Unser Vater im Himmel

Für die Konferenz unserer Bibelschulmitarbeiter in JMEM Europa im letzten Monat habe ich eine Bibelmeditation vorbereitet. Ich habe sie gleichzeitig so gestaltet, dass wir die grundlegenden Schritte des induktiven Bibelstudiums geübt haben. Im Mittelpunkt stand eine vertraute Bibelstelle, die viele von uns sogar auswendig kennen. Ich war erstaunt, wie viel es noch zu entdecken gab, indem wir ganz einfache Beobachtungen (Schritt 1) und Auslegung (Schritt 2) als Vorbereitung für die Anwendung (Schritt 3) machten.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST und als AUDIO PODCAST

Die Bibelstelle, um die es ging, ist das Vaterunser aus dem Matthäus-Evangelium:

Unser Vater im Himmel!

Dein Name werde geheiligt.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

[Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.] (Mt. 6,9-13; für die letzte Zeile vergleiche 1. Chron. 29,11)

Wie du siehst, habe ich den Text Zeile für Zeile angeordnet. Die erste Zeile besteht aus der Anrede, die angibt, zu wem gesprochen wird. Es folgen sieben Bitten, die jeweils durch einen Imperativ gekennzeichnet sind, die Form des Verbs, die dem Angesprochenen sagt, was er tun soll. Dann folgt eine abschließende Zeile. Da sie mit „denn“ beginnt, gibt sie eine Begründung oder erklärende Hintergrundinformationen für das, was zuvor gesagt wurde.

Ich habe die letzte Zeile in eckige Klammern gesetzt. Obwohl sie sehr alt ist und immer mitgebetet wird, wenn das Vaterunser im Gottesdienst usw. gesprochen wird, machen die Handschriftenbelege deutlich, dass sie nicht Teil des ursprünglichen Textes ist. Allerdings schlossen alte jüdischen Gebete in der Regel mit einer Doxologie, einer Lobpreisung Gottes (vom Griechischen doxa, Herrlichkeit). Ähnlich wie wir das hebräische Wort Amen am Ende eines Gebets erwarten, hätten die Urchristen eine Art Doxologie als Abschluss erwartet. Tatsächlich endet das Vaterunser bereits in der Didache, einem antiken christlichen Text, der wahrscheinlich vor dem Ende des ersten Jahrhunderts verfasst wurde, mit einer Zeile, die fast identisch ist mit der, die wir so gut kennen; nur das Reich fehlt: „Denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“

Da diese letzte Zeile normalerweise mitgesprochen wird, habe ich sie für die Übung behalten.

Ein paar Beobachtungen

Die Abbildung zeigt, wie ich Beobachtungen im Text markiert habe. Ein paar Anmerkungen dazu. Die häufigste Wiederholung ist die der Pronomen. Wir fangen mit dem Wort unser an; die Wortgruppe wir/uns/unser kommt neunmal vor. Dein kommt viermal vor, in jeder der ersten drei Bitten und in der Schlusszeile.

Ich habe weitere Wörter markiert, zum Teil, weil sie wiederholt werden, zum Teil, weil ihre Bedeutung nicht sofort klar ist.

Wichtig ist auch, was ich weggelassen habe: den Kontext! Dies ist übrigens eine der schwierigsten Beobachtungen, die man machen kann: zu sehen, was fehlt. Jesus hat dieses Gebet als Teil einer längeren Rede vorgetragen. Und in Matthäus 6,14f. fügte er eine wichtige Klarstellung in Bezug auf das Thema Vergebung im Vers 12 hinzu. Ich habe dieses Material nicht in die Übung aufgenommen, einfach nur, um sie überschaubar zu halten, und auch weil der Gebrauch des Gebets im Gottesdienst diesen Kontext ignoriert. Damit klammere ich zugegebenermaßen wesentliche Fragen aus.

Auslegung 1: Bedeutung

Pronomen. Auch in der Auslegung möchte ich mit den Pronomen beginnen. Schon mit dem ersten Wort und auch weiterhin macht uns das Gebet zum Teil einer Gemeinschaft. Wir beten es gemeinsam mit allen Gläubigen und für alle Gläubigen, niemals nur für uns selbst. In diesem Gebet gibt es kein „Ich“. Was wir in den Bitten 4 bis 7 erbitten, erbitten wir für uns alle.

Gott zuerst. Obwohl der Text in der Übersetzung mit „unser“ beginnt, lautet das erste Wort im Griechischen „Vater“ (daher auch die sehr wörtliche Übersetzung und Bezeichnung „Vaterunser“). Wie wir schon festgestellt haben, geht es in den ersten drei Bitten um Gott. Seine Anliegen haben Vorrang. Unsere Bedürfnisse stehen an zweiter Stelle; sie sind das Thema ab der vierten Bitte.

Vielleicht geht es dabei nicht so sehr darum, wessen „Bedürfnisse“ Vorrang haben, sondern um die Perspektive: eine himmlische, nicht eine irdische; wir sollten die Dinge aus Gottes und nicht aus unserer Perspektive betrachten. Damit verbunden gibt es eine Bewegung vom Himmel (wo Gott ist und herrscht) hinunter zur Erde.

