Ich muss zugeben, als ich zum ersten Mal auf diesen Begriff stieß, war ich mir nicht sicher, was er bedeutet. Wovon ist hier die Rede? Junge Erwachsene treten aus der Kirche aus, auch aus evangelikalen Gemeinden, und zwar in einem noch nie dagewesenen Ausmaß, zumindest in Nordamerika und Europa. Es ist nicht neu, dass Menschen aus der Kirche austreten oder eine Glaubenskrise erleben. Neu ist jedoch (1) das Tempo, in dem dies geschieht; (2) dass wir einen Ausdruck haben, der beschreibt, was sie tun: Dekonstruktion des Glaubens; (3) dass es sich dabei um eine erkennbare Bewegung handelt.
Ich werde nicht auf die Statistiken eingehen; wer harte Zahlen will, findet sie auf der Website der Barna Group, eines christlichen Forschungsunternehmens, das vor allem für seine Umfragen zum Glauben bekannt ist. Oder lies David Kinnamans Buch, You Lost Me, aus dem Jahr 2011; es ist immer noch aktuell. Es gibt übrigens auch eine gute Nachricht: Barna bezeichnet die Teenager und jungen Erwachsenen von heute als „The Open Generation“, die offene Generation. Sie sind sehr interessiert an Jesus und offen für die Bibel.
Aber an Kirche? Nicht so sehr.
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Off Topic?
Es mag den Anschein haben, dass dies alles ein wenig vom Thema abweicht. Geht es bei Create a Learning Site nicht vor allem um die Bibel? Nun, ja, aber dazu gehört auch das Lehren der Bibel. Um das gut zu machen, müssen wir unser Publikum berücksichtigen (ganz zu schweigen von den kulturellen Kräften, die uns und unsere Auslegung beeinflussen). Daher passt dieses Thema.
Und es gibt ein paar Dinge, die ich gerne dazu sagen möchte.
Dekonstruktion
Zunächst einmal gefällt mir das Wort nicht, vor allem aus zwei Gründen. Erstens ist es ein ausgesprochen negatives Wort. Es bedeutet, dass man etwas abbaut oder zerstört.
Ich bin mir bewusst, dass in diesem Zusammenhang Zerstörung meist nicht die beabsichtigte Bedeutung ist. Der Begriff wurde durch die Literaturphilosophie von Jacques Derrida inspiriert, einem französischen Philosophen, der den Begriff Dekonstruktion in einem besonderen Sinne verwendete. Aber wer versteht schon, was Derrida meinte? Und wer denkt an Derrida, wenn er hört, dass der Glaube dekonstruiert werden soll?
Worte haben ein Eigenleben; man kann nicht bestimmen, was die Leute hören oder verstehen, sobald man seine Aussage veröffentlicht hat. Die normale Bedeutung des Wortes und diejenige, die am ehesten gehört wird, ist Abbruch, nicht französische Philosophie.
Es gibt bessere Begriffe, die man verwenden könnte. Wie wäre es mit neu bewerten, neu beurteilen, überdenken, neu denken oder gar rekonstruieren?
Zweitens ist der Begriff zu weit gefasst und deckt ein breites Spektrum an unterschiedlichen Phänomenen ab. Manche brechen in der Tat ihren Glauben ab, ob mit Absicht oder nicht, und wenden sich ab. Viele erleben irgendwann eine Glaubenskrise oder kämpfen mit Zweifel. Wieder andere durchlaufen einfach einen Prozess des Infragestellens und überdenken ihre eigene christliche Tradition oder sogar nur ein bestimmtes Dogma oder eine einzelne Idee, wie z. B. das Alter der Erde, die Hölle oder die Prädestination.
Sollen wir all diese Phänomene in einer Box packen und sie unter demselben Etikett zusammenfassen: Dekonstruktion? Das scheint mir keine hilfreiche Kategorie zu sein. Wenn ein Prozess der Neubewertung dessen, was jemand glaubt, gemeint ist, ist Dekonstruktion eine schlechte Wortwahl.
