Wie in der letzten Ausgabe beschrieben, wurde meine Pilgerreise durch Italien auf der Via di Francesco zu einer Pilgerreise durch das Johannesevangelium, wobei ich so etwas wie den ignatianischen Ansatz zur Bibelmeditation verwendete. Jesus lässt uns Gott erkennen; wie macht er das?
Ich gebe nur eine kleine Kostprobe. Damit möchte ich deinen Appetit anregen, damit du selbst über die Evangelien zu meditieren beginnst!
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST
Der Prolog (Johannes 1,1-18)
Einer der Unterschiede zwischen Johannes und den anderen Evangelien ist der Prolog in Johannes 1. Er ist nicht so sehr Teil der Geschichte als vielmehr eine Reflexion über deren tiefere Bedeutung. In diesem Abschnitt finden wir mehrere Schlüsselbegriffe, die sich im ganzen Buch wiederholen. Dazu gehören Leben, Licht und Herrlichkeit, aber auch die Wortgruppe Wort, Zeugnis und Wahrheit – Elemente, deren Ziel es ist, uns zum Glauben zu führen.
Und dann ist da noch das Wort Gnade. Sicherlich ist es ebenfalls ein Schlüsselbegriff für die Geschichte Jesu. Bemerkenswerterweise taucht es in Johannes nach den ersten 18 Versen nicht mehr auf. Doch seine wiederholte Verwendung am Ende des Prologs bildet einen Höhepunkt, in dem das Wesentliche von Jesus (und damit von Gott) Ausdruck findet:
Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit … Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt. (Joh. 1,14-18; Hervorhebung hinzugefügt)
Gleich zweimal verbindet Johannes die Gnade mit der Wahrheit. „Gnade und Wahrheit“ ist eine Formel, die hier als eine Zusammenfassung des Evangeliums funktioniert. In dieser Hinsicht funktioniert sie wie bei Paulus die Formel „Glaube, Hoffnung und Liebe“ (1. Korinther 13,13; 1. Thess. 1,3). Beide Formeln sind gleichzeitig praktisch. Gnade und Wahrheit: Danach kann man leben, die kann man auch weitergeben.
Zu beachten ist: Es heißt Gnade und Wahrheit, nicht Wahrheit und Gnade. Wir können die Reihenfolge nicht ändern, ohne die Bedeutung zu verändern. Bei Gott steht die Gnade immer an erster Stelle, so wie sie es auch in unserem Handeln tun sollte. (Natürlich tut Gott das, ohne jemals die Wahrheit zu verwässern oder zu kompromittieren; aber trotzdem ist die Reihenfolge wichtig).
Zurück zu Johannes. Wie funktioniert dieser Ausdruck in seinem Evangelium, wenn er nach 1,18 nicht wiederholt wird? So wie Jesus Gott in menschlicher Gestalt zeigt, so prägen Gnade und Wahrheit die Geschichten, die folgen. Die Geschichten zeigen Gnade und Wahrheit sozusagen im Fleisch (vgl. Joh. 1:14) und machen so Gottes Wesen sichtbar.
Das funktioniert so. Jesus hat für jeden, dem er begegnet, ein Wort der Wahrheit: Nathanael, Maria, Nikodemus, die Frau am Brunnen, die Menschenmenge in Kapitel 6, usw. Manchmal ist das Wort hart, manchmal ist es sanft. Aber es kommt immer in einer riesigen Dosis von Gnade verpackt. Jesus handelt immer aus Liebe, und begegnet jeder Person mit genau dem Wort der Wahrheit, das sie braucht – nicht mehr. Und nicht weniger.
So wird Gott bekannt gemacht. So ist er; so ist seine Herrlichkeit. Gnade und Wahrheit. Und das zeigt sich in jeder Begegnung mit Jesus. Zwei Beispiele.
