Hesekiels letzte Vision

Es ist einer der seltsamsten Abschnitte des Alten Testaments in einem ohnehin merkwürdigen Buch: Hesekiel 40-48. 14 Jahre nach Beginn des babylonischen Exils, nach 12 Jahren, erhielt Hesekiel eine weitere und letzte Vision. Zwei Jahre später sollte er zwar nochmals eine kurze Prophetie erhalten (Hes. 29,17-21). Diese frühere Vision ist jedoch viel umfangreicher (neun Kapitel) und steht am Ende des Buches; sie bildet das große Finale des Hesekiel.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST

Die Vision enthält drei Hauptelemente:

  • Der Prophet wird Zeuge der Vermessung eines Tempels. Anschließend sieht er, wie Gott in diesen Tempel einzieht.
  • Er erhält Anweisungen für die Priester, den Fürsten (nicht den König), die Leviten und das Volk; diese befassen sich hauptsächlich mit dem Opferkult und den Festen. Sie weichen erheblich ab von vergleichbaren Vorschriften in der Thora, den fünf Büchern Mose.
  • Es wird eine Neuaufteilung des Landes Israel beschrieben (Hes. 45,1-8; 47,13-48,35). Dazu gehört ein heiliger Bezirk von 25.000 mal 20.000 Ellen, zur Hälfte für den Tempel und zur Hälfte für die Leviten. Südlich davon befindet sich ein Bezirk für die Stadt (ohne Namen) mit einer Größe von 25.000 mal 5.000 Ellen. Insgesamt handelt es sich somit um ein Quadrat (Hes. 45,1-6). Das Land östlich und westlich von diesem Quadrat ist Eigentum des Fürsten (Hes. 45,7f).

Was bedeutet diese Vision?

Ein zweites merkwürdiges Buch

Was mich dazu brachte, über diese Vision nachzudenken, ist ein weiteres merkwürdiges Buch: Ezekiel‘s Hope: A Commentary on Ezekiel 38-48 von Jacob Milgrom (2012). Milgrom ist vor allem für seinen dreibändigen (!) Kommentar zum Buch Levitikus (3. Mose) bekannt. Gegen Ende seines Lebens wandte er sich den letzten Kapiteln von Hesekiel zu.

Leider verstarb Milgrom, bevor er seine Studie abschließen konnte. Sie wurde nach seinem Tod von Daniel I. Block veröffentlicht, der für seinen umfangreichen Kommentar zu Hesekiel bekannt. Manche Abschnitte sind kaum mehr als Notizen. Andere Teile gehen tief ins Detail; die meisten von uns, so vermute ich, wollen es so genau gar nicht wissen. Es ist kein Buch zum Lesen.

Aber das Buch hat mir eine neue Wertschätzung für diese so überraschende Vision gegeben. Befremdend wirkt sie unter anderem, weil sie so offensichtlich von der Thora abweicht. Wie ist es möglich, dass ein Prophet JHWHs scheinbar mit der vorhergehenden Offenbarung Gottes so stark in Widerspruch steht?

Angeblich verbrannte Rabbi Hananja ben Hiskia 300 Fässer Öl für seine Lampe in seinem Bemühen, Mose und Hesekiel in Einklang zu bringen. Milgrom ging es nicht darum, zu harmonisieren, sondern zu verstehen. Warum die Unterschiede? Was ist die Botschaft?

Ich bin noch bei meinem Versuch, das alles zu verstehen, und kann daher nur einen sehr unvollständigen Bericht abgeben. Ich würde ohnehin jede klare und sichere Interpretation von Hesekiels Tempelvision (bestimmte Endzeitbücher kommen mir in den Sinn) grundsätzlich in Frage stellen; wahrscheinlich wurden die Schwierigkeiten nicht einmal wahrgenommen. Was folgt, ist ein vorsichtiger Versuch, nicht eine endgültige Erklärung.