Vielleicht ist es an der Zeit, die Dekonstruktion zu dekonstruieren. Oder wenn wir schon dekonstruieren, dann sollte es eher um Rassismus (in der Kirche!), Machtmissbrauch (in der Kirche!), sexuellen Missbrauch (in der Kirche!), männliche Dominanz und die Unterdrückung von Frauen (in der Kirche!) usw. gehen und nicht um den Glauben.
Dinge, die es wirklich verdienen, abgebrochen zu werden.
Martin Luther ein frühes Beispiel?
Manchmal wird Martin Luther, der große Reformator des 16. Jahrhunderts, als klassisches Beispiel für die Dekonstruktion in der Vergangenheit angeführt (z. B. Huckabee 2022). Damit wird Luther aber völlig falsch verstanden.
In Luthers existenzieller Krise zweifelte er nicht am Glauben. Er zweifelte an sich selbst.
Erst nachdem diese Krise überwunden war, machte er sich daran, zu dekonstruieren. Aber er dekonstruierte nicht den christlichen Glauben, er dekonstruierte die Irrtümer der mittelalterlichen Kirche. Und während er dies tat, brannte er vor Glauben; es war keine Zweifel mehr im Spiel. Das hat nichts mit den heutigen Vorstellungen von Dekonstruktion zu tun.
Aber seien wir ehrlich: Warum verlassen Menschen die Kirche?
Es gibt jedoch ein Problem, und dem sollten wir uns stellen. Ich habe mit der großen Zahl junger Erwachsener begonnen, die die Gemeinde verlassen. Das geschieht nicht, weil ein paar Einzelne zur Dekonstruktion des Glaubens aufrufen. Es geschieht, weil die Menschen auf die Kirche oder die Evangelikalen schauen und ihnen nicht gefällt, was sie sehen. Und damit haben sie, milde gesagt, nicht ganz Unrecht.
David Kinnaman hat untersucht, was Nichtchristen über das Christentum denken (Kinnaman & Lyons 2007) und warum junge Erwachsene die Gemeinde verlassen (Kinnaman & Hawkins 2011; siehe auch Nieuwhof 2022 für eine leichte, aber höchst informative Lektüre mit einer eigenen Sicht der Ursachen).
Es ist kein schönes Bild, aber wir sollten aufmerksam sein. Hier einige der Ergebnisse dieser Studien:
1. Dagegen. Als Evangelikale sind wir vor allem dafür bekannt, dass wir gegen etwas sind; ob zu Recht oder zu Unrecht, laut Außenstehenden sind wir gegen:
- Schwule und die Ehe für alle
- Wissenschaft und Evolution
- Frauen in Führungspositionen, zumindest in der Gemeinde (oder vielleicht gegen Frauen im Allgemeinen; und Feminismus!)
- Abtreibung
- Initiativen gegen den Klimawandel oder sogar die Behauptung des Klimawandels selbst
Mir ist klar, dass dies eine gewisse Karikatur ist. Längst nicht alle Evangelikalen leugnen den Klimawandel und noch weniger lehnen beispielsweise die Wissenschaft ab. Aber zu viele von uns tun es. Und was noch wichtiger ist: Es ist unklar, wofür wir sind.
2. Haltung. Unsere wahrgenommene Haltung macht den Glauben nicht gerade attraktiver. Außenstehende sehen uns zum Beispiel als:
- Heuchlerisch
- Übermäßig politisch (zumindest in den Vereinigten Staaten)
- Verurteilend
- Autoritär und überheblich (unserer Sache zu sicher)
- Oberflächlich und nicht bereit, sich auf schwierige Fragen einzulassen (stattdessen kontern wir mit vorgefertigten Antworten und „bestrafen“ diejenigen, die aus der Reihe tanzen)
Auch hier handelt es sich zum Teil um Karikaturen und Klischees – aber viel zu oft sind sie mehr als nur ein wenig wahr.
3. Mißbrauch. Ich bin mir nicht sicher, ob ein einzelner Faktor mehr Schaden anrichtet als sexueller Missbrauch und die Versuche, ihn zu vertuschen – und das ist nicht nur ein römisch-katholisches Problem (siehe Shellnutt 2019 und Du Mez 2021: 275-94).
Kein Wunder, dass wir als heuchlerisch angesehen werden.
