Es gibt unter Christen große Meinungsunterschiede. Die Bibel wird zum Teil sehr unterschiedlich ausgelegt. Wieso eigentlich? Hat das etwas mit der Bibel zu tun? Oder sind wir Menschen das Problem? Beides spielt eine Rolle.
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST.
Die Bibel
Die ersterwähnte Möglichkeit ist nicht das Thema dieser Ausgabe, deswegen nur kurz. Wenn die Bibel eine klare Anleitung oder Gebrauchsanweisung für das Leben als Mensch und für den christlichen Glauben sein sollte, hätte sie ihr Ziel nicht erfüllt. Wahrscheinlicher ist, dass Gott etwas anderes im Sinn hatte.
Damit ist nicht gesagt, dass die Bibel kein Leitfaden für Glauben und Leben ist, sondern nur, dass sie diesen Zweck nicht auf einfache Art und Weise erfüllt. Ein Teil des Problems ist die Bibel selbst; sie ist kein einfaches Buch.
Trotzdem: In Anbetracht der Tatsache, dass über dieses Buch schon seit 2000 Jahren intensiv nachgedacht wird, warum gibt es so viele Fragen, über die wir uns nicht einig werden? Das hat vor allem auch mit uns zu tun.
Wir
Ich lasse Faktoren außer Betracht, die mit Unwillen oder Ablehnung von unerwünschten Ideen zu tun haben. Ich nehme das Beste an. Auch aufrichtige und gut informierte Christen, die Gott und die Wahrheit lieben, sind sich oft genug nicht einig. Wie kommt es dazu?
Die harte Wahrheit ist: Wir sind nicht so gut im Denken, wie wir denken.
In dieser Ausgabe fasse ich manches zusammen, was über das menschliche Denken in den letzten Jahrzehnten entdeckt wurde, wie dargelegt im Buch von Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken.
Zwei Systeme
Kahneman argumentiert, dass in unserem Verstand zwei Systeme aktiv sind. System 1 ist schnell und fast automatisch. Auf Grund von Erfahrung erkennt es Muster und nimmt Ähnlichkeiten wahr. Es schlägt Assoziationen vor (dies erinnert mich an das). Es bestimmt, was Ursache und was Wirkung ist. Es vermittelt uns so ein Bild und eventuell eine Erklärung für das, was gerade um uns herum stattfindet.
Dieses Bild ist immer schlüssig, aber nicht immer korrekt oder genau. System 1 vermittelt ein zusammenhängendes Bild der Lage, das ist die gute Nachricht. Es zieht dabei oft voreilige Schlüsse, und das ist die schlechte Nachricht. Anders ausgedrückt: „System 1 geht über die Tatsachen hinaus und erstellt ein umfassendes Bild auf der Grundlage minimaler Belege (Kahneman 2011:114).
System 1 schließt unsere Intuition mit ein. Wir wissen, dass etwas richtig oder falsch ist, bevor wir uns eine Begründung dafür überlegt haben:
2 + 2 = 5
Wahrscheinlich musstest du nicht darüber nachdenken; du erkanntest sofort, dass diese Aussage falsch ist. Was aber ist die Quadratwurzel von 900? Das ist schwieriger. Darüber musst du wahrscheinlich nachdenken. Jetzt ist System 2 aktiv geworden. (Die Antwort ist übrigens 30.)
System 2 ist langsam und überlegt. Es arbeitet viel gründlicher als System 1 und beherrscht Analyse und Logik wesentlich besser. Es ist aber auch faul. Die meiste Zeit lässt es System 1 für sich arbeiten. Wenn System 2 aktiv wird, empfinden wir das als harte Arbeit; es braucht viel Energie, auf diese Weise zu denken.
Wenden wir das auf das Bibellesen an. Normalerweise akzeptieren wir beim Lesen, ohne dabei nachzudenken, die Vorschläge, die System 1 über die Bedeutung von Wörtern und Sätzen macht. So zu lesen ist leicht und macht Spaß. Wir bleiben im Rahmen der Überzeugungen und Auslegungen, die wir in der Vergangenheit aufgenommen haben, ebenfalls ohne dabei nachzudenken.
Es macht Sinn, die meiste Zeit so zu lesen; wir würden mit keinem Buch weit kommen, wenn wir uns über die Bedeutung jedes Wortes Gedanken machen würden. Erst wenn wir etwas Unerwartetem oder für unser Empfinden Unstimmigem begegnen, halten wir an und denken nach. Jetzt ist System 2 aufgewacht.