Merkwürdigkeiten in Hesekiel

  • Auffallend ist das Fehlen vertrauter Gegenstände. Es scheint keine Bundeslade zu geben. Tatsächlich ist von der vertrauten Tempelausstattung nur noch der Brandopferaltar vorhanden. Es gibt keinen Hohepriester.
  • Und es gibt auch keinen König. Oder um genauer zu sein: Der Herrscher Israels wird nicht als König bezeichnet. Es wird ein anderer Begriff verwendet, der oft mit Fürst übersetzt wird. Das kommt einer Degradierung des Herrschers gleich. Nun, die Könige Israels haben dies wohl verdient.
  • Die detaillierten Vorschriften für Opfer und das dazugehörige Speisopfer und das Öl unterscheiden sich fast durchweg von den Angaben in 3. und 4. Mose. Das Trankopfer wird zwar einmal erwähnt (Hes. 45,17), es gibt aber keine spezifischen Anweisungen.
  • Von den Festen werden nur Passah, Neumond und Sabbat erwähnt. Auf das Laubhüttenfest wird in einem einzigen Vers (Hes. 45,25) Bezug genommen, ohne es bei Namen zu nennen.
  • Es wird noch merkwürdiger. Das Passahfest enthält mehrere Merkmale des Versöhnungstages. Milgrom argumentiert, dass Hesekiel diese beiden tatsächlich zu einem Anlass verbunden hat (2012: 198-206; siehe insbesondere Hes. 45,18-24).
  • Die Neuverteilung des Landes und die Einrichtung eines heiligen Bezirks bedeuten, dass der Tempel sich außerhalb der Stadt befindet, auf einem „sehr hohen Berg“ (Hes. 40,2; 43,12).
  • Nach Hesekiel 44,11-14 bewachen die Leviten die Tore. Sie schlachten auch die Opfer, die vom Volk gebracht werden (was in 3. Mose das Volk selbst tut). Im zweiten, inneren Vorhof sind nur Priester der Linie Zadok zugelassen (Hes. 44,15f). All dies ist eine Folge des Verhaltens dieser Gruppen vor dem Exil.
  • Der Brandopferaltar steht genau in der Mitte der Tempelanlage (angenommen, er steht in der Mitte des Innenhofs).

Die Botschaft

Was sollten wir von dieser Vision Hesekiels halten? Eine Sache ist klar. Die Vision als Ganzes zeigt, dass Gott nicht aufgibt; es gibt eine Zukunft. Wie Milgroms Buchtitel deutlich macht, geht es hier um Hesekiels Hoffnung für sein Volk.

In Milgroms Notizen gibt es noch viel mehr als die oben aufgeführten Merkwürdigkeiten und Unterschiede. Er gräbt tief, um Hesekiel mit seinen Parallelen in 3. und 4. Mose zu vergleichen und Erklärungen dafür zu finden, warum Hesekiel sich von Mose unterscheidet.

Eine wichtige Beobachtung dabei ist das ausdrücklich erwähnte Ziel der Vision, am deutlichsten formuliert in Hesekiel 43,10f:

Und du, Menschenkind, beschreibe dem Haus Israel den Tempel, sein Aussehen und seinen Plan, damit sie sich schämen ihrer Missetaten. Und wenn sie sich all dessen schämen, was sie getan haben, so zeige ihnen Plan und Gestalt des Tempels und seine Ausgänge und Eingänge und seinen ganzen Plan und alle seine Ordnungen und alle seine Gesetze. Schreibe sie vor ihren Augen auf, damit sie auf seinen ganzen Plan und alle seine Ordnungen achthaben und danach tun. (vergl. Hes. 44,6-14; 45,8f)

Der detaillierte Plan des Tempels und der reformierte Kult sollen Scham und Reue bewirken. In diesen Kapiteln finden sich immer wieder Zurechtweisung und Korrektur. Sie begründen eine Reihe von Änderungen, die zu einer verstärkten Abtrennung des Heiligen beitragen. Hesekiel verschärft die Vorschriften, die die Heiligkeit und Reinheit des Tempels und seiner Priester sichern sollen. Die Priester sind fast vollständig vom einfachen Volk getrennt. Der Königspalast grenzt nicht mehr an den Tempelbezirk. Der Tempel befindet sich nicht mehr innerhalb der Stadtmauern. Der Innenhof ist sowohl für das einfache Volk als auch für die Leviten unzugänglich.

