Nahum: Rache und Vergeltung?

Ich werde keine Namen nennen (zumindest keine modernen); ich bin sicher, dass jeder erkennt, worum es hier geht. Ursprünglich hatte ich vor, das Thema der Sühne wieder aufzugreifen, aber auf Grund der Ereignisse verschiebe ich dieses Thema auf nächstes Mal. Stattdessen schreibe ich über eine alttestamentliche Prophetie gegen ein anderes Volk als Israel. Ich trage meine Gedanken mit Bedacht, vorsichtig, vor, nicht als letztes Wort. Sie sind Teil meines Ringens mit den biblischen Aussagen über Gottes Gerechtigkeit in der Welt.

Jeder der drei großen Prophetenbücher enthält einen längeren Abschnitt mit solchen Prophetien gegen andere Völker. Einige kleinere Prophetenbücher bestehen gänzlich aus einem solchen prophetischen Wort. Ich habe immer ein wenig damit zu kämpfen gehabt, die Relevanz solcher Prophezeiungen für uns heute zu erkennen. Aber im Lichte der aktuellen Ereignisse beginnen sie für mich mehr Sinn zu ergeben.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST

Gerechtigkeit und Vergeltung

Als ich über die Situation in der Welt betete, fragte ich mich, ob das Folgende eine wahre Aussage oder vielleicht sogar ein prophetisches Wort für heute sein könnte: Was du der Stadt ABC antust, das wird auch deiner Stadt angetan werden.

Ein Prinzip der Rache oder Vergeltung. Wäre das gerecht? Wenn Nation X die Stadt oder die Städte von Nation Y in einem Akt der Aggression in Schutt und Asche legt, sollten wir dann erwarten, dass Nation X dasselbe widerfährt oder widerfahren könnte? Und wäre das gerecht?

Nehmen wir ein historisches Beispiel: Nazi-Deutschland. Im Mai 1940 bombardierte es das Stadtzentrum von Rotterdam, um eine schnelle Kapitulation der niederländischen Armee zu erzwingen. Später im selben Jahr begann die Schlacht um Großbritannien (Battle of Britain), in deren Verlauf London und andere britische Städte bombardiert wurden. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Am Ende des Krieges lagen auch deutsche Städte in einem noch nie dagewesenen Ausmaß in Schutt und Asche.

Die Geschichte ist chaotisch und folgt keinen klaren Linien oder gar Gesetzen, wie es die Natur tut. Aber könnte es nicht zumindest ein Prinzip oder eine Tendenz in diese Richtung geben? Und wäre dies Gerechtigkeit?

Kirchstrasse, Potsdam, 1945

Nahum: Rache an Ninive

Der Prophet Nahum beginnt damit, dass er genau ein solches Prinzip der Vergeltung postuliert:

Der HERR ist ein eifernder und vergeltender Gott, ja, ein Vergelter ist der HERR und zornig. Der HERR vergilt seinen Widersachern; er wird es seinen Feinden nicht vergessen. (Nah. 1,2)

Die Selbstoffenbarung Gottes in Exodus 34, eine enorm wichtige Aussage im Alten Testament, die oft zitiert wird, ist ebenfalls Teil der theologischen Grundlage Nahums:

HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied! (2. Mose 34,6f)

Ironischerweise zitiert Nahum nur einen Teil der ursprünglichen, eher Gnade-betonten Aussage und setzt damit den Akzent entschieden anders:

Der HERR ist geduldig und von großer Kraft, vor dem niemand unschuldig ist. (Nah. 1,3a)

Es ist jedoch bemerkenswert, dass die Spannung zwischen Vergebung und Vergeltung bereits in der ursprünglichen Offenbarung an Mose am Berg Horeb vorhanden ist. Wie kann Gott gleichzeitig vergeben und nicht ungestraft lassen? (Womit wir wieder beim Thema der Sühne wären; nächstes Mal!)

In Nahum 2 und 3 erhalten wir eine ausführliche Beschreibung des endgültigen Sturms auf Ninive, die vermutlich auf einer Vision beruht (Nah. 1,1). In diesen beiden Kapiteln werden auch manche der Gründe für das wohlverdiente Urteil genannt. Die Ausgabe über Sennacherib und die in Stein gemeißelten Abbildungen der Belagerung von Lachisch vermitteln einen Eindruck der unerbittlichen Grausamkeit der Assyrer. Oder wir lesen einfach Nahum; dann wissen wir es auch.

Aber das theologische Fundament wird in Nahum 1 gelegt: das Wesen Gottes.

Das Gericht über Ninive wird wörtlich als gute Nachricht (Evangelium) präsentiert – für Juda, das die assyrische Unterdrückung nicht länger hinnehmen muss (Nah. 1,15). Gott zerbricht dieses Joch (Nah. 1,13).

Assyrian soldiers, skinning captives alive. (c) The Trustees of the British Museum, CC BY-NC-SA 4.0

Amos: Maßstab und Völkerrecht

Es stellt sich die Frage, nach welchen Maßstäben der Gerechtigkeit die Völker in alttestamentlicher Zeit zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Für Israel war der Maßstab klar. Die Propheten prangerten Israel an, weil es die Gebote des Gesetzes brach und seinem Gott untreu war. Aber das galt nicht für andere Völker. JHWH war nicht ihr Gott, und sie standen nicht unter dem mosaischen Bund.