System 2 wird auch aktiv, wenn wir mit einer anderen Ansicht konfrontiert werden. In diesem Fall ist unsere erste, fast automatische Reaktion die Verteidigung, nicht das Forschen nach Wahrheit. Wir suchen Gründe, weshalb unsere Sicht richtig und die andere falsch ist. Alles Weitere würde noch mehr Energie brauchen, und System 2 bevorzugt den leichtesten Weg.
In den Eigenarten dieser beiden Denksysteme liegt die Wurzel vieler Fehler und Schwächen in unseren Denkprozessen. System 1 hat oft recht, neigt aber zu typischen Verzerrungen und Vereinfachungen. Auch System 2 hat seine Schwachstellen. Im Folgenden schauen wir uns mehrere Beispiele an.
Systematische Fehler
Wir suchen nach Bestätigung. Wir konzentrieren uns auf die Bibelstellen, die unsere Ansichten bestätigen, und übersehen diejenige, die zu unseren Überzeugungen im Widerspruch stehen. Für viele Streitfragen gibt es feste Beweisverse für die eine oder die andere Ansicht. Diese sogenannte deduktive Vorgehensweise sollte SBS-Absolventen gut bekannt sein. Unsere Standardeinstellung besteht darin, für unsere vorgefassten Meinungen Belege zu suchen.
Es handelt sich aber nicht um ein Problem, das sich auf die Bibelauslegung beschränkt. Auf Englisch nennt man dieses Phänomen confirmation bias. Wenn wir uns mit einer Behauptung oder mit einer Hypothese befassen, überlegen wir, welche Belege und Informationen diese Behauptung bestätigen. Wir fragen uns nicht, welche Informationen und Argumente gegen sie sprechen würden. Je stärker wir uns emotional mit einer Idee identifizieren, desto schwerer fällt es uns, Beweismaterial, das gegen diese Idee spricht, fair zu beurteilen.
Wir beantworten eine einfachere Frage. Wenn System 1 auf eine Frage keine schnelle Antwort findet, überlegt es sich eine einfachere Frage. Diese Vorgehensweise ergibt Sinn, wenn eine ungenaue Einschätzung ausreicht, was im Alltag oft der Fall ist.
In der Bibelauslegung sieht das folgendermaßen aus. Ob eine Auslegung richtig oder falsch ist, ist eine schwierige Frage. Oft beantworten wir unbewusst eine einfachere Frage: Gefällt mir diese Auslegung? Passt diese Auslegung zu dem, was ich bis jetzt gehört habe oder weiß? Entspricht sie der Meinung von Menschen, denen ich vertraue? Klingt diese Auslegung biblisch (was auch immer das bedeuten mag)?
Verankerung. Die erste Antwort, die erste Erklärung, die wir hören oder lesen, ist wie ein Anker. Sie hat einen überproportionalen Einfluss auf unsere Entscheidung.
In Experimenten zeigt sich, dass eine willkürliche Zahl, die nichts mit der eigentlichen Frage zu tun hat, trotzdem großen Einfluss auf die Schätzungen von Teilnehmern ausübt. In einem Fall wurden Teilnehmer entweder mit der Zahl 10 oder mit der Zahl 65 konfrontiert. Anschließend wurden sie um eine Schätzung gebeten, wieviel Prozent der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen sich in Afrika befinden. Die durchschnittliche Antwort für Gruppe „10“ war 25 %, die für Gruppe „65“ war 45 % (Kahneman 2011:119). Obwohl in diesem Fall die Zahlen (10 und 65) gar keinen Bezug zum Thema hatten, beeinflussten sie die Antworten.
Dieses Phänomen der Verankerung ist ein guter Grund, immer zuerst den Text selbst zu studieren, bevor man zu einem Kommentar greift.
Wir ignorieren Mehrdeutigkeit. System 1 hat als Aufgabe, sich auf Grund der zur Verfügung stehenden Daten ein Bild der Lage zu machen, das einen Sinn ergibt. Es werden dabei eventuelle Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten so weit – und so lange – wie möglich ignoriert. Wie Kahneman (ibid.:114) es ausdrückt: Wir ziehen Sicherheit gegenüber Zweifeln vor. Daraus ergibt sich, dass wir uns der Schwachstellen unserer Auslegung oft nicht bewusst werden. Diese Tendenz führt zu übermäßiger Sicherheit (dazu gleich noch mehr).
