Hebräische Poesie ist ein Thema, das für unser Verständnis des Alten Testaments (AT) grundlegend wichtig ist. Es wird üblicherweise in den Bibelkursen von Jugend mit einer Mission (JMEM) behandelt, gewöhnlich in Verbindung mit einer Einführung in das Buch der Psalmen. Das AT enthält jedoch viel mehr Poesie als nur die Psalmen oder sogar den gesamten Abschnitt mit poetischen Büchern und Weisheitsliteratur in unseren Bibeln (Hiob bis Hohelied). Es gibt nur wenige alttestamentliche Bücher, die keine Poesie enthalten (mir fallen spontan ein: 3. Mose, Rut, Esra, Nehemia und Esther).
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In dieser Ausgabe werfe ich einen kurzen Blick auf einige der Merkmale der hebräischen Poesie.
Kurz, weil dies eine kurze Ausgabe sein wird; ich bereite mich darauf vor, meinen Unterricht über das Buch Offenbarung auf YouTube zu veröffentlichen. Ich hoffe, den ersten Teil, die Einheiten mit einer allgemeinen Einführung in das Buch, im nächsten Monat zu publizieren. Danach folgen Einheiten, die den Text behandeln. Deswegen fasse ich mich in diesem Monat kurz.
Es gibt aber etwas Neues, wenigstens für mich: eine faszinierende Eigenschaft der hebräischen Poesie, die ich vorher nicht kannte.
Zunächst zu einem Merkmal, das gut etabliert und bekannt ist.
Parallelismus
Es ist seit langem bekannt, dass die hebräische Dichtung dazu neigt, in einer zweiten Zeile zu wiederholen, was in der vorherigen Zeile gesagt wurde.
Höret, ihr Himmel,
und Erde, nimm zu Ohren,
…
Ein Ochse kennt seinen Herrn
und ein Esel (…) die Krippe seines Herrn;
aber Israel kennt’s nicht,
und mein Volk versteht’s nicht. (Jes. 1,2-3; (…) markiert eine Auslassung; Erklärung folgt)
Dieses Phänomen wird als synonymer Parallelismus bezeichnet. Statt von Wiederholung zu reden, wäre es genauer zu sagen, dass die Elemente der zweiten Zeile den Elementen der ersten Zeile in gewisser Weise entsprechen. Eine direkte Wiederholung oder Neuformulierung mit anderen Worten kann es geben, wie in dem eben genannten Beispiel. Der Dichter lässt sich dabei viel Freiheit.
Es ist zum Beispiel auch möglich, dass die entsprechenden Elemente Gegensätze bilden. Dies wird als antithetischer Parallelismus bezeichnet:
Des Weisen Herz ist zu seiner Rechten,
aber des Toren Herz ist zu seiner Linken. (Pred. 10,2)
Diese Form wird im Buch der Sprüche ausgiebig verwendet, insbesondere in Sprüche 10-15.
Es gibt jedoch viele Zeilen in der hebräischen Poesie, in denen es keine entsprechenden Elemente zu geben scheint. Diese Zeilen wurden ursprünglich unter der Kategorie des synthetischen Parallelismus zusammengefasst. Der Gedanke dahinter ist, dass die zweite Zeile die erste Zeile in irgendeiner Weise ergänzt, indem sie sie einen Schritt weiterführt, oft indem sie einen Grund oder ein Ziel angibt:
Ich schwitze,
weil ich schnell gelaufen bin.
Es gibt noch andere, weitaus weniger verbreitete Formen des Parallelismus, aber diese drei sind die Grundtypen.
Der synthetische Parallelismus als Kategorie ist stark in die Kritik geraten. Ist das wirklich Parallelismus? Was ist der Unterschied zu einem normalen Satz?
Ich schwitze, weil ich schnell gelaufen bin
Nach welchen Kriterien können wir überhaupt entscheiden, dass ein Text ohne klaren Parallelismus Poesie ist? Das Vorhandensein von Metaphern?
Die hebräische Poesie ist in der Tat reich an Metaphern, Vergleichen und anderen bildlichen Darstellungen. Ich nehme an, dass dies ein universelles Merkmal der Poesie ist. Da solche Redewendungen jedoch auch in der Prosa verwendet werden können, ist dies – anders als Parallelismus – kein sicheres Kriterium, um Poesie zu erkennen. Aber es gibt mindestens zwei weitere Kriterien.