4. Zorn. Falls jemand denkt, dass der evangelikale Glaube in der Öffentlichkeit durch Eigenschaften wie Freude, Frieden und Liebe gekennzeichnet ist, dann irrt er sich.
Vor kurzem haben meine Frau und ich gemeinsam eine Biografie gelesen. An einer Stelle sagte die betreffende Person etwas Falsches (nach konservativen evangelikalen Standards). Der Ausbruch von Wut, der folgte, war kaum zu glauben. Tausendfache Wut.
Als ich das Kapitel zu Ende gelesen hatte, sahen wir uns etwas fassungslos an. Dann sagte sie: „Ich schäme mich, Christ zu sein“. Das war wohl das Traurigste, was ich sie je sagen hörte.
Ja, Jesus war manchmal zornig. Aber wie oft? Und mit wem? (Tipp: nicht mit den Außenstehenden.)
Kein Wunder, dass wir als verurteilend angesehen werden.
5. Keine Verbindung zwischen Glauben und Arbeit. Junge Erwachsene, die in das Berufsleben eintreten, finden in der Kirche keine Hilfe für die Arbeitswelt; der Glaube ist für ihren Alltag nicht relevant. Ihnen wurde kein Konzept von Berufung, von „normaler“ Arbeit als geistlicher Dienst und Weg vermittelt. Unabhängig davon, welche Art von Schulung in Jüngerschaft es gibt, wird dieser Aspekt oft nicht berücksichtigt – ein schwerwiegendes Versäumnis. Darüber hinaus wird den Jugendlichen nur wenig Hilfe bei der Entdeckung der eigenen Begabung und des eigenen Lebenszwecks gegeben – ein weiteres Versäumnis.
6. Aggressive Männlichkeit. Eine weitere ernüchternde Lektüre, nebst Kinnaman, ist Jesus and John Wayne (Du Mez 2021). Nun ist dieses Buch etwas einseitig. Auf dem Umschlag findet sich die Behauptung, dass weiße Evangelikale „eine Nation gespalten haben“. Aber normalerweise braucht es zwei Parteien, damit es zu einer Spaltung kommt. Diese weißen Evangelikalen reagieren auf etwas. Du Mez unterlässt es, nachzufragen, was dieses „Etwas“, die andere Seite des Problems, sein könnte.
Dennoch dokumentiert Du Mez ausführlich, wie große Teile des amerikanischen Evangelikalismus in die Irre gegangen sind. Die Bewegung hat sich ein im Wesentlichen machohaftes Männlichkeitsideal (John Wayne!), eine starke autoritäre Führung und die Ansicht, dass der Mann das Haupt sein soll, zu eigen gemacht.
Frieden und Freude im Heiligen Geist? Nein, zu zahm…
Hey! Die „offene Generation“ ist sehr an Jesus interessiert. Lasst uns ihnen nicht statt Jesus John Wayne geben!
Warum ich trotzdem evangelikal bleibe
Trotz alledem werde ich mich weiterhin als Evangelikaler bezeichnen. Ich werde dieses Wort auf keinen Fall aufgeben; es ist viel zu schön.
Denn was steht im Mittelpunkt von evangelikal? Es ist evangel, das Evangelium. Können wir etwas Besseres tun, als das Evangelium in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen? Gibt es eine bessere Art zu leben oder ein besseres Wort, um uns zu beschreiben?
Ja, das gibt es. Mir fällt eines ein: Christ. Denn woher stammt dieses Wort? Von Christus. Das kann man nicht mehr übertreffen. Aber evangelikal ist nicht weit davon entfernt. Ich halte an diesem Wort fest: Ich bin ein evangelikaler Christ.
Umgang mit Zweifel
Aber wie können wir auf diejenigen reagieren, die Zweifel haben? Zum Schluss noch ein paar Vorschläge (wer mehr will: Lies David Kinnaman!).
1. Hören wir zu. Es wird nicht von uns erwartet, dass wir das Problem „beheben“ oder eine Lösung anbieten. Ein offenes Ohr ist viel hilfreicher.