WYSIATI: What You See Is All There Is (was du siehst, ist alles, was es gibt; ibid.:85). Anders als System 2 zieht System 1 keine Alternativen in Betracht und bemerkt es nicht, wenn wichtige Informationen fehlen, selbst dann nicht, wenn diese für eine zuverlässige Schlussfolgerung wesentlich wären. System 1 geht schlichtweg davon aus, dass die Informationen, über die es verfügt, vollständig sind und ausreichen. Alles, was unbekannt ist, wird als nicht relevant betrachtet.
Es ist leicht nachvollziehbar, dass die Auslegung auf Grund dieser Annahme in die Irre gehen kann und dass Interpreten, die mit begrenzten und jeweils verschiedenen Datasets arbeiten, zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen können.
Die Illusion des Verstehens. Es ist für System 1 fast unmöglich, keine Erklärung zu geben. System 1 lebt davon, in den Daten irgendeinen Sinn zu erkennen. „Sinn“ ist für System 1 dann gegeben, wenn die Erklärung Zusammenhang zeigt: Die Geschichte klingt gut. System 1 fragt nicht, ob das vorgeschlagene Verständnis richtig ist (eine Frage, die sich viel schwerer beantworten lässt). So ergibt sich die Illusion des Verstehens. In Verbindung mit dem vorherigen Denkfehler (WYSIATI) macht System 1 es uns schwer, im Verstehen echte Fortschritte zu machen:
Für eine gute Geschichte ist die Stimmigkeit der Informationen wesentlich, nicht ihre Vollständigkeit. Stärker noch, es stellt sich heraus, dass es einem leichter fällt, alles was man weiß in ein schlüssiges Modell einzuordnen, wenn man wenig weiß. (Ibid.:87)
Wie zuversichtlich Menschen in ihren Überzeugungen sind, hängt aber hauptsächlich von der Qualität der Geschichte ab, die sie über das, was sie sehen, erzählen können, selbst wenn sie wenig sehen. Wir unterlassen es oft, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass für unsere Entscheidung wesentliche Belege fehlen – was wir sehen, ist alles, was es gibt. (Ibid.:87)
Die Konsequenzen bei der Bibelauslegung sind offensichtlich. Es fällt uns schwer, das Fehlen von Informationen zu erkennen, und wir tendieren dazu, unsere Auslegung als richtig einzustufen:
Übermäßige Sicherheit, ein zu großes Vertrauen in unsere Auslegung. System 1 kommt es darauf an, dass die Erklärung Sinn ergibt. Je weniger wir über etwas wissen, desto leichter ist es, eine Geschichte zu gestalten, die für alle Einzelheiten Platz hat. Und desto sicherer sind wir uns über das, was wir zu wissen meinen.
Der affektive (gefühlsmäßige) Denkfehler. Wir entscheiden häufig darüber, was wahr ist, auf Grund dessen, ob es uns gefällt oder nicht. Was uns gefällt, fühlt sich richtig an. Wir beantworten also eine einfachere Frage als die, die eigentlich gestellt wurde. Wir wissen nicht, was wahr oder richtig ist, wir wissen aber, welche Antwort uns besser gefällt.
Dazu kommt, dass unsere Akzeptanz von Ideen stark davon bestimmt wird, ob wir die Person, die sie befürwortet, mögen oder nicht. Es handelt sich um ein aus der Politik wohlbekanntes Phänomen. Was unsere Partei oder unser Kandidat vorschlägt, übernehmen wir meist unkritisch; was die Gegenpartei vorschlägt, lehnen wir gleichermaßen unkritisch ab.
Die gleiche Befangenheit zeigt sich in der Theologie und in der Bibelauslegung. Wenn du N.T. Wright magst, übernimmst du leicht eine Auslegung von ihm, die nicht stichhaltig ist. Wenn du Calvin nicht magst, lehnst du womöglich Auslegungen und Ideen ab, für die eigentlich viel spricht, nur weil sie vermeintlich calvinistisch sind.
Die Bezeichnung für diese Art von Befangenheit ist der Heiligenschein-Effekt. Wenn wir eine Person oder eine Strömung positiv bewerten, tendieren wir dazu, ihre Ideen unkritisch zu übernehmen. In Wirklichkeit sind sowohl „Calvin hat es gesagt, deswegen glaube ich es“ als auch „Calvin hat es gesagt, deswegen bin ich dagegen“ schlechte Maßstäbe. Und falls Calvin dich kalt lässt: Du kannst jeden anderen Namen außer Jesus eintragen, die Aussage bleibt wahr.