Amos macht deutlich, dass es dennoch Maßstäbe der Gerechtigkeit gibt, für die Gott die Völker zur Verantwortung zieht. Diese Maßstäbe haben viel damit zu tun, wie die Bevölkerung eroberter Städte und Gebiete behandelt wird, wie in Amos 1f sichtbar wird.

Amos standen keine unserer Begriffe zur Verfügung, wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genfer Konventionen und Völkermord. Aber er vertritt bemerkenswert ähnliche Gerechtigkeitskriterien.

Mit seiner Auffassung vom Völkerrecht ist Amos seiner Zeit um mehr als zweieinhalb Jahrtausende voraus.

Babylon: Symbol des Bösen in der Welt

Es scheint also, dass es in der Bibel Grundsätze der internationalen Gerechtigkeit gibt – wörtlich inter-national, zwischen-staatlich. Gewalttätige Handlungen gegen unbewaffnete Zivilisten zum Beispiel sind falsch. Und die Propheten rufen Gott dazu auf, für solche Taten Vergeltung zu üben. Wenn man sich Assyrien und Babylon ansieht, scheint es, dass er das getan hat. Letzten Endes. Obwohl der Grundsatz in vielen anderen Fällen anscheinend nicht eingehalten wurde.

Aber das ist das AT. Wie ändert sich dies im NT? Und was ist mit der inkonsequenten Anwendung? Ich sehe drei entscheidende Punkte, die es zu beachten gilt.

Erstens geht es Gott nicht um einzelne Menschen, die selbst in den Systemen des Bösen gefangen sind; im Gegenteil, er möchte sie vielmehr vor diesem Bösen retten. Sogar im Fall von Ninive konnten viele der Einwohner entkommen: „Dein Volk wird auf den Bergen zerstreut sein, und niemand wird sie sammeln“ (Nah. 3,18). Das Weltreich war verschwunden, nicht die Menschen.

Zweitens werden die Merkmale dieser alten Reiche komprimiert und übertragen; sie werden zu einem Symbol, das weitgehend in einem Namen zusammengefasst ist: Babylon – keine reale Stadt, sondern ein System des Bösen. Auch wenn zur Zeit der Abfassung des Neuen Testaments Babylon hauptsächlich von einer Stadt, nämlich Rom, verkörpert wurde, so ist doch klar, dass nicht ganz Rom ganz Babylon war. Das Symbol ist viel größer als eine einzelne Stadt oder ein einzelnes Reich.

Drittens wird das Gericht weitgehend, wenn auch nicht vollständig, aufgeschoben: Es gibt einen eschatologischen Tag der Abrechnung. Und manchmal überholt das Urteil die Übeltäter sogar schon vor diesem Tag. Aber wenn nicht, aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Wer Städte in Schutt und Asche legt, muss damit rechnen, dass auch seine Stadt oder seine Städte in Schutt und Asche gelegt werden könnten, auch wenn das keine Gewissheit ist. Ich hoffe sehr, dass es so weit nicht kommen wird. Aber es könnte sein.

Diese Prophezeiungen sagen uns nicht, was geschehen wird, sondern was geschehen kann. Gott wird auf die eine oder andere Weise, ob früher oder später, mit dem Bösen abrechnen und die volle Gerechtigkeit wiederherstellen. Ich möchte nicht auf der falschen Seite dieser Gerechtigkeit stehen.

In der Zwischenzeit halten wir uns an die letzte Zeile des Vaterunsers: „Dein ist das Reich (d. h. die Regierungsgewalt) und die Kraft und die Herrlichkeit“.

Das Ende des Gebetes hat mich immer etwas verwirrt. Ist es eine willkürliche Dreiergruppe, ein paar schöne Worte zum Schluss? Nein. Ich beginne zu verstehen, was für ein tröstliches Bekenntnis es ist.

Unter anderem wird so klar, warum eine der ersten Zeilen im Gebet, „Dein Reich komme“, kein leerer Wunsch ist. Das Reich, die Herrschaft, gehört ihm bereits, und er hat die Macht, sich durchzusetzen. Zu seiner Zeit.

Babylon. Ninive. Nation X. Stadt Y. Es lohnt sich, in einer Zeit wie dieser das Buch Nahum zu lesen. Und zu beten.

Max Bauer, Ruinen Nikolaikirche, Potsdam, 1945. CC BY-SA 3.0

Bildnachweis

MabelAmber. 2018 <https://pixabay.com/de/photos/europa-l%c3%a4nder-karte-kontinent-3483539/> CC0

‘Kirchstraße in Potsdam nach dem Luftangriff im Jahr 1945’ <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kirchstr_Potsdam_1945.jpg> [accessed 7 March 2022] CC0 1.0

The Trustees of the British Museum <https://www.britishmuseum.org/collection/object/W_1856-0909-14_4> [accessed 8 March 2022] CC BY-NC-SA 4.0

Max Bauer. ‘Potsdam, Nikolaikirche’ Bundesarchiv, Bild 170-373 <https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Bundesarchiv_Bild_170-373,_Potsdam,_Nikolaikirche.jpg> [accessed 7 March 2022] CC-BY-SA 3.0

Literaturangaben

Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

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