Eine Pilgerreise durch das Johannesevangelium: Wie ich dazu kam

Der Schlüssel zum Verständnis des Johannesevangeliums ist nicht Bibelstudium, sondern Bibelmeditation. Zumindest für mich hat es sich so ergeben. Ich habe mich mit diesem Buch immer schwergetan. Es öffnete sich mir schließlich, als ich darüber meditierte, anstatt es zu studieren. Deshalb wende ich mich nach drei langen und theologischen Ausgaben über das Sühneopfer nun einem ganz anderen Thema zu. Diese Ausgabe (und die nächste) beschäftigt sich mit Johannes und mit der Praxis der Bibelmeditation. Als solche ist sie die Frucht unserer Pilgerreise in Italien im letzten Jahr. Und so beginne ich mit der Geschichte dieser Pilgerreise.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST

Via di Francesco

Franziska und ich hatten die Pilgerreise ein Jahr im Voraus geplant: fünf Wochen im September und Oktober 2020. Es war schon lange ein Traum von ihr. Und ich … naja, ich dachte mir, das kann ich schon mal versuchen. Unser ursprünglicher Plan war, den Camino Ignatiano im Norden Spaniens zu gehen, einen weniger bekannten Pilgerweg, der an Ignatius von Loyola erinnert, den Gründer des Jesuitenordens, der im 16. Jahrhundert lebte.

Und dann kam COVID-19. Obwohl sich die Bedingungen nach der ersten Welle und den Einschränkungen im Frühjahr verbesserten und die Grenzen wieder geöffnet waren, suchte schnell eine zweite Welle den Norden Spaniens heim. Lange vor September war klar, dass eine Pilgerreise auf dem Camino Ignatiano keine realistische Option war.

Doch immer, wenn wir darüber beteten, was wir in den Wochen, die wir reserviert hatten, tun sollten, spürten wir, dass wir das Pilgern nicht aufgeben sollten. Erst einige Wochen vor unserer geplanten Abreise realisierte ich, dass die COVID-19-Zahlen für Italien durchweg niedrig waren, niedriger als für die meisten europäischen Länder. Also wechselten wir auf die Via di Francesco: eine uralte Pilgerroute, die Orte verbindet, an denen Franziskus von Assisi im frühen 13. Jahrhundert gewirkt und eine spirituelle Bewegung ausgelöst hatte, die bis heute Auswirkungen auf unsere Welt hat.

Wir starteten in der Nähe von Florenz und wanderten nach Assisi, dem Mittelpunkt der Strecke, wo wir drei Tage Rast machten. Von Assisi aus setzten wir unsere Wanderung nach Rom fort. Alles in allem sind wir vier Wochen gelaufen und legten dabei etwas mehr als 500 Kilometer zurück (plus 16.000 Höhenmeter hoch und wieder runter).

Für die geistlichen Übungen unterwegs hielten wir uns an einen ignatianischen Ansatz, wenn auch in einem sehr lockeren Sinne. Mit anderen Worten, wir nahmen uns unterwegs Zeit für das Gespräch mit Jesus und für eine Bibelmeditation im ignatianischen Stil. Dieser Ansatz konzentriert sich auf die Geschichten der Evangelien. Er versucht, die Geschichte zu erleben, indem man sich entweder selbst als Zuschauer hineinversetzt oder indem man sich mit einer oder mehreren der beteiligten Personen identifiziert und sich vorstellt, dass man die Ereignisse aus dieser Perspektive miterlebt.

Im Nachhinein scheint mir dieser Weg für das Verständnis des Johannesevangeliums offensichtlich. Johannes hat als letzter der Evangelisten selbst lange und tief über Jesus nachgedacht, was sich in seinen Schriften widerspiegelt. Das Meditieren ist deswegen ein geeigneter Weg, um Zugang zu den Schätzen dieses letzten Evangeliums zu finden.

Im Folgenden werde ich zunächst ein Beispiel für diese Art der Meditation geben (wenn auch aus einem anderen Evangelium), um das Konzept zu verdeutlichen. Ich werde das Geschehen vom Standpunkt mehrerer Teilnehmer aus betrachten. Dann werde ich einige meiner anfänglichen Gedanken während der Pilgerreise mitteilen, die sich mit der Schöpfung befassten. Sie führten mich zu Jesus und zum Johannesevangelium. In der nächsten Ausgabe werde ich einige Eindrücke von meiner „Pilgerreise“ in Johannes schildern.

Jesus heilt einen Gelähmten (Markus 2,1-10)

Er wurde von seinen Freunden (oder vielleicht Verwandten oder Nachbarn) zu Jesus gebracht. Sie hatten erfahren, dass Jesus Menschen heilte. Hier war eine Chance für ihren Freund, gesund zu werden. Wie aufregend, über diese Möglichkeit nachzudenken! Keine Frage, sie mussten hin.

