Esra: Was will dieses Buch?

Dezember letzten Jahres wurde ich gebeten, eine Woche in Norwegen zu unterrichten, u.a. über das Buch Esra. Das bot mir eine seltene Gelegenheit. Ich glaube nicht, dass ich dieses Buch jemals zuvor unterrichtet habe. Es gab mir die Möglichkeit, einen Unterricht zu einem Bibelbuch von Grund auf neu zu planen. Einige Monate zuvor befasste sich die Ausgabe von Create A Learning Site mit dem Thema der narrativen Kritik. Ich beschloss, dieses Werkzeug für die Unterrichtsvorbereitung einzusetzen. Ich präsentiere nun die Ergebnisse einer einfachen narrativ-kritischen Analyse. Mein Ziel war es, mehr über die Erzählperspektive (Point of View) des Verfassers zu erfahren, indem ich auf folgende Punkte achtete:

  • Auslegung
    und Kommentierung durch den Erzähler
  • Handlungen
    und Äußerungen der erwähnten Personen
  • Wiederholungen
    im Text

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST

Grundlegendes zum Buch

Es ist wahrscheinlich, dass die Bücher Esra und Nehemia ursprünglich in einem Buch zusammengefasst waren. Es wird in der jüdischen Bibel so betrachtet, und erst im dritten Jahrhundert n. Chr. wurde das Buch in zwei Teile geteilt. Obwohl ich mich auf das Buch Esra konzentriere, lasse ich daher die Fortsetzung in Nehemia nicht außer Betracht.

Offensichtlich wurde Esra-Nehemia aus einer Reihe von Quellen zusammengestellt: die Memoiren von Esra, die Memoiren von Nehemia (beide in der „Ich“-Form, eine Seltenheit in der hebräischen Bibel), verschiedene Listen und mehrere offizielle Briefe und Verordnungen aus dem persischen Königreich. Einige der letzteren sind auf Aramäisch verfasst, der offiziellen Sprache des Imperiums und der Sprache der internationalen Kommunikation damals.

Schließlich ist zu beachten, dass die Ereignisse in Esra 1-6 deutlich früher stattfanden als die in der zweiten Hälfte des Buches, und zwar während der Herrschaft von Kyrus und Darius, unmittelbar nach dem Exil. Sie umfassen die Jahre von 539 bis 516 v. Chr. Esra zog erst im siebten Jahr des Artaxerxes (Esra 7,8), also 458 v. Chr., etwa 80 Jahre nach der Rückkehr in Esra 1, nach Jerusalem. Nehemia folgte im 20. Jahr des Artaxerxes (Neh. 1,1; 2,1), das ist 445 oder 444 v. Chr. Interessanterweise taucht Esra in Nehemia 8 und 12 wieder auf. Esra und Nehemia waren Zeitgenossen, und ihre Wirkung überschneidet sich teilweise, sie waren aber keine Zeitgenossen von Josua und Zerubbabel in Esra 1-6.


Regierungszeit persischer Könige, die in Esra erwähnt werden:

  • Kyrus 559-530 v. Chr.
  • Darius 522-486
    v. Chr.
  • Xerxes (Ahasveros)
    486-465 v. Chr.
  • Artaxerxes
    (Artahsasta) 465-425 v. Chr.

Die Korrespondenz mit Artaxerxes in Esra 4,7-23 passt chronologisch gesehen nicht an diese Stelle. Sie bezieht sich auf den späteren Wiederaufbau der Stadt, nicht des Tempels. Sie könnte daher der Hintergrund für Nehemia sein. Vermutlich wurde der Brief aus thematischen Überlegungen in Esra 4 platziert: Das gemeinsame Thema ist Opposition.

Erklärungen der Erzähler

Mir fiel zunächst auf, wie sachlich der Bericht in Esra ist. Er erzählt, was passiert ist, und gibt nur selten einen Kommentar oder eine Interpretation ab. Das bedeutet, dass der Standpunkt des Verfassers, die Wertung der Ereignisse und die eigentliche Absicht nicht sofort offensichtlich sind.

Einige Erläuterungen gibt uns das Buch. Dass Kyrus den Juden erlaubt, zurückzukehren, und dass es Juden gibt, die darauf reagieren, liegt daran, dass der Herr ihren Geist „erweckte“ (Esra 1,1 und 5). „Das Volk des Landes“ (Esra 4,4) wird bei der ersten Erwähnung gleich als „Widersacher“ bezeichnet (Esra 4,1).