Anrede. Die Anrede ist wesentlich. Wenn Gott unser Vater ist, können wir erwarten, dass er für unsere Bitten offen ist. Wenn Gott im Himmel ist, ist er in der Lage, etwas für uns zu tun.

Reich. Es sind einige Bedeutungsfragen zu klären. Reich kann eine statische Bedeutung haben; dann bezieht es sich auf ein Gebiet, ein Territorium. Allerdings wird hier gebetet, dass das Reich kommen soll. Das passt nicht zu einem Gebiet. Das Wort muss hier daher seine dynamische Bedeutung haben: die königliche Handlung des Herrschens oder die Ausübung der königlichen Macht – kurz Herrschaft.

So verstanden, unterscheidet sich die Bedeutung nicht allzu sehr von der nächsten Zeile: “Dein Wille geschehe“. Wie wir gleich sehen werden, ist die vorhergehende Zeile in ihrer Bedeutung ebenfalls ähnlich. In jeder dieser drei Bitten kommt ein gleichartiger Gedanke zum Ausdruck. Sie sind zwar keine Synonyme, aber sie liegen in ihrer Bedeutung nahe beieinander und überschneiden sich. Das sorgt für eine starke Betonung: Der Name, die Herrschaft und der Wille Gottes haben Vorrang und müssen sich durchsetzen (vergleiche Mt. 6,33).

Dies ist der Rahmen, in dem andere Bitten, wenn sie berechtigt sind, ihren Platz finden können: sein Name (oder Charakter; deswegen sind seine Maßstäbe zu beachten), seine Herrschaft (auf der Grundlage der Gerechtigkeit, die wir in unserem Gebet und Praxis ebenfalls beachten sollten) und sein Wille.

Geheiligt. Aber was bedeutet es, zu beten: „Dein Name werde geheiligt“? Heiligen bedeutet normalerweise heilig machen. Aber wir können den Namen Gottes nicht heiliger machen, als er ohnehin schon ist. Es könnte ein Gebet sein, dass der Name Gottes als heilig behandelt werden soll, indem die Menschen auf der Erde ihr Leben nach dem Namen und dem Charakter Gottes ausrichten. Die Bedeutung kann auch sein, dass sich sein Name auf der Erde als heilig zeigen soll, dass der Name durch Gottes Eingreifen als heilig manifestiert und erkennbar gemacht werden soll (Jes. 29,23).

Diese erste Bitte ist in ihrer Bedeutung der zweiten und der dritten Bitte sehr nahe. Bestätigung für diese Auslegung findet sich im Buch Hesekiel, wo der Prophet wiederholt davon spricht, dass Gott sich durch seine Taten als heilig erweisen will (Hesek. 20,41; 36,23; 38,16, 23; 39,27).

Täglich. Es ist in der Übersetzung nicht sichtbar, aber das griechische Wort für „täglich“ ist ein ungewöhnliches Wort, das im gesamten Neuen Testament nur zweimal verwendet wird (hier und in Lk. 11,3, die Parallele zu Mt. 6,11). Wahrscheinlich ist nicht täglich oder heute gemeint, sondern morgen. Es würde zweifellos den Stress verringern, den Tag mit bereits vorhandener Nahrung zu beginnen, anstatt ohne sie in den Tag zu gehen und zu hoffen, dass sie kommt: Gib uns heute schon, was wir für morgen brauchen.

Die Bitte lässt sich auf andere Bedürfnisse ausdehnen; sie beschränkt sich nicht auf Brot.

Auslegung 2: Verständnis

Eschatologisch? Manchmal wird „dein Reich komme“ eschatologisch verstanden: als ein Gebet für die Wiederkunft Christi. Dieses Verständnis ist relativ neu. Es beruht auf der Annahme, dass Jesus das Ende in – für ihn – nächster Zukunft erwartete und seine Jünger lehrte, dafür zu beten. Seine Naherwartung erwies sich aber mit der Zeit als schlichtweg falsch. Im unmittelbaren Kontext macht es jedoch mehr Sinn, die Zeile als Bitte zu verstehen, dass Gott seine königliche Herrschaft vom Himmel aus in der Gegenwart ausüben soll, damit sein Wille auf der Erde geschieht, jetzt, unter den Umständen, in denen wir uns befinden – und nicht erst am Ende, nach seiner Wiederkunft.

Das macht natürlich einen großen Unterschied in unserer Anwendung des Textes und in unseren Gebeten. Wir beten nicht (nur) darum, dass Jesus endlich wiederkommt, ein Gebet, das seit fast 2000 Jahren nicht erhört wurde. Wir beten, dass Gottes Herrschaft hier und jetzt die Oberhand gewinnt.

