Die menschliche Sprache ist unglaublich komplex. Die Bibel wurde in menschlicher Sprache verfasst. Wenn uns gute Bibelauslegung wichtig ist, kommen wir nicht daran vorbei, uns über das Phänomen Sprache Gedanken zu machen. Im letzten Monat habe ich mich deswegen mit der Linguistik (Sprachwissenschaft) befasst.
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST
Die Komplexität der Sprache
Für das Schreiben und Übersetzen dieses Textes verwende ich Spracherkennungssoftware. Diese Software nimmt mehr Computerressourcen in Anspruch als jede andere Anwendung, die ich verwende, ausgenommen Videokonvertierung. Der Hersteller dieses Programms, eine Firma namens Nuance, arbeitet schon seit Jahrzehnten an der Weiterentwicklung und der Verbesserung dieser Software. Trotzdem ist es gerade dieses Programm, das auf meinem Computer am häufigsten abstürzt. Die Umsetzung meines Diktats in Schriftform funktioniert nicht schlecht, ich muss aber immer überprüfen, weil es oft Fehler gibt.
Das Programm begreift nichts von dem, was ich schreibe. Es setzt nur meine Klänge in Schriftzeichen um, sodass auf dem Bildschirm Worte erscheinen. Für einen Computer ist das offensichtlich eine extrem schwierige Aufgabe.
Mir ist klar, dass die digitale Spracherkennung sich rasant weiterentwickelt und dass Computer inzwischen tatsächlich „verstehen“, was wir sagen. Weit reicht dieses Verständnis aber noch nicht. Der Computer versteht einfache Befehle aus einem vergleichsweise kleinen Pool von möglichen Befehlen. Und er „versteht“ einfache Fragen und führt eine Internet-Suche durch, um mögliche Antworten zu finden. Das ist immer noch weit davon entfernt, ein normales Gespräch oder einen einfachen Text zu verstehen, geschweige denn die eventuellen Andeutungen oder die komplexeren Gedankengänge in einem anspruchsvollen Text zu begreifen.
Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Siri, der digitale Assistent von Apple, hat kein Gefühl für Humor.
Es handelt sich hier um das Wunder der Sprache oder besser gesagt um das Wunder des menschlichen Verstandes: Wir verarbeiten mehr oder weniger kontinuierlich Sprache, oft ohne dass wir uns dabei groß anstrengen müssen. Wenn wir ein Gespräch führen oder einen Text lesen, verarbeitet unser Gehirn die Klänge, die wir hören, oder die Schriftzeichen, die wir sehen, im Großen und Ganzen richtig und versteht, mit Ausnahmen, die Mitteilung unseres Gesprächspartners oder des Textes ziemlich gut. Was wir da schaffen, ist eine Spitzenleistung, die jeden Computer eifersüchtig machen würde – wenn ein Computer denn für Eifersucht anfällig wäre. Und wir schaffen das, ohne groß dabei nachzudenken.
Vleie Mhcensn vhrtsehen Szäte saogr dnan ncoh, wnen die Btsauchebn der Wetrör dcurhedainnergiwlebrt wreedn. Das schafft ein Computer nicht. Ein einziger Schreibfehler, und du findest nie, was du suchst.
Natürlich gibt es auch Fälle, in denen uns das Verständnis nicht leichtfällt. Wenn das Thema oder der Stil anspruchsvoll sind, wenn der Text alt ist, wenn er aus einer anderen Kultur stammt und ursprünglich in einer anderen Sprache verfasst wurde, wird es schwieriger. Zum Beispiel bei der Bibel. Dann müssen wir beim Lesen und Interpretieren nachdenken.
Wie funktioniert Sprache? Ihre Komplexität besteht aus Schichten.
Wörter
Sprache basiert auf Wörtern, den kleinsten Einheiten. Die meisten Wörter haben mehr als eine mögliche Bedeutung. Nehmen wir zum Beispiel das Wort Fuß. Wie viele mögliche Bedeutungen kommen dir in den Sinn? Und welche Verbindung besteht zwischen ihnen? Fuß als Längenmaß hat offensichtlich etwas mit dem Körperteil Fuß zu tun, es handelt sich aber um zwei unterschiedliche Bedeutungen. Und dann gibt es noch den Fuß eines Berges oder einer Statue. Normalerweise hilft uns der Kontext zu entscheiden, welche Bedeutung gemeint ist. Fuß und tut weh passen nicht zusammen, wenn wir von Maßen reden. Wenn der Fuß weh tut, dann geht es wohl um das Körperteil. Und wenn etwas sechs Fuß lang ist, dann macht es Sinn zu fragen, wie lang das in Meter ist, aber nicht, von wessen Fuß wir da reden.
