Am 21. Juli dieses Jahres ist meine Mutter verstorben. Sie war 85 Jahre alt. Die Beerdigung fand eine Woche später statt. Ich möchte mit euch teilen, was ich bei dieser Gelegenheit gesagt habe. Und zwar aus diesem Grund.
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST
In einem Brief, den sie uns mit einigen Details zu ihrer Beerdigung hinterließ, machte sie diese Aussage: „Ich möchte mein kleines Lichtlein [sie benutzte eine doppelte Verkleinerungsform] noch ein letztes Mal leuchten lassen“. Nur wenige Tage vor ihrem Tod wollte sie, dass alle ihre Brüder und Schwestern zusammenkommen, denn „ich will noch etwas sagen“. Ich vermute, dass ihr in diesem Moment dieses Etwas klar war. Aber am nächsten Tag, als alle da waren, war ihre Kommunikation unscharf. Ich habe eine Ahnung, was ihr auf dem Herzen lag, aber sie konnte es nicht in Worte fassen. Hinterher bedauerte sie, dass sie nicht in der Lage gewesen war, „ihr kleines Zeugnis“ abzulegen. (Man beachte die Wiederholung; es gab nichts Großes oder Spektakuläres in ihrem Leben, abgesehen von der herausragenden Qualität des Gewöhnlichen in ihr).
Sie konnte es nicht sagen. Ich werde für sie sprechen. Ich möchte ihr kleines Licht ein wenig weiter leuchten lassen, als es ihr gelungen ist. Deshalb habe ich bei der Beerdigung Folgendes gesagt.
Jemand, ich weiß nicht mehr wer, hat einmal gefragt: Welche Sprache spricht Gott? Und beantwortete diese Frage wie folgt: Die Menschen sind die Sprache Gottes.
Man kann sich jeden Menschen als ein Wort vorstellen. Oder als einen Satz, oder als eine Geschichte. Denn letztlich ist jedes Leben eine Geschichte. Und all diese Leben zusammen erzählen die große Geschichte, die Gott erzählen will.
Wir können also fragen: Was ist die Geschichte eines Menschen? Welcher Satz ist oder war diese Person? Welches Wort?
Als ich so darüber nachdachte, wusste ich sehr schnell, welches Wort ich mit meiner Mutter verbinde.
Ich werde nicht versuchen, ihre Geschichte zu erzählen. Vieles davon weiß ich gar nicht. Ich war in den ersten 24 Jahren ihres Lebens nicht dabei (die kenne ich nur aus zweiter und dritter Hand). Ich werde ihre Lebensgeschichte nicht zusammenfassen. Aber dieses Wort, davon will ich reden.
Es ist ein hebräisches Wort: chesed. Ich verwende ein hebräisches Wort, weil es so reichhaltig ist, weil es zwei Ideen miteinander verbindet.
Es ist schwer zu übersetzen. Es passt nicht in ein einziges deutsches Wort. Man braucht zwei Worte dafür. Die Lutherbibel verwendet das Wort Güte. Aber das ist unvollständig.
Chesed ist eine Kombination – eine Kombination aus Liebe und Treue. Und wenn ich das sage, verstehen diejenigen, die meine Mutter gekannt haben, warum ich dieses Wort so passend finde. Treue Liebe, so sehe ich meine Mutter. Das hat sie gelebt. Bis zum Schluss. Als sie eigentlich nicht mehr konnte.
Ein Indiz dafür ist, wie alt manche Beziehungen sind, wie lange Beziehungen meiner Eltern schon bestehen. Die ersten Nachbarn aus der Wohnung in Hoogvliet, zum Beispiel, und Nachbarn und Bekannte aus Vierpolders. Natürlich sind einige dieser Freunde und Bekannten inzwischen nicht mehr am Leben. Andere sind so alt, dass sie bei der Beerdigung nicht mehr dabei sein konnten. Aber die Beziehung blieb bis zum Schluss bestehen. Sie hat sich manchmal auf die Kinder übertragen, die uns jetzt schreiben, dass sie sich noch daran erinnern, wie es war, meine Mutter zu besuchen, manchmal vor Jahrzehnten.
Ich denke auch an die Zeit vor vielen Jahren, als meine Mutter für die Kirche Seniorenbesuche machte. Einige ältere Menschen hat sie über viele Jahre begleitet. Und es waren nicht immer einfache Menschen.
Vor einigen Jahren waren wir zusammen in Brielle und sie bestand darauf, zum dortigen Friedhof zu gehen, um die Gräber von zwei dieser älteren Menschen von früher zu besuchen und zu pflegen. Weil sich niemand sonst darum kümmerte, sagte sie. Das ist treue Liebe.
Nun könnte man fragen: Und was hat sie davon gehabt? Wo war die Antwort, die Belohnung? Wo war die treue Liebe Gottes in den letzten acht oder neun Jahren – ein Zehntel ihres Lebens?
Denn die Gesundheit meiner Mutter begann sich schon zu verschlechtern, bevor mein Vater krank wurde, und das ist mehr als acht Jahre her. Und dann war da noch die Krankheit in ihrer Kindheit, die sie mit undichten Herzklappen zurückließ, eine lebenslange Behinderung. Es gab keinen „Glaubensbonus“ für sie. Gott hat es ihr nicht leichter gemacht.
Ich weiß nicht, ob meine Mutter sich solche Fragen bewusst oder kritisch gestellt hat. Aber ich würde es verstehen.
