Vor vier Jahren schrieb ich über ein Buch von Bruce Winter (2003) über die sogenannten „Neuen Frauen“ im Römischen Reich. Winter ist der Ansicht, dass manche Frauen der Oberschicht im ersten Jahrhundert einen Lebensstil der sexuellen Freiheit auslebten und die kulturelle Norm der Sittsamkeit und Bescheidenheit für Frauen radikal ablehnten. Er argumentiert, dass diese Bewegung auch in der Gemeinde in Korinth einen gewissen Einfluss gewonnen habe. Dieser Hintergrund erkläre, was in der Korinther Gemeinde vor sich ging und was Paulus dazu veranlasste, in 1. Korinther 11,2-16 zu schreiben: Frauen weigerten sich, ihr Haar zu bedecken. Obwohl ich Winters These damals überzeugend fand, zwingt mich ein weiteres Buch, diese Erklärung neu zu überdenken.
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als VIDEO PODCAST
Paul und Gender: Keine „Neuen Frauen“?
Das Buch ist von Cynthia Long Westfall (2016) und der Titel lautet Paul and Gender. Als solches behandelt es ein breiteres Thema, aber überschneidet sich mit Winter: Was geschah in Korinth?
Westfall (ebd.: 15) verweist auf die Kritik zu Winters These in Cohick (2009: 72-5): Es gibt kaum handfeste Belege für die Existenz dieser „Neuen Frauen“. Und falls es sie tatsächlich gegeben habe, seien sie nicht zahlreich gewesen. Es gebe keinen Beweis dafür, dass ihr Einfluss Korinth erreicht habe, außer dem, was wir im 1. Korintherbrief finden.
Das ist aber ein klassischer Zirkelschluss: Die „Neuen Frauen“ verursachten das Problem in Korinth, und das Problem in Korinth ist ein Beweis für die Existenz und den Einfluss der „Neuen Frauen“ in Korinth.
Es sind nicht die Frauen, es sind die Männer
Westfall präsentiert einen ganz anderen Blick auf die Frauen und ihr Verhalten in 1. Korinther 11 als Winter (und die meisten anderen Ausleger). Ihrer Ansicht nach ging es nicht darum, dass Frauen sich weigerten, die traditionelle Kopfbedeckung zu tragen. Vielmehr zwangen die Männer in der Gemeinde zumindest bestimmte Kategorien von Frauen (Sklavinnen und ehemalige Prostituierte) dazu:
Es wird üblicherweise ohne Frage angenommen, dass Paulus die korinthischen Frauen korrigierte. Die Textstelle ist jedoch schlüssiger, wenn man davon ausgeht, dass die korinthischen Frauen sich weigerten, ihre Kopfbedeckungen oder Schleier abzulegen, aber von den Autoritätsträgern, Männern in der Hausgemeinde oder möglicherweise sogar von ihren eigenen Ehemännern, unter Druck gesetzt oder ermutigt wurden, ihre Schleier abzulegen. (Westfall 2016: 32; vgl. Esther 1,11)
Schließlich verboten die gesellschaftlichen Regeln und das römische Recht sowohl den Sklavinnen als auch den Prostituierten das Tragen einer Kopfbedeckung (ebd.: 31), so dass die Männer das Recht auf ihrer Seite hatten.
Westfall (ebd.: 24-37) liefert überzeugende Argumente für diese Erklärung. Zum einen argumentiert sie, dass Frauen in männlich dominierten Kulturen wie dem Mittelmeerraum zur Zeit des Paulus und dem Nahen Osten heute nur ungern eine Kopfbedeckung ablegen, weil sie sich dadurch entblößen würden.
Sie weist auch darauf hin, dass 1. Korinther 11,10 mit diesem Hintergrund am meisten Sinn ergibt: „Darum soll die Frau eine Macht auf dem Haupt haben“, so die Lutherbibel 1984, wobei Macht oft als Kopfbedeckung und als Symbol der Unterordnung ausgelegt wird. Wie vor vier Jahren schon dargelegt, geht es im Kontext aber nicht um Unterordnung. Und der Vers sagt nichts über ein Symbol oder Zeichen aus, das Frauen tragen sollten. Die korrekte Übersetzung lautet: „Eine Frau sollte Autorität über ihr Haupt haben“; denn Autorität haben ist im Griechischen immer aktiv und bezieht sich auf die legitime Macht, die jemand ausüben darf, nicht auf die Autorität, unter der die Person steht.