Wenn wir nach der Bedeutung von bestimmten Wörtern fragen, ist es äußerst wichtig, dass wir den Unterschied zwischen Wort und Begriff oder Idee im Auge behalten. Nicht alles was Jesus zum Beispiel über die Liebe sagt, gehört zur Bedeutung dieses Wortes, auch dann nicht, wenn er das griechische Wort agape verwendet. Agape heißt nicht, obwohl dies oft behauptet wird, die selbstlose, sich aufopfernde Liebe. Selbstlose Liebe, die sich aufopfert, ist zwar die Art von Liebe, die Jesus befürwortete und lebte, dabei handelt es sich aber um seine Vorstellung von Liebe, nicht um die Bedeutung des Wortes. Denn sonst würde das Wort agape nicht in den folgenden Bibelstellen verwendet werden:
- Die griechische Übersetzung von Jesaja 1,23, wo Bestechung geliebt wird
- Die griechische Übersetzung von 2. Samuel 13, wo Amnon seine Schwester Tamar „liebt“
- Lukas 11,43, wo die Pharisäer die Ehrenplätze in den Synagogen lieben
Nicht gerade Beispiele von selbstloser, sich aufopfernder Liebe!
Die Verwechslung von Wort und Begriff in diesem Sinne ist ein Fehler, der bei Wortstudien oft gemacht wird. Paulus schreibt ausführlich über die Taufe und Rechtfertigung. Dabei geht er weit über die Bedeutung dieser Wörter hinaus. Nicht alles, was Paulus über Rechtfertigung oder Taufe oder Erlösung sagt, gehört somit zur Bedeutung des betreffenden Wortes.
Um das Gleiche noch einmal in anderen Worten zu sagen: Die Bedeutung eines Wortes ist die Definition, die wir in einem Wörterbuch finden. In der englischen Sprache spricht man von lexical sense. Darüber hinaus gibt es die erweiterte Idee oder Vorstellung, die jemand mit Hilfe des betreffenden Wortes beschreibt und die deswegen nicht im Wort selbst enthalten ist, sondern sich aus dem Kontext ergibt. In der englischen Sprache spricht man von context sense.
Semantische Felder
Häufig versuchen wir die Bedeutung von Wörtern zu bestimmen, indem wir sie definieren. Es ist aber alles andere als einfach, die Bedeutung eines Wortes genau und vollständig in einer Definition zu erfassen. Wie würde man zum Beispiel eine Vase definieren oder ein Hemd? Braucht ein Hemd Ärmel? Einen Kragen? Knöpfe (und wenn ja, wie viele?)? Ist es egal, aus welchem Material es hergestellt wurde?
Die Linguistik arbeitet mit dem Begriff semantisches Feld (die Semantik ist die Wissenschaft, die sich mit der Bedeutung von Wörtern befasst). Ein semantisches Feld ist eine Gruppe von Wörtern, die in einer Beziehung zu einander stehen, zum Beispiel, weil sie sich ähnlich sind und sich teilweise überschneiden oder weil sie einer übergelagerten Kategorie angehören (und sich gegenseitig ausschließen).
Konkret: Eine Vase ist keine Tasse, kann aber eine Kanne sein. Alle drei Substantive im vorherigen Satz sind Behälter. Sie bilden ein semantisches Feld. Ein Hemd ist ein Kleidungsstück, wie auch eine Hose, ein T-Shirt und ein Rock. Weitere Beispiele von einem semantischen Feld sind verschiedene Nahrungsmittel, Farben oder Verben, die eine Bewegung zum Ausdruck bringen (laufen, spazieren, rennen, fahren, fliegen, segeln).
So haben wir als Kinder die Bedeutung von Wörtern gelernt: nicht, indem wir eine Definition hörten, sondern indem wir im Alltag erlebten, welche Unterschiede es zwischen bestimmten Wörtern gibt. Wir wissen, dass türkis weder grün noch blau ist, sondern etwas dazwischen, nicht aufgrund einer Definition, sondern aufgrund dieser Beziehung zu grün und blau im semantischen Feld Farben.
In jeder Sprache bilden die semantischen Felder ein hierarchisches Web von Wörtern. Diese Betrachtungsweise ist besonders für Übersetzer hilfreich. Sie können so die Möglichkeiten, wie man ein bestimmtes Wort oder einen Ausdruck übersetzen könnte, eingrenzen und vergleichen.
Gerade in der Bibelübersetzung wird deswegen oft mit semantischen Feldern gearbeitet. Dazu wurde ein völlig neues Wörterbuch entwickelt für die griechische Sprache, in der das Neue Testament verfasst wurde: das Greek-English Lexicon of the New Testament Based on Semantic Domains. Bei Gelegenheit lohnt es sich, dieses Lexikon anzuschauen, um zu sehen, wie dort die Bedeutungsfelder organisiert sind.
