Wofür steht LXX?

Falls du irgendwann Nachschlagewerke wie zum Beispiel Bibelkommentare für dein Bibelstudium verwendet hast, sind dir vielleicht die etwas geheimnisvollen Buchstaben LXX (nicht zu verwechseln mit XXL!) begegnet. Falls du gelegentlich über die Bibel unterrichtest, hast du möglicherweise selber irgendwann über die Septuaginta, den Namen, wofür die Buchstaben stehen, gesprochen. Ich habe das schon öfter gemacht.

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Wenn man zum Beispiel über das Matthäusevangelium oder über die Jungfrauengeburt Jesu lehrt, kommt man kaum ohne die Septuaginta aus. Zu diesem Thema zitiert Matthäus das Buch Jesaja. Je nach Übersetzung gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Zitat und Original:

Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben. Das heisst: „Gott mit uns“.  (Mt. 1,23 Zürcher Bibel)

Deshalb wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Seht, die junge Frau ist schwanger, und sie gebiert einen Sohn. Und sie wird ihm den Namen Immanu-El geben. (Jes. 7,14 Zürcher Bibel)

Matthäus verwendet ein griechisches Wort, das eindeutig Jungfrau bedeutet. Das macht diese Geburt zu einem Wunder. Das hebräische Wort (almah) in Jesaja ist nicht eindeutig. Es bezeichnet eine junge und wahrscheinlich nicht verheiratete Frau. Aber ist sie Jungfrau? Es lässt sich argumentieren, dass diese Geburt ein positives, moralisch nicht zweifelhaftes Ereignis darstellt. Außerdem handelt es sich um ein Zeichen; deswegen sollte es sich um etwas Außergewöhnliches handeln. Das nimmt aber nicht weg, dass das hebräische Wort nicht so eindeutig ist wie das griechische. Woher kommt dieser Unterschied?

LXX = 70 = Septuaginta

Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir die Septuaginta. Die Septuaginta ist eine griechische Übersetzung des Alten Testamentes und verschiedener weiterer jüdischer Schriften aus dem 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. Die zusätzlichen Schriften, die sich nicht in der hebräischen Bibel finden, bezeichnet man als die Apokryphen oder die deuterokanonischen Werke. Dazu gehören Bücher wie Makkabäer, die Weisheit Salomos und Ergänzungen zu Daniel und Ester. Es ist umstritten, welche Apokryphen in der Tat Übersetzungen sind, und welche von Anfang an nur in griechischer Sprache existierten. Tatsache ist, es sind nur Manuskripte in griechischer Sprache bekannt und erhalten.

Der Name Septuaginta kommt vom lateinischen Wort für 70, daher die Formel LXX, die Zahl 70 in römischen Ziffern. Warum 70? Mehrere jüdische Quellen berichten, dass der König von Ägypten, Ptolamaios II Philadelphos (308-246 v. Chr.) im 3. Jahrhundert v. Chr. 70 oder 72 Schriftgelehrte anfragte, die Thora, die ersten fünf Bücher des Alten Testamentes, vom Hebräischen ins Griechische zu übersetzen. Sie sollen diese Übersetzung in 72 Tagen fertig gestellt haben. In späteren Versionen dieser Geschichte wird das übernatürliche Element immer größer. So sollen alle 72 Schriftgelehrten unabhängig voneinander die Thora genau gleich übersetzt haben. Ein weiterer Grund, der zur Übersetzung der hebräischen Bibel geführt haben kann, ist die Tatsache, dass viele Juden zu jener Zeit die hebräische Sprache nicht mehr verstanden und deswegen eine Übersetzung notwendig wurde.

Wie dem auch sei, im 1. Jahrhundert n. Chr. ist eine vollständige griechische Übersetzung des Alten Testamentes ergänzt mit weiteren jüdischen Schriften im Umlauf. Sie wurde zur Bibel der Urkirche, da die große Mehrheit der Gläubigen Griechisch, aber nicht Hebräisch verstand.

Mithilfe der Septuaginta lässt sich das Zitat in Matthäus verstehen. Gut 200 Jahre vor der Geburt Jesu hatten jüdische Übersetzer das mehrdeutige hebräische Wort almah mit dem eindeutigen griechischen Wort für Jungfrau übersetzt. Sie müssen Jesaja so verstanden haben, dass es sich bei dieser Geburt um ein übernatürliches Ereignis handelt. Matthäus zitiert nicht die hebräische Bibel, sondern deren griechischen Übersetzung, mit der seine Gemeinden weitaus besser vertraut waren.

Die Bedeutung der Septuaginta für die Bibelauslegung

Die Septuaginta hilft uns also, manche Zitate im Neuen Testament besser zu verstehen. (Es gibt allerdings auch Fälle, wo der Verfasser freizügig zitiert oder wo es andere Gründe gibt für die Unterschiede zwischen Zitat und hebräischem Original.)