Der Text spricht zwar von „achthaben“ und „danach tun“ (Hes. 43,11). Man könnte natürlich argumentieren, dass dies alles wörtlich zu nehmen ist und sich in ferner Zukunft erfüllen wird – in einem heute noch nichtexistierenden Tempel. Das ist aber unwahrscheinlich. Es passt schlecht zum NT. Es passt überhaupt nicht zum Hebräerbrief, der keine Notwendigkeit mehr für einen solchen Kult sieht, und zu der Vision des Johannes, die zwar von einer Stadt Gottes weiß, aber nicht von einem Tempel in ihr oder in ihrer Nähe (Offb. 21,22). Wahrscheinlicher ist die Erklärung, dass Hesekiel eine ideale Zukunft darstellt, wie ein Priester sich diese vorstellen würde. Dabei werden Lektionen aus dem prä-exilischen Versagen gezogen – damit das Volk sich bessern kann.

Schließlich richtet sich die Vision nicht an eine Generation in ferner Zukunft, sondern an die Zeitgenossen Hesekiels. Ihnen will er den Tempel beschreiben, und sie sollen sich schämen und die neuen Gesetze befolgen. Ohne einen Tempel konnten sie dies unmöglich im wörtlichen Sinne tun.

Auch als Christen sind wir aufgerufen, die Pläne und Gesetze zu betrachten und uns von ihnen leiten zu lassen – aber nicht im wörtlichen Sinne.

Gleichzeitig ist die Verschärfung des levitischen Heiligkeitsverständnisses in Hesekiel kaum geeignet, wahre Heiligkeit hervorzubringen. Die verstärkte Trennung macht den Zweck der Beziehung und der Gemeinschaft zwischen Volk und Gott zunichte. Genau genommen taugt das neue Gesetz kaum als Lösung, sondern macht eher das Problem noch offensichtlicher.

Mit all dem bereitet Hesekiel den Boden für die echte Lösung, die im Neuen Testament offenbart wird. In Hesekiels Tempelvision blieb nur ein Kultgegenstand übrig: der Altar, auf dem die Sühne vollzogen wird. Er steht nun in der Mitte. Außerdem werden das Passahfest und der Versöhnungstag zusammengezogen, wodurch die Vorstellungen von Erlösung und Befreiung mit Stellvertretung und Reinigung verbunden werden. All dies weist auf das hin, was Jesus am Kreuz vollbringt: die perfekte Version von Hesekiels verbesserter, aber immer noch unzureichender Antwort auf das beständige Versagen Israels – und der Menschheit.

Obwohl Jesus wörtlich genommen ganz anders aussieht als das, was Hesekiel beschreibt, ist er der wahre Tempel und das wahre Priestertum, das Himmel und Erde, Gott und die Menschheit wieder zusammenführt.

Bildnachweis

Golasso. 2005. „The Western Wall“ <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Westernwall2.jpg> [accessed 17 January 2022] CC BY-SA 4.0

Wim van ‘t Einde. 2021 <https://unsplash.com/photos/qS_lvnUllpY> [accessed 17 January 2022] CC0

Literaturangaben

Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

Block, Daniel Isaac. 1997. The Book of Ezekiel: Chapters 1-24, The New International Commentary on the Old Testament (Grand Rapids, MI: Eerdmans)

———. 2007. The Book of Ezekiel: Chapters 25-48, The New International Commentary on the Old Testament (Grand Rapids, MI: Eerdmans)

Milgrom, Jacob. 2012. Ezekiel’s Hope: A Commentary on Ezekiel 38-48 (Eugene, OR: Cascade Books)

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