Das ist aber eine überraschende Aussage, wenn Paulus versucht die Frauen zu korrigieren und will, dass sie aufhören die Kopfbedeckung abzulehnen.
Wahrscheinlicher ist, dass Paulus sich im Streit zwischen Männern und Frauen direkt auf die Seite der Frauen stellt. Er unterstützt ihr Recht, eine Kopfbedeckung zu tragen. Selbst Sklavinnen und ehemalige Prostituierte – wenn es welche gab – mussten sich in der Gemeinde nicht den Blicken der Männer aussetzen.
Auch die Bemerkung über die Streitsucht, die den Abschnitt abschließt (1. Kor. 11,16), stützt Westfalls Ansicht: Die verwendeten Wörter sind männlich, nicht weiblich (ebd.: 36f). Zumindest einige von denen, die sich mit Paulus über die Kopfbedeckung stritten, sind männlich, nicht weiblich. Paulus korrigiert nicht die Frauen; er korrigiert die Männer.
1. Korinther 11 verstehen
Westfall versetzt uns in eine bessere Position, um 1. Korinther 11 zu interpretieren. Um den Abschnitt zu verstehen, müssen wir (1) die kulturelle Praxis und Bedeutung der Kopfbedeckung zu dieser Zeit verstehen; (2) die Bedeutung der Metapher Haupt (griechisch kephale) in diesem Zusammenhang bestimmen; und (3) die Argumentation in Bezug auf Schöpfung und Herrlichkeit erklären.
1. Kulturelle Praxis
Ich sollte darauf hinweisen, dass es keine Meinungsverschiedenheit zwischen Winter und Westfall in Bezug auf kulturelle Praxis und Bedeutung gibt. Westfall enthält allerdings die wesentliche Ergänzung, die bei Winter fehlt, dass Sklavinnen und Prostituierten damals vom Tragen eines Schleiers ausgeschlossen waren.
Die Kopfbedeckung signalisierte Sittsamkeit und Bescheidenheit; sie stand für die Ehre der Frau und gewährte ihr Schutz. Sie bedeutete keine Unterordnung:
Es ist wichtig festzustellen, was die Kopfbedeckung für Frauen in der griechisch-römischen Kultur bedeutete und was es bedeutete, einen unbedeckten Kopf zu haben … Aber in traditionellen Bibelstudien sind die meisten davon ausgegangen, dass Verschleierung in 1. Korinther 11,3-16 „Unterordnung“ bedeutet, ohne sich mit der Bedeutung zu befassen, die die Verschleierung für Frauen in der alten östlichen Mittelmeerkultur oder in ihrer verbreiteten Verwendung in einer Reihe moderner Kulturen hatte und hat. Kenneth Bailey stellt fest: „In der traditionellen Gesellschaft des Nahen Ostens, von den Tagen der jüdischen Rabbiner bis heute, war und ist eine Frau verpflichtet, ihr Haar in der Öffentlichkeit zu bedecken.“ (Westfall 2016: 26, zitiert nach Bailey 2008: 248)
Und der Grund? Haare galten im Nahen Osten und gelten dort oft auch heute noch als erregend; anständige Frauen würden die Haare bedecken wollen. Deshalb:
Paulus war wie andere Mitglieder seiner Kultur der Meinung, dass Haare sexy oder ein Mittel der Anziehung seien (11,15). Die Schönheit einer bescheidenen und keuschen Frau sollte nicht öffentlich zur Schau gestellt, sondern nur ihrem Ehemann gezeigt werden. (ebd.: 30)
2. Die Bedeutung von Kephale
Die Verwendung des Begriffs kephale (griechisch: Kopf oder Haupt) als Bild oder Metapher hat erregte Debatten ausgelöst. Ich kann hier nur kurz zusammenfassen.
Zunächst einmal: In der deutschen Sprache suggeriert die Metapher Haupt Autorität oder Führung. Im Hebräischen kann Haupt ebenfalls Autorität bedeuten. Im Griechischen ist das aber NICHT der Fall. Interessanterweise: In der alten Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische, der Septuaginta, wird der hebräischeBegriff für Haupt, wenn er im übertragenen Sinne verwendet wird, nur in wenigen Fällen mit dem griechischen Begriff für Haupt (kephale) übersetzt.