Wenn die Juden ihren Versuch, den Tempel in Esra 5 wiederaufzubauen, erneut aufnehmen, können sie das tun, weil „das Auge ihres Gottes“ über ihnen war (Esra 5,5). Sie schaffen es, das Projekt zu vollenden, weil der Herr „das Herz des Königs von Assur ihnen zugewandt“ hatte (Esra 6,22).

Esra sagt dem Leser mehrmals, dass die Hand des Herrn auf ihm war wie auch auf denen, die bei ihm waren (Esra 7,6, 9, 28; 8,18, 22, 31). Wir erfahren vom Erzähler, dass Esra im Gesetz des Moses geschult war (Esra 7,6.12) und was seine Absicht war:

Denn Esra richtete sein Herz darauf, das Gesetz des HERRN zu erforschen und danach zu tun und Gebote und Rechte in Israel zu lehren. (Esra 7,10)

Wann immer das Gesetz erwähnt wird, dann oft mit dem Zusatz, dass entweder Mose oder Gott oder beide seine Urheber sind. Es ist nie das Gesetz Israels; es ist das Gesetz Gottes und des Moses (Esra 3:2; 7,6, 10, 12, 14, 21, 25f; Neh. 8,1, 8 18; 9,3, 14).

Es gibt weitere Erläuterungen, aber nicht viele. Es genügt jedoch klarzumachen, dass Gott bei der Rückkehr und beim Wiederaufbau dabei ist und dass das Gesetz für dieses Buch von zentraler Bedeutung ist.

Indirekte Auswertung: Was Menschen sagen und tun

Wir lernen ein wenig mehr durch die Worte und Taten derjenigen, die in der Erzählung eine Rolle spielen. In Esra 3 zum Beispiel versammeln sich die Israeliten „wie ein Mann“ in Jerusalem, bauen den Altar wieder auf und feiern das Laubhüttenfest (Esra 3,1-4). Kurz darauf beginnen sie mit dem Wiederaufbau des Tempels (Esra 3,8). Die Grundsteinlegung führt zu Feier, Lob und großer Freude, aber auch zu Trauer (Esra 3,10-13). Dieser Abschnitt, der die Rückkehr der ersten Juden aus dem Exil und den Wiederaufbau des Tempels beschreibt, endet mit einer Feier des Passahfestes (Esra 6,19-22).

Durch all dies sehen wir deutlicher, was in der Erzählperspektive zentral und wichtig ist. Dazu gehören der Tempel und sein Kult. Wir gewinnen auch den Eindruck, dass diese Gemeinschaft es mit Gott und Thora ernst meint.

Wir lernen die „Widersacher“ (Esra 5,1) ebenfalls durch ihr Handeln kennen, besonders durch den Brief in Esra 4,7-16, einen Brief voller Verleumdung, Schmeichelei und Verdrehungen. Als die Antwort eintrifft, ziehen die Gegner „eilends“ (Esra 4,23) nach Jerusalem und erzwingen einen Baustopp.

Es ist erwähnenswert, dass keine der Edikte und Briefe der persischen Könige ein negatives Licht auf die Könige wirft, nicht einmal die Antwort in Esra 4,17-22 von Artaxerxes auf den verleumderischen Brief. Zwar ordnet Artaxerxes einen Stopp des Wiederaufbaus von Jerusalem (nicht des Tempels) an, aber er hat gute Gründe und es gilt nur „bis von mir der Befehl gegeben wird“ (Esra 4,21). Überall sonst geben die Könige ihre volle Unterstützung. Es gibt auch einen deutlichen Kontrast zu dem vorher erwähnten, verleumderischen Brief in einem zweiten Brief, der von persischen Beamten geschrieben wurde (in Esra 5,6-17). Deswegen lässt sich abschließend feststellen, dass der Tempel „nach dem Befehl des Gottes Israels und nach dem Befehl des Kyrus, Darius und Artahsasta, der Könige von Persien“ fertiggestellt wurde (Esra 6,14).

Der Verfasser zeigt so auf, dass Gott dem Volk Gunst bei den Weltmächten gibt; sie unterstützen den Wiederaufbau aktiv.