Das letzte Geschenk, das Franziska und ich meiner Mutter machten, war ein Buch. In dem Buch von Henry Nouwen geht es um das Gleichnis vom verlorenen Sohn, eine bekannte Geschichte aus der Bibel. Der jüngste von zwei Söhnen beansprucht sein Erbe, während sein Vater noch lebt. Er verkauft alles und geht in ein fernes Land, wo er alles verprasst (Lukas 15,13).
Im Buch geht es auch um das Gemälde, das Rembrandt am Ende seines Lebens von diesem Gleichnis gemalt hat. Diejenigen, die Rembrandts Leben kennen, wissen, dass er ein wenig wie der verlorene Sohn war: ein wildes Leben, das in Armut endete.
In Wirklichkeit geht es sowohl im Gleichnis als auch im Gemälde nicht nur um den jüngsten, den verlorenen Sohn, sondern auch um den Vater und den älteren Sohn, der nicht weniger verloren ist. Da steht er nun, am Rande des Bildes. Seine Haltung sagt: Mein ganzes Leben lang habe ich hart gearbeitet, war treu, habe alles getan, was du wolltest. Aber für diesen deinen Sohn hast du das gemästete Kalb schlachten lassen. Verständlich, diese Wut.
Der Vater aber sprach zu ihm: Mein Kind, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.
Ich weiß nicht, wie gut meine Mutter das verstanden hat. Ob sie sich als die geliebte Tochter sehen konnte. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das verstehe. Ob ich das wirklich glaube. Wer von uns hat das wirklich verstanden, dass Gott wie der Vater in diesem Gleichnis ist: Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein?
Ein bemerkenswerter Aspekt von Rembrandts Gemälde: wie er den Vater gemalt hat. Ich weiß nicht, wie du dir diesen Vater vorgestellt hast. Vielleicht als pater familias, als starken Mann, zumindest als Oberhaupt der Familie, als Autorität.
Nicht so bei Rembrandt. Der Vater ist alt, zerbrechlich und fast blind. Zerbrechlich, fragil, das war meine Mutter auch. Sie sah nie schöner aus, glaube ich, als in diesen letzten Monaten. Als sie nicht mehr viel tun konnte. Immer weniger. Ein ausgemergelter Körper. Mit einem Geist, der noch immer wieder aufflammte, vor allem, wenn Besuch da war. Aber mit Fragen. Warum dauert es so lange? Wer wird mir in den Himmel helfen? Warum bleibt die Tür geschlossen? Ich kann nicht mehr.
Ja, wo war die Antwort auf ihre treue Liebe? Wo war Gottes chesed?
Ich denke, sie kam durch uns, die ihr nahestanden. Als sie nicht mehr konnte, treu lieben, dann durften wir. Es begann mit Geduld. Geduldig darauf zu warten, bis sie sagt, was sie will. Oder bis sie tat, was sie sagte, was sie tun wollte. Alles ganz langsam und immer langsamer. Und vieles mehr. Durch die Ärzte, die am Ende jeden Tag vorbeikamen. Die häusliche Pflege, die ihr so geduldig und liebevoll half.
Und so ist auch dies ein Teil der Botschaft meiner Mutter. Eine Einladung: treue Liebe, tu es einfach. Es geht nicht darum, was wir als Gegenleistung bekommen. Es geht darum, so zu werden wie der Vater. Der Vater des verlorenen Sohnes. Von den verlorenen Söhnen. Beide sind geliebte Söhne.
Und der Vater der geliebten Tochter.
Auch hier weiß ich nicht, ob meine Mutter sich wirklich so sehen konnte: als die geliebte Tochter. Vielleicht war Gott für sie noch zu sehr der strenge Vater, vor dem man eher Angst hat.
Aber in Wirklichkeit war sie die geliebte Tochter. In einer der letzten Nächte saßen meine Schwester und ich bei ihr auf dem Bett. Sie wollte uns ihren Schmuck zeigen und erklären. Alles Erinnerungstücke mit einer Geschichte. Da war ein einfaches Armband mit einem kleinen Porzellanmotiv aus Delfter Keramik. „Das haben mir meine Eltern geschenkt, als ich 15 wurde. Und sie konnten es sich nicht leisten.“ Ich rechnete schnell: 1952. Kurz nach dem Krieg; eine große Familie – nein, das konnten sich meine Großeltern wirklich nicht leisten. Und ich denke: Mama, hörst du das? Das ist Gottes Sprache, Gott spricht durch Menschen. Er ließ dich wissen, damals schon: Du bist meine geliebte Tochter.
Die letzten Jahre waren nicht leicht. Und deshalb denke ich, dass es am Ende ihres Lebens noch eine Botschaft gab. Ein Wort: Dennoch.
Dies war kein einfaches Ende. Trotz der Fragen und Zweifel, die am Ende auch da waren. Dennoch. Es war kein starkes, kein triumphierendes dennoch. Dennoch. Am Ende ihres Lebens stand:
Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. In diesem Glauben ist meine Mutter gestorben.
Der Apostel Paulus konnte am Ende seines Lebens sagen: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort liegt für mich bereit die Krone der Gerechtigkeit“ (2. Tim. 4,7f), die Krone der Herrlichkeit. Meine Mutter konnte das so nicht sagen. Das sagt man nicht über sich selbst. Deshalb sage ich es. Sie hat ihren Lauf vollendet; jetzt ist es die Zeit für die Krone der Herrlichkeit.
Gut gemacht, Mama. Danke, adieu und auf Wiedersehen.
Bildnachweis
Van Rijn, Rembrandt Harmensz. Ca. 1669. “The Return of the Prodigal Son” <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rembrandt_Harmensz_van_Rijn_-_Return_of_the_Prodigal_Son_-_Google_Art_Project.jpg> [Accessed 8 August 2023] Public Domain
Literaturangaben
Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
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