Stattdessen kann kephale, wenn das Wort im Griechischen als Metapher verwendet wird, mehrere andere Bedeutungen annehmen. Eine davon ist die Idee Quelle oder Ursprung.
Eine solche Bedeutungsoption (Quelle oder Ursprung) wird manchmal bestritten. (Die Bedeutung passt jedoch außerordentlich gut zur Logik und Argumentation von 1. Korinther 11 – und zwar so gut, dass die Verwendung hier ausreichen könnte, um sie als innovative Benutzung der Metapher durch Paulus zu etablieren, selbst wenn diese Bedeutung nicht an anderer Stelle nachgewiesen werden könnte.)
Allerdings wird bei der Ablehnung der potenziellen Bedeutung von Quelle und Ursprung übersehen, dass wir nicht unbedingt anbiologischen Ursprungdenken müssen. Offensichtlich sind der Ehemann und Männer im Allgemeinen biologisch nicht der Ursprung ihrer Ehefrau oder Frauen allgemein. Die Idee kann aber auch Quelle des Lebens sein und sich auf den Versorger oder Broterwerber beziehen: denjenigen, der ein Leben nährt und erhält. Auch Quelle der Identität, insbesondere im Kontext der Familie, ist möglich.
Dies ist die Bedeutung, die es laut Westfall (2016: 38) im Kontext von 1. Korinther 11 hat: Ursprung, sowohl des Lebensals auch der Identität, denn verwendet wird hier die „Sprache der Ursprünge des Lebens und der Schöpfung nach dem Bilde Gottes in 11,7-12“.
Außerdem gibt es die Verbindung zu 1. Korinther 11,3. Dieser Vers ist der Ausgangspunkt des Paulus, seine Grundlage für die Argumentation, die folgt, obwohl nicht sofort klar ist, wie seine drei Aussagen mit dem Rest des Textes zusammenhängen:
- Das Haupt [Gr. kephale] eines jeden Mannes ist Christus
- Das Haupt einer Ehefrau/Frau ist der Ehemann/Mann
- Das Haupt Christi ist Gott
Wenn Paulus damit eine Hierarchie begründen will (Gott – Christus – Mann – Frau), ist seine Reihenfolge verwirrend. Die Aussagen passen aber hervorragend zur Idee der Herkunft.
Bei der ersten Aussage könnte man denken, es geht um Christus als Quelle und Ursprung des Lebens in der Erlösung. Aufgrund des Kontextes (der Schöpfung) denkt Paulus jedoch eher an Christus als das Wort und das ursprüngliche Ebenbild Gottes (2. Kor. 4,4; vgl. Hebr. 1,3): „Christus ist die Quelle des Lebens des Menschen, weil er der Schöpfer ist, der den Menschen in 1. Mose 2,4-9 geformt hat“ (ebd.: 87).
Laut der zweiten Aussage kommt die Frau vom Mann: „Der Mann ist die Quelle des Lebens der Frau, weil sie in 1. Mose 2,18-23 aus dem Mann erschaffen wurde“ (ebd.). Paulus wird dies später ausgleichen, indem er auf die Tatsache hinweist, dass jetzt jeder Mann von einer Frau geboren wird.
Und bei der dritten Aussage geht es nicht um die Führung innerhalb der Dreifaltigkeit. Der Vater und der Sohn sind gleichberechtigt. Es gibt keine einseitige Unterordnung. Es geht hier entweder um den ewigen Sohn, der aus dem Vater hervorgeht, oder vielleicht um Jesus als den göttlichen Sohn, der von Gott geboren wurde.
Westfall (ebd.: 38) paraphrasiert daher 1. Korinther 11,3 wie folgt:
Aber ich möchte, dass ihr erkennt, dass das Leben eines jeden Mannes von Christus kommt, das Leben der Frau vom Mann und das Leben Christi von Gott.