Vergeben. Die vielleicht schwierigste Zeile des Gebetes ist auch die längste: Bitte 5. Das Problem ist nicht die Auslegung. Die Worte sind klar genug. Der Begriff Schuld muss hier eine Metapher sein, die eine moralische Schuld bezeichnet, da er mit Vergebung im Zusammenhang steht.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Bitte mit einer Bedingung einhergeht. Die Übersetzung stimmt hier nicht; im zweiten Teil der Zeile wird nicht das Präsens, sondern die Vergangenheitsform des Verbs verwendet (das einzige Mal im Gebet): „Wie auch wir unseren Schuldigern vergeben haben“. Seien wir ehrlich: Es fällt uns oft leichter, Gott zu bitten, seine Heiligkeit zu offenbaren und mit eiserner Hand zu regieren, in Feuer und Flammen, wenn nötig. Aber Vergebung ist Teil der Art und Weise, wie Gott seine königliche Herrschaft auf Erden errichtet. Wir sind aufgerufen, zu vergeben. Vorher, nicht erst nachdem wir unsere Bitten erhalten haben.

Zu beachten ist auch, dass Jesus in Matthäus 6,14f. näher auf diese Zeile eingeht. Vielleicht erwartet er, dass wir an diesem Punkt nach Ausnahmen oder nach einem Ausweg suchen werden. Oder vielleicht ist es Hinweis darauf, dass diese Bitte der Kern des Gebets ist. Das ist es, was Gott will. Das ist es, was seinen Namen heiligt. Das ist es, was das Reich Gottes auf die Erde bringt: wenn wir unseren Schuldigern vergeben.

Die Versuchung und das Böse. Die beiden abschließenden Bitten sind durch ein starkes Sondern verbunden. Anstelle des einen (führe uns in Versuchung) wird Gott gebeten, das andere zu tun (erlöse uns von dem Bösen). Diese beiden Zeilen sind nicht leicht zu verstehen; um was genau bitten wir?

Es gibt die offensichtliche Schwierigkeit, dass Gott uns in die Versuchung führen könnte. Vielleicht ist hier aber eine weiche oder schwache Form des Führens gemeint. Wenn Gott souverän ist, dann ist alles, was geschieht, in einem abgeschwächten Sinn sein Tun; schließlich hätte er es auch verhindern können. In diesem Fall könnte man es vielleicht so sagen: Bewahre uns vor der Versuchung und dem Bösen.

Das Böse ist das genaue Gegenteil und die Verneinung des Reiches und des Willens Gottes. Von dem Bösen zu erlösen ist daher verbunden mit dem Kommen des Reiches Gottes, denn seine Herrschaft und das Böse passen nicht zusammen; in Gottes Reich gibt es letztlich keinen Platz für das Böse.

Vielleicht soll die Kombination der Bitten 6 und 7 uns auch für das Vorhandensein oder zumindest das Potenzial des Bösen in uns selbst sensibilisieren; wir sollten es nicht zu schnell „irgendwo da draußen“, bei anderen, verorten und dabei unsere eigene Fähigkeit zu Bösem übersehen.

Nur zwei Kapitel zuvor hat sich Jesus der Versuchung gestellt und ihr standgehalten (Mt. 4,1-11). Das war eine Ausnahme. Kein Mensch vor ihm hat das geschafft. Während der 40 Jahre der Prüfung in der Wüste scheiterte Israel wiederholt und konsequent. Glauben wir wirklich, dass wir es besser machen können?

Es ist schockierend, wozu Menschen fähig sind, wenn sie sich in einem Umfeld wiederfinden, in dem Normen außer Kraft gesetzt sind, in dem das Böse als gut gilt und als solches anerkannt wird. Wir sollten unsere Fähigkeit zur Unterscheidung und zum Widerstand nicht überschätzen. Es ist besser, wenn wir uns nicht in Versuchung und Prüfung wiederfinden.

Ein letzter Punkt: Das Ziel des Gebetes ist die Befreiung vom Bösen – denn das ist eingeschlossen in den ersten drei Bitten, die positiv artikulieren, was in der siebten Bitte negativ formuliert wird.

Dein. Obwohl die letzte Zeile nicht zum Matthäusevangelium gehört, bildet sie einen sinnvollen Abschluss. Die Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf Gott (dein) und auf sein Reich. Da die Herrschaft, die Macht und die Herrlichkeit ihm bereits gehören, ist er voll und ganz in der Lage, die sieben Bitten zu erfüllen.

Anwendung: Beten wir!

Offenes Gebet. Bemerkenswert: Alle Bitten dieses Gebetes sind offen und daher anpassungsfähig für unterschiedliche Umstände, Kontexte und Bedürfnisse. Es ist eine großartige Vorlage für das Beten. Jede Zeile kann erweitert und im Gebet konkret ausgearbeitet werden. Ich habe es z.B. als ungeheuer hilfreich empfunden, um Zeile für Zeile für die Ukraine und für Russland zu beten (ja, auch für Russland; denken wir an Bitte 5).

Das Vaterunser ist exemplarisch, ein Leitfaden für das Gebet.

Bildnachweis

jclk8888. 2015 <https://pixabay.com/photos/bible-rosary-prayer-pray-holy-706662/> CC0

Literaturangaben

Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)

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