Mindestens ein weiteres Anliegen wird in den abschließenden Kapiteln von Esra indirekt kommuniziert:

Als das alles ausgerichtet war, traten die Oberen zu mir und sprachen: Das Volk Israel und die Priester und Leviten haben sich nicht abgesondert von den Völkern des Landes mit ihren Gräueln, nämlich von den Kanaanitern, Hetitern, Perisitern, Jebusitern, Ammonitern, Moabitern, Ägyptern und Amoritern; denn sie haben deren Töchter genommen für sich und für ihre Söhne und das heilige Volk hat sich vermischt mit den Völkern des Landes. Und die Oberen und Ratsherren waren die Ersten bei diesem Treubruch. Als ich dies hörte, zerriss ich mein Kleid und meinen Mantel und raufte mir Haupthaar und Bart und setzte mich bestürzt hin. (Esra 9,1-3; Betonung hinzugefügt)

Die Bedeutung der mangelnden Absonderung zeigt sich darin, dass die Oberen es für notwendig halten, Esra zu informieren, durch die starke emotionale Reaktion von Esra und durch den Platz, der dem Thema eingeräumt wird (zwei Kapitel). Dazu im nächsten Abschnitt mehr.

Wiederholung

Der reichste Einblick in den Zweck dieses Buches kommt durch das einfache Erkennen von Wiederholungen. Am häufigsten wird das Haus Gottes erwähnt. Es erscheint direkt am Anfang im Edikt von König Kyrus (Esra 1,2-4), das den Tempel in drei Versen dreimal erwähnt. Der Wiederaufbau dieses Hauses ist die ausdrückliche Aufgabe derer, die zurückkehren (Esra 1,5). Kyrus lässt sie die Gefäße des Hauses des Herrn mitnehmen (Esra 1,7).

Alles in allem findet das „Haus Gottes“ im Buch Esra fast 50 Erwähnungen, Verwendungen von Tempel nicht mitgezählt. Es wird im Buch Nehemia weniger erwähnt, besonders in den ersten neun Kapiteln nicht. Das ist nicht verwunderlich, denn Nehemia geht es in erster Linie darum, die Mauer um Jerusalem wiederaufzubauen. In den letzten vier Kapiteln gibt es aber immerhin 14 Hinweise auf das „Haus Gottes“. Dies allein zeigt, dass der Tempel das wichtigste Anliegen des Verfassers ist, aber es gibt noch weitere Hinweise, die dies bestätigen.

Als nächstwichtigstes Thema tritt das Gesetz Gottes in Erscheinung. Es wird erstmals in Kapitel 3 im Zusammenhang mit den Opfern und Festen erwähnt. Ab Kapitel 7, mit der Rückkehr von Esra, dem Schriftgelehrten, wird das Gesetz zum Hauptthema. In diesen Kapiteln geht es vor allem um Gesetze, die sich mit dem Dienst im Hause des Herrn befassen. Dazu gehört ein klares Interesse in Esra und Nehemia an Priestern, Leviten und anderen Personen mit Aufgaben, die in direktem Zusammenhang mit dem Haus stehen. Den gleichen Schwerpunkt finden wir im Bund, den das Volk in Nehemia 10 schließt; dort geht es vor allem um Bestimmungen für den Dienst im Haus Gottes.

Es gibt zwei weitere zentrale Themen in Esra-Nehemia. Eins davon ist die Mauer, die Nehemia baut. Das andere ist das Thema der Absonderung und der Mischehen. Dieses Thema steht sowohl am Ende von Esra als auch am Ende von Nehemia im Mittelpunkt. Dies deutet darauf hin, dass der Verfasser es für äußerst wichtig hält; seine ursprünglichen Leser sollten dieses Anliegen wohl unbedingt zu Herzen nehmen. Das Thema der Absonderung taucht erstmals im Kontext des Passahfestes auf:

Und es aßen das Passa die Israeliten, die aus der Gefangenschaft zurückgekommen waren, und alle, die sich zu ihnen abgesondert hatten von der Unreinheit der Heiden im Lande, um den HERRN, den Gott Israels, zu suchen. (Esra 6,21; zu beachten ist der Zusammenhang mit der zeremoniellen Reinheit, die auch in Vers 20 erwähnt wird; Rasse oder Ethnizität ist nicht das Thema).

In Kapitel 9 stellt sich heraus: „Das Volk Israel und die Priester und Leviten haben sich nicht abgesondert von den Völkern des Landes mit ihren Gräueln“ (Esra 9,1), sondern sich mit ihnen vermischt. Die letzten beiden Kapitel von Esra befassen sich ausschließlich mit diesem Problem.