Das erste ist der Kontext. Wenn ein Satz Teil eines Textes ist, der reich an synonymem Parallelismus ist, besteht eine gute Chance, dass er auch poetisch gemeint ist, selbst wenn er keine entsprechenden oder parallelen Elemente enthält.
Das zweite ist …
Knappheit
Seit etwa eineinhalb Jahren arbeite ich daran, mein Hebräisch zu verbessern. Das Wichtigste, was ich tue: Ich lese langsam durch den hebräischen Text des AT. Bis jetzt habe ich es von 1. Mose bis zum Anfang des Richterbuches geschafft. Es ist ein langsamer Prozess.
Im Moment beschränke ich mich auf die Bücher mit historischer Erzählung, und das nicht nur, weil diese Bücher am Anfang der Bibel stehen. Es liegt auch daran, dass ich mich mit hebräischer Poesie versucht und festgestellt habe, dass sie außerordentlich schwierig zu lesen ist, viel schwieriger als historische Erzählungen.
Wie kommt das? Ein Grund ist natürlich, dass die Erzählung einen Handlungsstrang hat, in der Regel einen bekannten, und die Poesie oft nicht.
Ein zweiter Grund ist die Tatsache, dass hebräische Verben, Präpositionen und andere Partikel weniger komplex und nicht so genau definiert sind wie im Deutschen, so dass es oft dem Leser überlassen bleibt, die genaue Beziehung zwischen den Begriffen und Satzteilen zu bestimmen. Das gilt zwar auch für Prosa, aber dort helfen Kontext und Handlung mehr.
Der dritte Grund ist eine Eigenschaft, die für die hebräische Poesie nicht weniger kennzeichnend ist als der Parallelismus: ihre Knappheit (siehe dazu Longman III, 2008). Der Dichter ist bestrebt, so wenige Wörter wie möglich zu verwenden.
Zum Beispiel gibt es im Hebräischen eine Partikel, die das direkte Objekt des Verbs identifiziert, wie zum Beispiel: Er schlägt ihn. (Im Deutschen wird dazu der Akkusativ verwendet.) Diese Partikel ist in der Prosa häufig, in der Poesie jedoch selten. Andere Partikel, Relativpronomen und Verbindungswörter werden ebenfalls weniger häufig verwendet. Das weil im obigen Beispiel würde in der hebräischen Poesie wahrscheinlich nicht vorkommen:
Ich schwitze,
ich bin schnell gelaufen.
Die Kürze ist umso auffälliger, als das Hebräische viel mit Präfixen und Suffixen arbeitet. Artikel und Pronomen werden üblicherweise an ein Substantiv oder ein Verb angehängt. Es gibt dann ein einziges Wort, wo in der deutschen Sprachen zwei oder drei Wörter benötigt werden.
Auch die vermehrte Verwendung von Bildern reduziert die Wortzahl. „Der Herr ist mein Hirte“ sagt viel in einer einzigen Metapher aus – und im Hebräischen gibt es nur zwei Wörter: Das Verb fehlt, und das Pronomen mein wird dem zweiten Substantiv (Hirte) angehängt: Jahwe Hirtemein.
Außerdem werden im Parallelismus häufig Auslassungen verwendet. In der zweiten Zeile werden ein oder mehrere korrespondierende Elemente, häufig das Verb, ausgelassen, so dass der Parallelismus unvollständig bleibt; siehe „(…)“ im ersten Beispiel.
In den meisten Fällen ist es daher klar, welche Sätze poetisch zu verstehen sind. Glücklicherweise werden sie in modernen Übersetzungen zunehmend als solche gedruckt, auch wenn die Lutherbibel das leider immer noch nicht macht. Poesie als Poesie abgedruckt, Zeile für Zeile, macht es leicht, sie zu erkennen UND sie entsprechend zu lesen.
Und es führt kein Weg daran vorbei, wenn wir sie verstehen wollen: Poesie ist kurz und knapp, sie ist nicht einfach; deshalb müssen wir sie langsamer lesen als Prosa. Slow down!
Bildnachweis
rolandmey. 2017 <https://pixabay.com/illustrations/picture-book-poetry-nature-1983812/> CC0
Cpastrick. 2019 <https://pixabay.com/photos/book-poem-poetry-read-paper-text-4257405/> CC0
Literaturangaben
Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Longman III, Tremper. 2008. ‘Terseness’, in Dictionary of the Old Testament: Wisdom, Poetry & Writings, ed. by Tremper Longman III and Peter Ens (Downers Grove, IL; Nottingham, UK: IVP Academic; Inter-Varsity Press), pp. 791-4
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