Damit ist die Bedeutung der Septuaginta für die Bibelauslegung nicht erschöpft. Besonders wichtig ist ihre Rolle bei der Rekonstruktion des Urtextes und in der Bibelübersetzung. Moderne Übersetzungen beziehen sich hauptsächlich auf den so genannten masoretischen Text. Sie basieren auf Manuskripten, die vom 6. bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. von den Masoreten, einer Gruppe von jüdischen Schriftgelehrten, kopiert und weitergegeben wurden. Dieser Text wird allgemein als besonders vertrauenswürdig betrachtet.

Es gibt allerdings Bibelstellen, wo der masoretische Text keinen Sinn ergibt, unverständlich ist oder abweicht von anderen alten Manuskripten. In solchen Fällen ist der masoretische Text möglicherweise beschädigt und inkorrekt. Eine solche Entscheidung ist nicht leicht, es gibt aber Fälle, wo die Septuaginta dem Originaltext näher zu kommen scheint. Das kann besonders dann der Fall sein, wenn zum Beispiel sowohl die Septuaginta und die Buchrollen vom Toten Meer übereinstimmen und abweichen vom masoretischen Text. Das ist zwar immer noch kein harter Beweis, es deutet aber auf eine reale Möglichkeit hin, mit der die Übersetzer sich auseinandersetzen müssen. Gelegentlich wird in unseren Bibeln auf solche „abweichende Lesarten“ in Fußnoten hingewiesen.

Die Septuaginta ist auch wichtig für Wortstudien. Für viele Begriffe, die im Neuen Testament verwendet werden, finden wir den Hintergrund ihrer Verwendung im Alten Testament. Vor allem Begriffe, die theologisch wichtig sind, gehen oft auf hebräische Wörter und ihre Übersetzung in der Septuaginta zurück. Ein gutes Beispiel ist das griechische Wort ecclesia, meist mit Gemeinde übersetzt. Es wird in der Septuaginta verwendet, um das hebräische Wort qahal zu übersetzen. Qahal bezeichnet im Alten Testament die Versammlung Israels, sowohl in der Wüste wie auch später. Dieser Hintergrund macht klar, dass es im Neuen Testament bei dem Begriff ecclesia um wesentlich mehr geht als um ein Beisammensein Gleichgesinnter.

Für die Wissenschaft gibt es noch weitere Gründe, die Septuaginta zu studieren:

  • Sie gibt uns einen Einblick, wie in der alten Welt übersetzt wurde und über Übersetzung gedacht wurde.
  • Manchmal zeigt sie die Voreingenommenheit oder die theologischen Überzeugungen der Übersetzer und gibt so einen Einblick in die jüdische Gedankenwelt jener Zeit. Es ist aber nicht einfach, dazu verlässliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Unterschiede können ja auch daher rühren, dass die Übersetzer schlichtweg mit einem abweichenden hebräischen Text arbeiten mussten.
  • Sie gibt uns Informationen über Texte, die in den Jahrhunderten v. Chr. vorhanden waren, wie auch die Buchrollen vom Toten Meer. Offensichtlich waren unterschiedliche Versionen der gleichen Bücher im Umlauf. Es gab noch nicht einen einzigen, kanonischen Text, auf den man sich erst später auf Grund der Arbeit der Masoreten und anderer Gelehrter einigte. Für die meisten Bücher sind die Unterschiede minimal. Für manche Bücher sind sie allerdings erheblich. Die griechische Version von Jeremia ist etwa 12 % kürzer als der masoretische Text und ein Teil des Materials ist anders angeordnet.

Die Septuaginta auskundschaften

Obwohl ich die Septuaginta über die Jahre öfter erwähnt habe, muss ich bekennen, dass ich sie bis heute überhaupt nicht gelesen habe, mit Ausnahme von Zitaten, die manchmal in Bibelkommentaren vorkommen.

Im letzten Monat (März) berichtete ich von meinem Projekt, das Neue Testament in Griechisch zu lesen. Inzwischen habe ich dieses Ziel erreicht. Ich spiele jetzt mit dem Gedanken, die Septuaginta ganz oder mindestens zum Teil auf Griechisch zu lesen. Vielleicht später dieses Jahr, denn im Frühling habe ich zu viel Unterricht vorzubereiten. Aus diesem Grund wollte ich etwas mehr über sie wissen. Nächstes Mal, wenn ich die Septuaginta im Unterricht erwähne, weiß ich etwas besser, wovon ich spreche!

Nächste Ausgabe (Mai): Luther und die Bußpsalmen

Literaturangaben

Theologischer Verlag Zürich (2007), Zürcher Bibel (Zürich: Theologischer Verlag Zürich)

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