Wir erfahren nicht, was der Gelähmte selbst darüber dachte. Es kann gut sein, dass er ihre Aufregung nicht teilte; an seiner Stelle wäre ich skeptisch. Später in der Geschichte wird uns gesagt, dass Jesus „ihren Glauben“ sah (Mk. 2,5). Wessen Glauben, und wie hat er ihn gesehen? Es muss sich auf den Glauben der vier Freunde beziehen. Sie zeigen ihren Glauben, indem sie sich große Mühe geben, den Gelähmten zu Jesus zu bringen. Der Gelähmte selbst ist passiv. Wenn er Glauben hat, bleibt dieser unsichtbar; gut möglich, dass seine Erwartung bei etwa null liegt.

Als die vier zu dem Haus kommen, in dem Jesus sich befindet, stehen sie vor einem Hindernis. Enttäuschung: Der Ort, an dem Jesus lehrt, ist so überfüllt, dass sie unmöglich zu ihm gelangen können. Sie schaffen es nicht einmal bis zur Tür. Vielleicht ist der Gelähmte darüber erleichtert, weil er von Anfang an Bedenken gegen das Vorhaben hatte. Doch die vier lassen sich nicht so leicht aufhalten. Sie überlegen sich einen Plan B. Wenn sie auf das Dach gelangen und eine Öffnung schaffen, können sie ihren Freund direkt vor Jesus herunterlassen.

Während Jesus lehrt, öffnet sich das Dach. Etwas Dreck fällt herunter. Dann wird ein Gelähmter, der auf einem Bett liegt, heruntergelassen. Die Jünger rollen mit den Augen. Sie sind verärgert über diese Unterbrechung; wie unpassend! Jesus, so stelle ich es mir vor, ist amüsiert; ihm gefällt, was er sieht. Der Gelähmte, so vermute ich, fühlt sich unwohl. Plötzlich steht er im Zentrum der Aufmerksamkeit, genau das, was er nicht will.

Dann spricht Jesus: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Die Freunde schauen sich an. Sie sind sich nicht sicher, was sie davon halten sollen.  Was heißt das? Was soll das? Es ist sicherlich nicht das, was sie erwartet haben.

Da es Jesus ist, der es sagt, müssen diese Worte den Nagel auf den Kopf treffen. Es ist das, was der Gelähmte braucht, mehr als Heilung. Die Aussage und die Ausstrahlung Jesu berühren ihn zutiefst. Der Gelähmte wähnt sich im Himmel. Er nimmt nicht mehr wahr, was um ihn herum vorgeht. Doch die Worte Jesu lösen Widerspruch aus.

Plötzlich ist die Atmosphäre angespannt. Einige der anwesenden Schriftgelehrten schauen auf, andere runzeln die Stirn oder beugen sich nach vorne. Hat er das wirklich gesagt? Ihre Körpersprache muss kaum zu übersehen gewesen sein. Dem Text zufolge nimmt Jesus in seinem Geist wahr, was sie denken, aber er braucht kaum übernatürliche Gaben, um zu wissen, was jetzt abgeht.

Jesus liefert den unumstößlichen Beweis, dass er über die Vollmacht zu einer solchen Aussage verfügt: Der Gelähmte steht auf und geht. Als die Menschen das sehen, geht die Menge bildlich gesprochen durch die Decke – in die umgekehrte Richtung zum Gelähmten.

Die Schriftgelehrten aber wollen es nicht wahrhaben. Ihre Version und Formulierung der Wahrheit ist ihnen wichtiger als die Wahrheit selbst. Sie sind nicht offen, Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, wie Jesus Recht haben könnte.

Von nun an wollen sie nur eins: Jesus als Betrüger und Verführer überführen.

Jesus provoziert starke und entgegengesetzte Reaktionen. Wie reagiere ich, wenn er meine Überzeugungen herausfordert und über den Haufen wirft?

Über die Schöpfung

Das obige ist ein Beispiel für die Art der Meditation, die uns auf der Via di Francesco begleitet hat. Sie ließ das Evangelium und Jesus für mich lebendig werden. Die Geschichten des Evangeliums haben sich noch nie so real angefühlt – als wäre ich dabei, mit Jesus und den Jüngern unterwegs.

Meine Meditation auf dem Pilgerweg begann jedoch mit der Schöpfung und der Natur um uns herum. Wir wanderten durch wunderschöne Wälder in den Bergen östlich von Florenz. Es war Mitte September und immer noch heiß. Ich realisierte, dass die Sonne die Quelle des Lebens ist, aber dass wir nicht in der Lage sind, die volle Kraft der Sonne zu ertragen. Wir waren dankbar für den Schatten.

