Weit verbreitet ist eine Theologie, die sagt, Krankheit und andere Formen von Leid hätten in Christus kein Existenzrecht. Stärker noch: Für diejenigen, die „im Glauben“ die Existenz von Leiden verneinen, hört Leiden auf zu existieren.
Bild: Eole Wind (2006), Ange de Martyrs, https://www.flickr.com/photos/eole/295823987/, CC BY-NC-SA 2.0
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Wer die Wirklichkeit nicht auf diese Weise leugnet, sieht sich trotzdem mit der Frage nach dem Leiden in der Welt – und im eigenen Leben – konfrontiert. Was können wir auf diese Frage antworten? Im Kontext einer philosophischen oder theologischen Auseinandersetzung, zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ob Gott angesichts von so viel Leiden in der Welt überhaupt existiert, gibt es immerhin Teilantworten auf die Frage nach dem Sinn von Leid und Ungerechtigkeit in dieser Welt. Das nennt man Theodizee. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und heißt wörtlich übersetzt Gottes Gerechtigkeit. Aber was, wenn die Frage gestellt wird von jemandem, der selber leidet?
Eine philosophische Antwort bringt in diesem Fall wahrscheinlich nichts. Hiob wurde von den theologischen Antworten seiner Freunde weder getröstet noch wurde ihm geholfen. Ich weiß, dass ihre Antworten schlecht waren. Aber was, wenn sie wesentlich besser gewesen wären? Hätte das Hiob weitergebracht? Was ihm schließlich half, ist nicht eine Theologie des Leidens sondern eine Begegnung mit Gott.
Eine bessere Antwort als die philosophische findet sich vielleicht im Buch Psalter, genauer gesagt in den Buß- und Klagepsalmen. Diese Antwort besteht nicht aus Worten, die dem Leidenden sein Leid erklären sollen. Die Antwort besteht aus Worten, die der Leidende an Gott richten kann, um so sein Herz vor ihm auszuschütten. Diese Worte aus der Bibel sind nicht zimperlich; (fast) alles ist erlaubt. Menschen, die sich in der Bibel auf diese Weise bei Gott beklagen, werden manchmal korrigiert, wie zum Beispiel bei Jeremia, aber nie bestraft. Es stellt sich heraus, dass man Gott alles sagen darf, ausgenommen „Nein!“, wie zum Beispiel Mose in 4. Mose 4 feststellt. Gott nimmt es nicht übel, wenn man ihm sagt, wie man empfindet.
Luther und die Psalmen
2017 ist Lutherjahr: 500 Jahre Reformation
Und schon sind wir bei Luther. Es wird niemanden überraschen, dass Luther ausführlich über den Römerbrief und über die Rechtfertigung durch den Glauben geschrieben hat. Das ist ja das Herzstück der Reformation. Weniger bekannt ist: Was Luther zu den Psalmen schrieb, ist noch umfangreicher. Zu keinem Bibelbuch hat der Reformator so viel geschrieben wie zum Buch Psalter (Ngien 2015: xvii).
Wieso das? Weil Luther zutiefst Pastor oder Hirte war, mehr noch als Theologe. Es ging ihm nicht nur um die richtige Theologie, sondern vor allem auch um Wohl und Heil der Menschen. Er entdeckte in den Psalmen eine richtige Schatzkammer für die Kirche. Hier fand Luther die Gebete der Heiligen aus der Vergangenheit. Hier werden ihre Gedanken und ihre Beziehung zu Gott sichtbar. Und das Allerwichtigste: Hier finden wir Worte, die wir verwenden können, um so mit Gott zu reden.