Dieses Verständnis von kephale erklärt übrigens auch Paulus‘ Verständnis von Adam und Christus als Haupt des Menschengeschlechts:
Adam ist das Haupt der Menschheit, weil er die Quelle des biologischen Lebens ist. Adam wird von der Menschheit keine Überlegenheit, Ehre, Autorität oder Ehrfurcht zuteil; Vielmehr handelt es sich um eine Beziehung der Identität, die sich aus ihrem Ursprung ergibt und die Paulus negativ bewertet. Jesus löst Adam als Haupt ab, weil Jesus die geistliche, lebensspendende Quelle ist, die die Gemeinde nährt, und die Gemeinde bildet eine organische Einheit mit ihm. (ebd.: 85f)
3. Die Logik der Herrlichkeit in 1. Korinther 11
Zum Teil basiert die Argumentation des Paulus in 1. Korinther 11,4-16 auf kulturellen Normen, die relativ und zeitlich begrenzt sind (1. Kor. 11,4-6 und 1. Kor. 11,13-15; man beachte die chiastische Struktur, siehe Bild). Wir empfinden keine Scham aufgrund dessen, ob unser Haupt im Gebet bedeckt ist oder nicht. Es ist in der westlichen Kultur auch keine Schande für eine Frau, kurze Haare zu haben.
Um was geht es hier? Einfach ausgedrückt: Paulus möchte nicht, dass die Gemeinde aufgrund der Art und Weise, wie sich ihre Mitglieder kleiden oder ihre Haare tragen, auf schockierende Weise auffällt.
Aber im Zentrum des Abschnitts wechselt Paulus zu einem Argument, das auf der Schöpfung basiert (1. Kor. 11,7-9 und 1. Kor. 11,11f). Wie funktioniert dieses Argument und welche Rolle spielt Herrlichkeit dabei?
Der Text wird oft so gelesen, als sei die Frau „nur“ die Herrlichkeit des Mannes und daher weniger als der Mann, der schließlich das Bild und die Herrlichkeit [Luther: der Abglanz] Gottes ist. Paulus wusste jedoch sehr wohl, dass in 1. Mose 1,26f das Bild Gottes sowohl männlich als auch weiblich ist: Die Frau ist (auch) das Ebenbild Gottes.
Paulus geht es nicht darum, dass die Frau weniger hat oder ist als der Mann, sondern darum, dass sie etwas ist, was der Mann nicht ist: Sie ist nämlich (auch) die Herrlichkeit des Mannes (während der Mann nicht die Herrlichkeit der Frau ist). Und aus diesem Grund kleideten sie sich in dieser Kultur auf unterschiedliche Weise. Die Herrlichkeit und Schönheit der Frauen waren zu stark – für diejenigen, die an einen solchen Anblick nicht gewöhnt waren –, um sie in vollem Umfang öffentlich zur Schau zu stellen:
Was kann es dann bedeuten, dass der Mann die Herrlichkeit Gottes ist, die Frau aber die Herrlichkeit des Mannes? In diesem Zusammenhang zeigt der Mann seine Demut, indem er vor Gott als das ungeschmückte Ebenbild Gottes erscheint, und die Frau erweist Gott, sich selbst und ihrer Familie Ehre, indem sie ihre Herrlichkeit/Schönheit in der Öffentlichkeit und im Gottesdienst mindert. (Westfall 2016: 40)
[Frauen] sind visuell die Herrlichkeit der Herrlichkeit – das heißt, Frauen haben die größere Herrlichkeit. Die Tatsache, dass die Frau um des Mannes willen geschaffen wurde (1. Kor. 11,9), deutet auf den Zweck ihrer größeren Schönheit und ihrer Anziehungskraft für den Mann hin. Paulus argumentiert, dass das „Haupt“ der Frau im Gottesdienst bedeckt sein muss, damit die Verherrlichung auf Gott gerichtet ist [nicht auf die Schönheit der Frau]. (ebd.: 41)
An dieser Stelle ist es wichtig, sich an die kulturelle Bedeutung und Wahrnehmung von weiblichem Haar und einem unbedeckten Kopf zu erinnern:
