielfältig; gibt es eine Gesamtaussage, einen verbindenden Schwerpunkt?

Drei Lieder

Die drei Lieder geben uns einen Hinweis. Sie sind am Anfang, in der Mitte und gegen Ende platziert: Hannas Lied (1. Sam. 2,1-10), Davids Klagelied über Saul und Jonatan (2. Sam. 1,19-27) und Davids Danklied für die Errettung zusammen mit seinen letzten Worten (2. Sam. 22,1-23,7).

Die drei Lieder haben mehrere Begriffe und Themen gemeinsam, insbesondere Hannas Lied und Davids Psalm. Beide beziehen sich auf den Gesalbten Gottes, seine Rettung und die Umkehrung der Verhältnisse, die Gott bewirkt.

Hannas überraschender Schluss, gesprochen, bevor es in Israel einen König gab, blickt in die Zukunft und definiert den Leitgedanken im Buch Samuel:

Er wird Macht geben seinem Könige

und erhöhen das Haupt seines Gesalbten. (1. Sam. 2,10)

Davids Aufstieg

Sein König, sein Gesalbter. Es ist JHWH, der ihn einsetzt und seinem Volk eine Führung gibt.

David wird König, aber er ist ein ungewöhnlicher König (bis er es nicht mehr ist, in 2 Samuel 11). Er greift nicht nach der Macht und – anders als Joab – versucht nicht sie um jeden Preis zu behalten.

David ist alles andere als perfekt. Als Reaktion auf Nabals Provokation ist er zum Beispiel bereit, dessen gesamtes Haus auszurotten (1. Sam. 25; Abigajil hält ihn davon ab).

Dennoch unterscheidet sich David positiv von den „normalen“ Königen jener Zeit. Sobald er an der Macht ist, tötet er nicht diejenigen, die später eine Bedrohung für ihn bedeuten könnten. Er ist wütend auf diejenigen, die Isch-Boschet, seinen Rivalen, umbringen, weil sie meinen, ihm einen Gefallen zu tun (2. Sam. 4). Dass Abner getötet wird, ist nicht sein Tun (2. Sam. 3,26-39). Er erweist Mefi-Boschet, einem weiteren potenziellen Rivalen um den Thron, seine Barmherzigkeit (2. Sam. 9).

Selbst in seiner Sünde – oder gerade dann? – ist er anders. Er nimmt die Zurechtweisung durch Nathan an (2. Sam. 12).

Rogeron 2017

Davids Scheitern

Dennoch ist Davids Affäre mit Bathseba ein entsetzliches Versagen. Man beachte, dass sich die Erzählung (2. Sam. 11-20) an diesem Punkt verlangsamt, da sie im Vergleich zu anderen Episoden im Buch sehr detailliert beschrieben wird.

Wenn David stolpert und sich wie ein „normaler“ König verhält – indem er sich die Frau nimmt, die er begehrt, und ihren Mann ermorden lässt –, öffnet er die Tür für diese Art von Führung in Israel, angefangen in seinem eigenen Haus. Amnon vergewaltigt seine Halbschwester Tamar. Ihr Bruder, Absalom, tötet Amnon. Nachdem Absalom begnadigt wird, beginnt er eine ehrgeizige Kampagne, um sich selbst zum König von Israel zu machen.

Seine Vorstellung vom Königsein: Er beschafft sich einen Wagen und Pferde und fünfzig Mann, die vor ihm herlaufen (2. Sam. 15,1).

Der Eindruck, den wir vom Leben am Königshof in Israel bekommen, verheißt nichts Gutes für sein Fortbestehen. Das Haus David kann nicht die Lösung sein, auch wenn David einen besseren Weg aufzeigt.

Der rücksichtslose Joab

Neben den drei Liedern ist Joab ein weiterer Schlüssel zum Buch. Er ist David gegenüber weitgehend loyal. Er verhält sich aber rücksichtslos. Seine Rücksichtslosigkeit zeigt sich unter anderem, wenn er sich an Abner rächt (2. Sam. 4). Abner hatte in der Schlacht Joabs Bruder Asaël getötet. Das war aber eine legitime Kriegshandlung, kein Mord. Aber wenn Joab Abner tötet, ist es Mord, weil jetzt Frieden herrscht. Ebenso rücksichtslos ist Joab, wenn seine Stellung als Oberbefehlshaber bedroht ist (2. Sam 19,13; 20,8-10).

Wie Absalom ist auch Joab ein Beispiel für die Art und Weise, wie Führungspersönlichkeiten in der Welt oft auftreten. Er bildet einen Gegensatz zu David.

Der Schwerpunkt

Indem das Buch Samuel die Geschichte der ersten Könige Israels erzählt, füllt es nicht nur die Lücke zwischen den Büchern Richter und Könige. Es zeigt einen Gegensatz auf zwischen der Führung nach den Maßstäben der Welt und der Führung nach Gottes Vorstellungen. Gottes Weg ist anders, wie das Buch Samuel zeigt.

David ist das Vorbild für eine Führung nach Gottes Vorstellung, wenn auch unvollkommen; Joab und Absalom sind das Gegenstück dazu.

Führung, die auf menschlichem Ehrgeiz beruht, kann in die Katastrophe führen. Nur eine von Gott gegebene Führung hat das Potenzial, Gutes zu tun.

Er wird Macht geben seinem Könige

und erhöhen das Haupt seines Gesalbten. (1. Sam. 2,10)

Der Herr, nicht menschliche Weisheit, Geschicklichkeit oder Ehrgeiz, wird die große und dringend notwendige Umkehrung der Verhältnisse herbeiführen.

David wusste das. Es ist das Thema seines Lebens, das sowohl in seinen ersten Worten in diesem Buch (1. Sam. 17,37), als auch in der Zusammenfassung seines Lebens gegen Ende (2. Sam. 22) zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus zeigt es sich in vielen der Geschichten dazwischen: Gott, der Fels, ist Davids Erretter.

Das ist der Schlüssel zu Davids Leben: Gott ist sein Erretter. Und das sollte auch für uns so sein.

Bildnachweis

Elsa Gonzalez. 2019 <https://unsplash.com/photos/uzNKrcsAAbA> CC0

Nicolas Rogeron. 2017. ‘David and Bathsheba’ <https://www.flickr.com/photos/127797449@N07/33209793260> CC BY-NC-ND 2.0

jeffjacobs1990. 2020 <https://pixabay.com/de/illustrations/jesus-christus-gott-heilig-geist-4779546/> CC0

Literaturangaben

Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

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