Das Manna des Lebens (Johannes 6)
Die Speisung der Fünftausend durch Jesus ist das einzige Wunder (außer der Auferstehung), das in allen vier Evangelien vorkommt. Nur bei Johannes gibt es ein langes Nachspiel am nächsten Tag. Ein Teil der Menge kommt hinter ihm her – aber aus dem falschen Grund.
Ich habe diese Geschichte immer missverstanden. Ich dachte, Jesus tadelt die Menschen dafür, dass sie weitere Zeichen suchen; stattdessen sollten sie ihn suchen. Aber das ist nicht das, was Jesus sagt. Jesus ist klar: Ihr sucht mich nicht, weil ihr die Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr das Brot gegessen habt und satt geworden seid. Anstatt nach Nahrung zu suchen, sollten sie an ihn glauben.
An diesem Punkt bittet die Menge tatsächlich um ein Zeichen, damit sie glauben können (Johannes 6,30). Allerdings fügen sie einen klaren Hinweis hinzu, was für ein Zeichen sie wollen. Jesus hat recht. Sie wollen Brot: Unsere Väter haben in der Wüste das Manna gegessen, Brot vom Himmel. Mit anderen Worten: Mach den Manna-Wunder noch einmal, und wir werden an dich glauben (zumindest für einen weiteren Tag, solange das Brot reicht).
Aber Jesus hat ihnen in Form der gestrigen wunderbaren Mahlzeit Gnade gezeigt; jetzt wird er ihnen Wahrheit geben. Sie müssen das wahre Brot, das vom Himmel kommt, essen. Er ist dieses Brot, das Brot des Lebens. Sie müssen sein Fleisch essen und sein Blut trinken (eine durchaus abstoßende Vorstellung). Die Brotvermehrung ist mehr als ein Wunder; sie beweist nicht nur die überlegene Macht und den Status Jesu. Sie ist ein Zeichen: Sie weist auf etwas hin (oder besser gesagt, auf jemanden, nämlich Jesus), und sie will etwas mitteilen. Das alles, die Bedeutung des Zeichens, versucht Jesus ihnen jetzt klar zu machen.
Dabei wird deutlich, dass Jesus eine Parallele zieht zwischen der Speisung vom Vortag und der Versorgung mit Manna in der Wüste. Das Manna ist ein Typus, ein Schattenbild aus dem AT, und die Vermehrung des Brotes ist ein Zeichen, das das Manna mit Jesus verbindet. Das Volk Israel war 40 Jahre lang auf die tägliche Versorgung durch Gott angewiesen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dies sollte auf das wahre Brot hinweisen, das uns bis zum ewigen Leben erhält. Sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken bedeutet, an Christus teilzuhaben, ihn zu „essen“, an ihn zu glauben, ihn uns zu eigen zu machen – täglich, wenn wir wollen, dass unser Leben jene himmlische, ewige Qualität der Fülle und des Überflusses hat, die im Johannesevangelium so hervorgehoben wird.
Das erinnert an die Einladung aus Jesaja 55: Kommt, esst und trinkt, ihr, die ihr kein Geld habt. In Jesaja 55 bedeutet essen und trinken hören und zuhören – damit die Seele leben kann. Letztlich ist Jesus das Brot und der Wein auf dem Tisch, von dem Jesaja spricht.
So zeigen sich Gnade und Wahrheit in Johannes 6. Zuerst Gnade, in Form eines gnädigen Mahls, ein Zeichen, das ihnen helfen will, das schwierige Konzept zu begreifen. Dann Wahrheit: Nicht Brot, sondern Jesus ist, was sie wirklich brauchen.
Petrus wiederhergestellt (Johannes 21)
Wenn wir zum letzten Kapitel von Johannes kommen, ist Jesus seinen Jüngern nach der Auferstehung schon zweimal erschienen. Sogar Thomas weiß und glaubt nun, dass Jesus wieder da ist. Aber was bedeutet das? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Auferstehung? Was sollen die Jünger jetzt tun? Das ist alles andere als klar; die Jünger müssen sich ahnungslos und ein wenig verloren vorgekommen sein.