Der Psalter hat Gläubige jeder Generation mit einer unschätzbaren Quelle von Gebeten und Lob und mit Beispielen für ihren Umgang mit Gott versehen. Luther betonte:
„Daher ist Psalter das Buch aller Heiligen; und jeder, in welcher Situation er sich auch befinden mag, findet in dieser Situation Psalmen und Worte, die in seinem Fall zutreffen, die zu ihm passen, als wären sie nur seinetwegen dort aufgeführt, so dass er es selber nicht besser hätte sagen oder sich besseres hätte wünschen können.“ (Ngien 2015: xix)
Dieses Zitat stammt aus einem Buch von Dennis Ngien über Luther und die Bußpsalmen, das ich anlässlich des 500. Jahrestags der Reformation lesen wollte. Das Buch war nicht, was ich erwartete:
1. Buße, Klage, Bekenntnis? Das Buch hat als Untertitel Luther and the Psalms of Lament. Da gibt es ein Übersetzungsproblem. Lament bedeutet Klage, und Klagen gibt es viele in den Psalmen. Ngien verwendet das Wort aber oft in einem engeren Sinn als Übersetzung für den deutschen Begriff Bußpsalm. Buße übersetzt sich aber als penance, nicht lament. Traditionell heißen diese Psalmen in Englisch dann auch penitential psalms.
Allerdings hat man bei diesem Begriff, penance, leicht den Eindruck, dass es sich um eine freiwillige Strafe handelt, die man seiner Sünden willen auf sich nimmt, um seine Sünden so zu büßen. Die Idee, dass wir Gott angesichts unserer Schuld irgendetwas geben könnten, dass wir irgendetwas zu unserer Erlösung beitragen könnten, widerspricht natürlich zutiefst, wofür Luther stand: Als Sünder kann ich mich nur vollständig auf Gottes Gnade verlassen. Es ist deswegen nachvollziehbar, dass Ngien das Wort penance vermeiden will; repentance (Umkehr) oder confession (Bekenntnis) wäre aber zutreffender gewesen.
2. Welche Psalmen? Schon im 6. Jahrhundert wurden besonders sieben Psalmen als Bußpsalmen aufgelistet: Psalm 6, 32, 38, 51, 102, 130 und 143. Seltsamerweise behandelt Ngien nur zwei dieser Psalmen, Psalm 6 und Psalm 51. Darüber hinaus werden Psalm 77, 90, 94 und 118 besprochen. Diese vier werden normalerweise nicht als Bußpsalmen oder Klagepsalmen betrachtet. In seinem Buch erklärt Ngien zu keinem Zeitpunkt seine merkwürdige Auswahl: Wieso diese Psalmen?
Ich weiß, dass es nicht einfach ist, Psalmen zu kategorisieren. Das hat unter anderem damit zu tun, dass offensichtliche Kategorien wie Klage, Schuldbekenntnis, Lob und Ausdrücke des Vertrauens in vielen Psalmen kombiniert werden. Ngiens Auswahl bleibt aber unverständlich.
3. Luthers Theologie. Der dritte Grund, weshalb dieses Buch meine Erwartungen nicht erfüllte, hat mit Luther zu tun. Ich war überrascht, wie stark Luther seine Texterklärung von seiner Theologie bestimmen lässt. Ich gehe davon aus, dass die Eckpunkte dieser Theologie bekannt sind: Der Sünder wird gerechtfertigt, nicht durch Werke, sondern durch Glauben allein. Zweck des Gesetzes ist es, den sündigen Menschen zur Verzweiflung zu bringen, damit er seine absolute Hilflosigkeit erkennt.
Das rechte Thema der Theologie ist der Mensch, durch die Sünde schuldig und verurteilt, und Gott, der Rechtfertiger und Retter des sündigen Menschen … Die ganze Schrift deutet auf dieses hin, dass Gott uns seine Güte empfiehlt und in seinem Sohn die Natur, die in Sünde und Verurteilung gefallen ist, wiederherstellt zur Gerechtigkeit und zum Leben. (Ngien 2015: 28)
Für Luther haben Krankheiten, Anfechtungen und Anfeindungen als Ausdruck des Zornes Gottes ebenfalls den Zweck, dass der Mensch seine absolute Hilflosigkeit erkennt. Es handelt sich um „Gottes fremdes Werk“, das uns zur Umkehr und Erlösung führen soll, die „Gottes eigentliches Werk“ sind. Auch im Leben derer, die glauben, setzt sich „Gottes fremdes Werk“ fort; es dient ihnen dazu zu erkennen, dass sie sich nur auf Christus und auf sonst nichts und niemanden verlassen können.