Eine weitere Auswirkung dieses Denkfehlers: Da wir die Bibel positiv bewerten, hat durch diesen Heiligenschein-Effekt jeder Standpunkt, der von sich behauptet „biblisch“ zu sein, schon einen Fuß in der Tür.
Wiederholung erhöht unsere Bereitschaft, eine Behauptung oder Auslegung als wahr anzunehmen, egal was ihre Substanz ist: Was vertraut klingt, fühlt sich wahr an.
Kognitive Leichtigkeit. Was leicht verständlich klingt, fühlt sich wahr an.
Unbegründete Mustererkennung. Unser Gehirn ist darauf angelegt, Muster zu erkennen – auch dann, wenn sie nicht da sind, sondern auf Fantasie beruhen. So sind wir in der Lage, in Wolken Gestalten zu erkennen. Das ist nett und harmlos. Wenn wir aber in der Bibel unberechtigt Muster erkennen (z.B. dass Menschen in Sprachen reden, wenn der Heilige Geist kommt, oder wie Frauen im Altertum und somit auch in biblischen Texten behandelt wurden), ist das nicht harmlos. Nur, weil etwas mehrmals in der Bibel beschrieben steht, ist es nicht unbedingt richtig oder gar geboten.
Lösungen?
Diese Denkfehler lassen sich nicht leicht überwinden, weil sie tief in der Wirkungsweise unseres Gehirns verankert sind. Voreilig Schlüsse ziehen ist vor allem eine Frage der Wirtschaftlichkeit: Es geht schnell und spart Zeit und Anstrengung. Meistens ist das Ergebnis ausreichend; wozu mehr investieren? In der Bibelauslegung ist es allerdings nicht hilfreich voreilig Schlüsse zu ziehen. Wie können wir es hier besser machen?
- Nimm dich vor allem in acht vor confirmation bias, das Suchen nach Bestätigung. Frage: Was spricht gegen einen bestimmten Gesichtspunkt? Warum tendiere ich zu dieser Auslegung (ist es, weil sie leicht verständlich ist, oder vertraut, oder weil sie mir gefällt, oder weil die Menschen in meinem Umfeld es so sehen?)?
- Ziehe bewusst Alternativen in Betracht: Wie könnte man diese Aussage anders verstehen?
- Ziehe andere zur Rate, zum Beispiel in Form von Kommentaren oder anderen Referenzwerken. Setze dich mit anderen Auffassungen auseinander.
- Wenn jemand auf Facebook etwas postet, mit dem du nicht einverstanden bist, kündige dann die Freundschaft nicht (du hast schon genug confirmation bias).
- Stelle Fragen.
- Was ist unklar oder mehrdeutig?
- Welche Informationen fehlen dir? Was könnte sonst noch relevant sein? Was weißt du nicht?
- Lerne, mit offenen Fragen zu leben, statt eine Entscheidung zu forcieren.
- Nimm deine Intuition ernst und hinterfrage sie.
“Biblisch”?
Ich schließe mit einem weiteren Beispiel aus Kahnemans Buch:
„Wie viele Tiere jeder Art nahm Mose mit sich in die Arche?“ Die Zahl der Menschen, die bemerken, was mit dieser Frage nicht stimmt, ist so klein, dass man von der „Mose-Täuschung“ spricht (ibid.:73).
Hast du den Fehler gesehen? Nicht viele Menschen würden sich täuschen lassen, wenn die Frage lauten würde: Wie viele Tiere jeder Art nahm Donald Trump mit sich in die Arche? Durch die Verbindung von biblischen Konzepten und Namen, die irgendwie schon zusammengehören, übersieht man, was nicht stimmt.
In diesem Beispiel handelt es sich um einen einfachen Fehler, um eine Tatsache. Es ist wesentlich schwieriger, Fehler in einer Textauslegung zu finden, besonders wenn verwandte biblische Konzepte, zusätzliche Bibelstellen, Hintergrundinformationen und theologische Überlegungen mit von der Partie sind. Es klingt ja biblisch, kann die Auslegung also falsch sein?
Die Antwort lautet selbstverständlich ja.
Attribution
Dennis Jarver, Deep in Thought… https://www.flickr.com/photos/archer10/11713640484 (CC BY-SA 2.0)
Lightbulb: https://pixabay.com/de/birne-licht-idee-strom-gl%C3%BChlampen-40701/ (CC0)
Literaturangaben
Daniel Kahneman (2011), Thinking, Fast and Slow (New York: Farrar, Straus and Giroux)
Ibid. (2016), Schnelles Denken, langsames Denken (München: Penguin Verlag)
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