Kapitel 21 findet sie in Galiläa. Petrus hat genug. Niemals einer, der einfach rumsitzt und still auf das wartet, was kommt, verkündet er den anderen, dass er auf den See hinausfährt, um zu fischen. Die anderen gehen mit, aber sie fangen nichts. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es sich gut anfühlt, endlich wieder etwas zu tun.
Als sie zum Ufer zurückkehren, ruft ein Mann ihnen zu, dass sie das Netz auf der rechten Seite des Schiffes auswerfen sollen. Als sie dies tun, fangen sie so viele Fische, dass sie Schwierigkeiten haben, den Fang an Land zu bringen. Der Verfasser des Evangeliums ist der erste, der Jesus erkennt: „Es ist der Herr!“ (Joh. 21,7). Impulsiv wirft Petrus sich über Bord und eilt zum Ufer, wo Jesus wartet (er hatte für seine Freunde ein Frühstück vorbereitet).
Es ist das erste Mal, dass Petrus nach seinem dreifachen Verrat mit Jesus allein ist. Was für ein schwieriger, unbequemer Moment. Petrus weiß nicht, was sagen. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Er muss sich furchtbar gefühlt haben.
Jesus wird sich dessen sehr wohl bewusst gewesen sein. Es ist offensichtlich. Ein großes Hindernis steht zwischen Petrus und ihm. In dem, was folgt, mag es scheinen, dass Jesus mit Petrus hart umgeht, als ob er Petrus nicht vom Haken lassen will, bis er sich dem ganzen Ausmaß seiner Leugnung Jesu gestellt hat. Aber in Wirklichkeit hilft Jesus ihm. Sicher, es ist schmerzhaft. Aber es löst das Problem.
Jesus spricht nicht direkt oder explizit über das, was geschehen ist. Er findet einen besseren, gnädigeren Weg, um eine Brücke zu Petrus zu bauen. Vielleicht versteht Petrus schon bei der ersten Frage die Verbindung zwischen seiner Verleugnung und dem, was Jesus fragt. Nach der zweiten Frage ist die Verbindung unübersehbar.
In der ersten Frage ist ein Element enthalten, das nur einmal vorkommt: „Hast du mich lieber, als mich diese haben?“ (Joh. 21,15). Zweifellos war das die Selbstwahrnehmung des Petrus, bevor er Jesus verleugnete: Er liebte Jesus mehr als die anderen. Aber nach dem, was passiert ist, weiß Petrus, dass er diesen Anspruch nicht aufrechterhalten kann. Beachten wir seine Antwort: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe“ (Joh. 21,15). Er bejaht den ersten Teil der Frage (hast du mich lieb), aber nicht den zweiten Teil (mehr als diese). Das unausgesprochene Eingeständnis genügt Jesus; er wiederholt dieses Element nicht.
Als Jesus die Frage ein drittes Mal stellt, fügt Petrus seiner Antwort etwas hinzu: „Herr, du weißt alle Dinge“ (Joh. 21,17). Es kommt einem Geständnis nahe. Implizit gibt Petrus zu: Herr, du weißt, was geschehen ist; und du weißt, dass ich dich lieben will, auch wenn ich es nicht besser hinkriege.
Jedes Mal, wenn Petrus die Frage beantwortet, wiederholt Jesus den Auftrag des Petrus. Durch diese Prozedur wird Petrus vollständig wiederhergestellt und wieder in sein Apostelamt eingesetzt. Das Hindernis, das da war, ist weg. Es wird nie wieder eine Rolle spielen. Eine Last ist von seinen Schultern genommen worden. Er kann Jesus wieder in die Augen sehen.
Die Wahrheit wird nicht kompromittiert. Nichts wird unter den Teppich gekehrt. Sowohl Petrus als auch Jesus wissen genau, worum es geht. Aber Jesus hat einen Weg gefunden, das zu tun, wozu Petrus nicht in der Lage ist. Es ist Wahrheit. Aber es ist vor allem Gnade. So ist Jesus.
Literaturangaben
Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)