Es ist interessant, die Reihenfolge dieser Hauptthemen zu beachten. Zuerst das Haus, dann das Gesetz und an dritter Stelle die Mauer. Ich bezweifle, dass wir diese Reihenfolge gewählt hätten; sie sieht äußerst unpraktisch aus, und doch ist sie genau richtig.

Wie bereits erwähnt, taucht das Problem der Absonderung und der Mischehen gegen Ende des Buches Nehemia wieder auf. In Nehemia 9,2 „sonderten sich die Nachkommen Israels von allem fremden Volk ab“ (ebenfalls in Neh. 13,3). Es sind „alle, die sich von den Völkern der Länder abgesondert haben und sich zum Gesetz Gottes halten, samt ihren Frauen, Söhnen und Töchtern“ (Neh. 10,29), die einen Bund mit Gott schließen. Nichtdestotrotz sind die Mischehen mit ausländischen Frauen in Nehemia 13,23-28 immer noch ein Problem.

Die beiden Bücher Esra und Nehemia zeigen eine parallele Struktur:

Bau des Hauses

Opposition

Das Gesetz: Esra kommt

Absonderung / Mischehe

Bau der Mauer

Opposition

Das Gesetz: Esra liest

Absonderung / Mischehe

Darüber hinaus wird das Laubhüttenfest zweimal gefeiert, zuerst in Esra 3,4 und erneut in Nehemia 8,14-18. Jedes Buch bezieht sich auf die Neuordnung der Leviten und des Tempeldienstes durch David (Esra 3,10, 20 und Nehemia 12,24, 36, 45f). Die Liste derer, die in den Tagen von Kyrus zurückkehrten, ist zweimal aufgenommen (Esra 2 und Nehemia 7). Nicht alles in diesen Büchern wird wiederholt und nicht jede Wiederholung ist in der gleichen Reihenfolge, aber es gibt ausreichend Hinweise, dass die Wiederholung Absicht ist.

Eine normative Vision für die zurückgekehrten Exilanten

Das Ergebnis ist eine Richtschnur oder ein Maßstab, eine normative Vision für diejenigen, die aus dem Exil zurückgekehrt sind. Diese Vision verbindet die Betonung des Hauses Gottes und des Gesetzes, insbesondere der Gebote, die sich auf den Tempeldienst beziehen, mit der Bedeutung der Absonderung. Bei der Absonderung geht es um zeremonielle Reinheit. Nur so lässt sich der Dienst am Haus Gottes und an Gott selbst durch eine Gemeinschaft, die mit Gott wandelt, wiederherstellen.

Auch die Listen passen in dieses Schema. Sie dokumentieren, wer zum Volk Gottes gehört und wer rechtmäßige Priester und Leviten sind. Die Mauer um Jerusalem ist notwendig, um diese erneuerte Gemeinschaft des Gottesvolkes zu schützen und zu verteidigen, um so ihre Absonderung aufrecht zu erhalten. Sie ermöglicht zum Beispiel eine strengere Einhaltung des Sabbatgebots (Neh. 13,14-22).

Wo immer in diesen beiden Büchern Emotionen aufbrechen (in Nehemia keine Seltenheit), ist das Ziel, Hingabe und Eifer für Gott und sein Gesetz zu stärken.

All dies dient dazu, die Kontinuität mit der Vergangenheit um der Zukunft willen wiederherzustellen und zu gewährleisten. Mit anderen Worten, diese Themen (Haus, Gesetz, Opferdienst, Feste, Absonderung, Jerusalem) sollten den Rückkehrenden zur Orientierung dienen. Esra-Nehemia vermittelt ihnen Werte und Normen, damit sie ihre Identität verstehen und leben lernen.

Und für uns?

Ich überlasse es dir, den nächsten Schritt selbst zu überdenken. Was bedeutet Absonderung in unserem Kontext? Was gilt nicht oder müsste neu definiert werden? Wie könnten wir die Vision dieser Bücher in die Gemeinschaft des neuen Bundes übertragen? Wie können wir uns von der Erzählung Esra-Nehemia ermutigen und herausfordern lassen?

Bildnachweis

Esra: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:CodxAmiatinusFolio5rEzra.jpg, Public Domain

Literaturangaben

Deutsche Bibelgesellschaft (1984), Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

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