Sätze
Wörter fügt man zu Sätzen zusammen. Dabei werden die Regeln der Grammatik meist intuitiv befolgt, damit ein Satz entsteht, den jemand – hoffentlich – verstehen wird. „Eine grüne Müdigkeit essen gestern, damit er rechtzeitig sein will“ – dieser Satz ist im wahrsten Sinne des Wortes Unsinn. Die Wörter passen nicht zusammen und die Grammatik ist schlecht; es ergibt keinen Sinn. Normalerweise darf man aber davon ausgehen, dass ein Satz einen Sinn ergibt, auch wenn der nicht immer sofort ersichtlich oder eindeutig ist. In diesem Fall ringt man mit Wortbedeutung und Grammatik, und versucht so den Satz zu entschlüsseln.
Ein Bibelkommentar kann dabei helfen. In fast allen Bibelkommentaren nimmt die Analyse der zwei ersten Sprachebenen von Wörtern und Sätzen mit Abstand den größten Raum ein. Es wird ausgiebig darum gerungen, welche genaue Bedeutung das betreffende Wort in diesem Kontext hat und wie die Grammatik zu verstehen ist, d.h. wie die Satzteile zueinander in Verbindung stehen und welche Bedeutung und Mitteilung sich daraus ergibt.
Leider bleiben dabei die Bedeutung der übergelagerten Ebenen wie Absätze und größere Abschnitte unbeachtet, sowie auch der Text als Ganzes. Wenn wir die Wörter und die Sätze verstehen, ist noch längst nicht gesichert, dass wir den gesamten Gedankengang oder die eigentliche Aussage begriffen haben.
Diskurs
Die übergelagerten Organisationsebenen des Textes sind für unser Verständnis absolut wesentlich: Wie verbinden die Sätze sich zu Absätzen oder größeren Abschnitten, wie bilden diese noch größere Einheiten und Gedankenschritte?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich eine relativ neue Vorgehensweise in der Bibelwissenschaft: die Diskursanalyse. Der Begriff Diskurs begrenzt sich dabei nicht auf Abhandlungen und Diskussionen, sondern kann sich auf jede Form von Kommunikation beziehen. Ein biblischer Text ist in diesem Sinne ebenfalls ein Diskurs. Die Diskursanalyse versucht zu verstehen, wie die Sätze und größeren Gedankeneinheiten im Text sich verbinden, um so die Bedeutung des Diskurses, seine Aussage oder seine Botschaft, zu erfassen.
Dazu braucht es eine höhere Form von Grammatik, Diskursgrammatik genannt, die beschreibt, wie Sätze kombiniert und ein Gedankengang oder eine Argumentation aufgebaut werden können. Dabei wird besonders darauf geachtet, wie Struktur und Organisation in einem Text funktionieren und welche Diskursmarker (wie zum Beispiel Zusammenfassungen, Schlussfolgerungen und rhetorische Fragen) dabei eine Rolle spielen.
Falls du die Schule für Bibelstudium (SBS) oder den Bibelkernkurs (BCC) absolviert hast, kommt dir das wahrscheinlich bekannt vor, auch wenn dir der Begriff Diskursanalyse nicht geläufig ist. SBS und BCC betonten schon immer das Gesamtbild eines Bibelbuches und die Wichtigkeit von Verbindungswörtern (weil, aber, wenn, damit usw.). Wir haben gelernt, möglichst oft die Warum-Frage zu stellen: Warum erwähnt der Verfasser das? Die Antwort führt uns häufig zu seinem eigentlichen Anliegen. Wir haben darum gerungen, den Gedankengang des Paulus in seinen Briefen nachzuvollziehen oder die Gesamtbotschaft einer historischen Erzählung wie der Apostelgeschichte oder des Buches Richter zu verstehen.
Anders gesagt, wir haben, ohne es zu wissen, eine Diskursanalyse durchgeführt. Erst wenn wir sehen, wie alle Teile sich verbinden und zusammenpassen, was der Zweck oder die Aussage jedes Satzes und jedes Absatzes ist und wie das alles mit der Situation, in der der Verfasser sich befand, zusammenhängt, sind wir in der Lage, das betreffende Bibelbuch wirklich zu verstehen.
Wenn wir das schaffen, verändert die Bibel unser Leben. Das ist allerdings nur möglich, wenn wir das Phänomen Sprache und ihre ganze Komplexität ernst nehmen.
Literaturangaben
Quelle Bild: Benjamin Stewart, 2013, Applied Linguistics Wordle, CC BY 3.0
Ein hilfreiches Buch zum Thema ist: Peter Cotterell and Max Turner (1989), Linguistics & Biblical Interpretation (London: SPCK)
Johannes P. Louw and Eugene A. Nida (1999), Greek-English Lexicon of the New Testament Based on Semantic Domains (United Bible Societies)