2. Seien wir bereit zu sagen: Ich weiß es nicht, oder ich bin mir nicht sicher. Glaube ist nicht die Abwesenheit von Zweifel, geschweige denn Gewissheit in jedem Punkt der Lehre. Vor allem sollten wir keine platten oder oberflächlichen Antworten geben.
3. Ermutige sie dazu, Julian von Norwich zu lesen. Und warum? Weil sie eine Frau war, die erste Frau, die ein Buch in englischer Sprache schrieb, und weil sie vor langer Zeit schrieb, in einer anderen Welt, aber mit eindeutig christlicher Stimme. Okay, es muss nicht unbedingt Julian von Norwich sein. Der Punkt ist, dass wir christliche Stimmen von außerhalb unseres eigenen kleinen Kreises brauchen. Die christliche Tradition ist reich und tief in der Geschichte verwurzelt. Niemand sollte sie aufgrund einer engen Version ablehnen. Schauen wir mindestens einmal über den eigenen Tellerrand hinaus.
4. Vor allem: Lebe ein kongruentes Leben. Ich habe dieses Wort kongruent von Eugene Peterson übernommen, bekannt für seine Bibelübersetzung, The Message. Für ihn war Kongruenz ein lebenslanges Streben. Kongruenz bedeutet, dass das, was wir nach außen hin sind, mit dem übereinstimmt, was wir im Inneren sind. Es bedeutet, dass das, was wir sagen und was wir tun, mit dem übereinstimmt, was wir sind.
Würde heißen: Wir sind evangelikale Christen und leben das Evangelium und folgen Christus nach.
Das klingt nach einer radikalen Idee. Und wer weiß, vielleicht attraktiver als Wut.
Nachtrag
Die Formulierung “deconstructing faith” wirkt ein wenig wie ein Marketing-Konzept. Es ist vage, weit gefasst, und klingt hip: Es macht dich zu einer interessanten Person. Aber die Formel ist unscharf und ungenau. Plus: Wir sollen nicht etwa sexuellen oder geistlichen Missbrauch oder die evangelikale Tradition dekonstruieren, sondern den Glauben. Glaube ist zumindest ein neutrales, wenn nicht sogar ein positives Wort. Wer will denn eigentlich den Glauben dekonstruieren?
Bildnachweis
Khadyev, Ruslan. 2019 <https://unsplash.com/photos/12Aqz3b3fxE> CC0
Maiconfz. 2015 <https://pixabay.com/de/photos/bibel-buchen-christian-heilig-1108074/>
Rawlinson, Kerry. 2020 <https://unsplash.com/photos/k8uW_jDFFKw> CC0
Literaturangaben
Du Mez, Kristin Kobes. 2021. Jesus and John Wayne: How White Evangelicals Corrupted a Faith and Fractured a Nation (New York, NY: Liveright Publishing Corporation)
Huckabee, Tyler. 2022. ‘Skillet’s John Cooper: It’s Time to „Declare War Against This Deconstruction Christian Movement”‘, RELEVANT <https://relevantmagazine.com/current/skillets-john-cooper-its-time-to-declare-war-against-this-deconstruction-christian-movement/> [accessed 1 March 2023]
Kinnaman, David, and Aly Hawkins. 2011. You Lost Me: Why Young Christians Are Leaving Church– and Rethinking Faith (Grand Rapids, MI: Baker Books)
Kinnaman, David, and Gabe Lyons. 2007. Unchristian: What a New Generation Really Thinks about Christianity – and Why It Matters (Grand Rapids, MI: Baker Books)
Nieuwhof, Carey. 2022. ‘Five Real Reasons Young People Are Deconstructing Their Faith’, CareyNieuwhof.Com <https://careynieuwhof.com/five-real-reasons-young-people-are-deconstructing-their-faith/> [accessed 1 March 2023]
‘The Open Generation’. [n.d.]. Barna Group <https://www.barna.com/the-open-generation/> [accessed 1 March 2023]
Shellnutt, Kate. 2019. ‘1 in 10 Young Protestants Have Left a Church Over Abuse’, News & Reporting <https://www.christianitytoday.com/news/2019/may/lifeway-protestant-abuse-survey-young-christians-leave-chur.html> [accessed 1 March 2023]
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