Ähnlich ist es mit Gott. Um unseretwillen hält er sich zurück und verbirgt sich. Wir brauchen den Schatten. In gewissem Sinne ist die Schöpfung dieser Schatten. Sie ist ein Schutz, eine Decke, die Gott vor uns verbirgt und uns vor der Intensität der direkten und ungeschützten Offenbarung schützt.

Wenn der Wald dicht genug ist, sind wir nicht in der Lage, die Sonne direkt zu sehen. Wir sehen aber Flecken von Sonnenlicht auf dem Boden. In gleicher Weise sehen wir Gott nicht direkt, wir sehen aber Zeichen seiner Existenz. Dazu gehört das Übernatürliche in Form von Wundern.

Selbst an einem bewölkten Tag, an dem es keine Sonnenflecken auf dem Boden gibt, ist es immer noch hell. Wir wissen also, dass die Sonne existiert. So ist es auch mit Gott und der Schöpfung. Die Schöpfung verbirgt Gott und schützt uns vor der vollen Wirkung von Gottes Herrlichkeit und zeigt gleichzeitig schon nur durch ihre Existenz, auch ohne weitere Zeichen, dass Gott existiert. Gott verbirgt sich hinter dem Schirm der Schöpfung und gleichzeitig offenbart er sich durch sie.

In diesen ersten Tagen der Pilgerreise kam es mir so vor, als ob Gott ständig fragen würde: Kannst du mich sehen? Selbst die Felsen und Steine unter unseren Füßen, die uns halten und einen Platz zum Stehen oder einen Weg zum Gehen bieten, verbergen Gott und offenbaren ihn gleichzeitig, indem sie flüstern: Kannst du ihn sehen? Er hat uns gemacht, damit du gehen kannst!

Von der Schöpfung zu Jesus

Wie werden also Gott und seine Herrlichkeit offenbart? An diesem Punkt unserer Pilgerreise erkannte ich drei Ebenen:

1. Direkte Offenbarung von Gott. Das ist ein seltenes Ereignis. Mose und Elia erlebten es am Berg Horeb. Hesekiel, Jesaja, Daniel und Johannes (Offb. 4) sahen die Herrlichkeit Gottes in prophetischen Visionen. Das war es aber auch schon.

2. Zeichen und Wunder (einschließlich außergewöhnlichen Timings und besonderen Zufällen). Diese sind wie Flecken von Sonnenlicht auf dem Waldboden und in den Bäumen. Sie sind direkte Beweise für die Existenz Gottes und die Offenbarung seiner Herrlichkeit.

3. Die Schöpfung, die viel weniger direkt ist und mindestens ebenso stark verbirgt, wie sie offenbart.

Und dann fiel mir auf, dass Jesus dieses Schema vollständig durchbricht. Er funktioniert auf jeder Ebene, um Gottes Herrlichkeit zu offenbaren. Offensichtlich hat er Zeichen und Wunder bewirkt (Ebene 2). Er wurde Mensch und damit Teil dieser Schöpfung (Ebene 3). Aber er war weiterhin Gott, so sehr, dass er sagen konnte: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (Johannes 14,9). Er ist die direkte Offenbarung Gottes (Ebene 1).

Aber wie? Wie offenbart Jesus die Herrlichkeit Gottes direkt? Wir assoziieren Herrlichkeit oft mit Licht, Majestät und Glanz, aber mit einer Ausnahme (Mt. 17,2) strahlte Jesus kein Licht aus. Und ebenfalls mit einer Ausnahme (Johannes 18,6) warf er die Menschen nicht um, wie es Gottes Herrlichkeit im Alten Testament manchmal tat. Was ist also die Herrlichkeit, die Jesus sichtbar macht?

Es muss sich um Gottes Liebe und Akkommodation handeln. Durch Jesus ließ Gott sich herab auf unsere Ebene. Besonders in der Inkarnation und der Kreuzigung wird dies sichtbar. Er kommunizierte in einer Form, die wir erfassen und die wir ertragen können: Das Licht wurde so temperiert, dass es uns nicht blendet oder zerstört. Und durch das Kreuz demonstrierte er das Ausmaß seiner Liebe.

Wenn wir Gott kennenlernen wollen, können wir ihn nur durch Jesus erkennen.

Meine Meditation über die Schöpfung und Gottes Herrlichkeit führte mich also zum Johannesevangelium, das mit genau dieser Art von Sprache beginnt. Von da an wurde unsere Pilgerreise durch Italien zu einer Pilgerreise durch das Johannesevangelium. Mit anderen Worten, das Johannesevangelium übernahm die Führung. Mehr dazu in der nächsten Ausgabe.

Der Schlüssel zum Verständnis des Johannesevangeliums ist nicht Bibelstudium, sondern Bibelmeditation.

Literaturangaben

Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

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