Kritik an Luther
Der Psalmist bezieht sich oft auf seine Ungerechtigkeit und Schuld, auf den Zorn Gottes und auf Leiden durch Krankheit oder Leiden durch Feinde. Häufig erscheinen in einem Psalm zwei oder mehr dieser Elemente zusammen. Der klassische Bußpsalm 38 enthält sogar alle vier. Leiden kann eine Folge der Sünde sein und sie kann von Gott dazu verwendet werden, dass wir unsere wahre Verfassung erkennen, um so zum Glauben geführt zu werden.
Luther übertreibt es aber (vorausgesetzt, Ngien stellt seine Position korrekt dar). Es kommt mir vor, dass er solche Psalmen in den soeben zusammengefassten Rahmen seiner Theologie zwängt. Es geht bei ihm nur um die formelle Notwendigkeit der Erlösung für den Sünder, nicht um die sehr persönliche, subjektive Verzweiflung, die der Psalmist erfährt. Grund für diese Verzweiflung ist das, was ihm im Leben widerfährt und ihn dazu bringt, zu hinterfragen, wo Gott ist: Warum hat er mich verlassen? Wie lange will er zornig sein? Luther bleibt bei seinem Schema sogar dann, wenn Sünde oder Ungerechtigkeit im Text gar nicht erwähnt wird, wie zum Beispiel im Psalm 102. Wenn der Psalmist Gottes Zorn erwähnt, so Luther, dann deutet das implizit auf Sünde und Schuld hin. Das Gesetz und das Leiden bewirken, dass die Leidenden sich ihrer misslichen Lage als Sünder bewusst werden und ihr Bedürfnis nach Erlösung erkennen. Sie bekommen einen Vorgeschmack der Hölle (Ngien 2015: 9-10), und erkennen, dass sie verloren sind, es sei denn, sie werden durch Gottes Gnade gerettet.
Ich verstehe diese Psalmen anders, wenigstens solche, die zwar eine Klage enthalten, aber keine ausdrücklichen Bußpsalmen sind. Luthers Vorgehensweise funktioniert gut für Psalm 51, Davids Schuldbekenntnis nach seinem Ehebruch mit Batseba, oder Psalm 38, ebenfalls ein offensichtliches Schuldbekenntnis. Das Schema lässt sich aber nicht auf alle Psalmen, die eine Klage enthalten, anwenden. Wenn der Psalmist hinter seinem Leid den Zorn Gottes wittert, hat er damit nicht immer recht. Das Leben ist chaotisch. Wir wissen oft nicht, weshalb uns bestimmte Dinge passieren. War es Gott oder der Teufel oder beide oder keiner? Da Gott in seiner Allmacht letztlich die Kontrolle hat, ist er allerdings für jede Klage der richtige Adressat. Ich bevorzuge eine Psalmdeutung, die nicht übermäßig theologisiert. In vielen Fällen und Lebenslagen dienen die Psalmen uns nicht, indem sie uns Theologie lehren, sondern indem sie uns dazu befähigen, unseren Frust und unsere Verzweiflung (oder Freude und Dankbarkeit) vor Gott zum Ausdruck zu bringen.
Diese Kritik an Luther nimmt nicht weg, dass wir ihm viel verdanken – sogar diese Kritik. Denn die Reformation hat den Weg für eine bessere Auslegung freigemacht. Dadurch können wir heute mit besseren Auslegungsprinzipien für die Bibel arbeiten. Induktives Bibelstudium heißt, wenigstens in Theorie (die Umsetzung gelingt nicht immer), dass wir den Text nicht unseren Vorurteilen oder auch unserer Theologie unterordnen, sondern umgekehrt.
Das hat Luther zwar genauso gesehen, meines Erachtens ist ihm die Umsetzung hier aber nicht gelungen. Das Schema Sünde, Schulderkenntnis und Erlösung ist für das Buch Psalter zu einfach. Ein gutes Beispiel ist die Klage in Psalm 22,2a: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese Klage, vom Jesus am Kreuz wiederholt, ist nicht auf die Schuldhaftigkeit des Sprechenden zurückzuführen.
Luther hatte aber recht, dass das Leiden auch für Christen zum Leben gehört. Wenn Schlimmes passiert, können wir es nicht einfach „wegglauben“. Die Psalmen geben uns aber Worte, um auf das Leid zu reagieren.
Literaturangaben
Deutsche Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Ngien, D. (2015), Fruit for the Soul: Luther on the Lament Psalms (Minneapolis, MN: Fortress Press)