Das Haar einer Frau ist ein primärer Teil der Schönheit, was der Grund für die Verschleierung ist. Wenn eine Frau mit unbedecktem Haupt betet oder prophezeit, konkurriert die herrliche Erscheinung ihres Haares mit der Anbetung Gottes, weil es die „Herrlichkeit des Mannes“ (1. Kor. 11,15) zeigt. Für eine Frau war ihr unbedeckter Kopf ein Stigma, weil er in der Kultur sexuelle Verfügbarkeit, Unreinheit und niedrigen Status symbolisierte (1. Korinther 11,5-6). (ebd.: 68)
Deshalb mussten in dieser Kultur die Haare im Gottesdienst bedeckt sein (und Männer sollten Frauen nicht davon abhalten, dies zu tun):
Wenn es um die äußere Erscheinung geht, gibt es einen Unterschied zwischen der Herrlichkeit der Männer und der Herrlichkeit der Frauen. In Übereinstimmung mit der Kultur glaubte Paulus, dass Gott die Frau geschaffen hat, um attraktiver oder herrlicher zu sein, so dass sie die Herrlichkeit des Mannes ist. Dies wird zu einem pragmatischen Problem genau an dem Punkt, an dem Frauen versuchen, den Geist in Prophetie zu manifestieren (1. Kor. 11,5; 12,7, 10), oder wenn sie im Gebet führen, um Gott anzubeten. Das Mandat zur Verschleierung sollte jedoch weder als Polemik gegen Frauen noch als Unterordnung der Frauen unter die Männer verstanden werden, denn die Verschleierung war ihr Schutz und ein Zeichen für den Status und die Ehre, die eine Frau in der griechisch-römischen Kultur besitzen konnte. (ebd.: 70)
Das hat nichts mit Autoritätsstrukturen zu tun:
Sein [Paulus] Fokus und seine Sorge liegen nicht darauf, die Autorität oder Kontrolle der Ehemänner über ihre Frauen zu stärken oder zu vergrößern, sondern vielmehr sicherzustellen, dass Gott verherrlicht wird, dass die Frauen nicht persönlich entehrt oder beschämt werden, während sie beten und prophezeien, und dass sie keine unangemessene Botschaft durch ihre Kleidung aussenden, indem sie ihre Haare zeigen, während sie dienen und anbeten. Wenn Frauen sich weigerten, ihre Kopfbedeckung abzunehmen, unterstützte Paulus sie, ihr Urteilsvermögen und ihre Ehre innerhalb der Gemeinde, möglicherweise sogar gegen die Gemeindeleitung. (ebd.: 42)
Unterwanderung der Stereotypen
Obwohl es sich nicht direkt auf 1. Korinther 11 bezieht, ist das, was folgt, zu gut und zu wichtig, um es wegzulassen. Es liefert ein zusätzliches und starkes Argument gegen den Ausschluss von Frauen aus der Lehre oder von Führungspositionen. Das Argument basiert auf Paulus‘ Verwendung von männlichen und weiblichen Stereotypen.
Erstens sollten wir anerkennen, dass es unwahrscheinlich ist, dass Paulus unkritisch kulturelle Normen unterstützen würde; er tat dies auf jeden Fall nicht, wenn es um Führung oder Weisheit und Rhetorik ging:
Viele Ausleger gehen davon aus, dass Paulus Geschlechterstereotypen in der griechisch-römischen Kultur bestätigt hat, weil sie glauben, dass der Haushaltskodex, der in den Paulusbriefen zu finden ist, einfache Wiederholungen und Bestätigungen dessen enthalten, was für die Rolle des Mannes und die Rolle der Frau im griechisch-römischen Haushalt typisch war (z.B. Kol. 3,18-4,1 // Eph. 5,18, 21-6,9). Diese Annahme ist ein sehr merkwürdiger Ausgangspunkt für eine Theologie der Geschlechter, wenn man bedenkt, dass Paulus in Römer 12,1-2 auf Nichtkonformität mit der Kultur drängt. Paulus war sich des Drucks seiner Kultur sehr bewusst, der versuchte, ihn in die stereotypen männlichen Rollen des Führers und Redners zu pressen. Paulus lehnte diese Modelle für sich selbst und für seine Gemeinden sowohl in seiner Theologie als auch in seinen Erwartungen ausdrücklich ab. (Westfall 2016: 45)
Wir würden erwarten, dass Paulus das Gleiche für kulturelle Vorstellungen über Geschlecht tut. Und tatsächlich stellt sich heraus, dass Paulus regelmäßig männliche Bilder verwendet, um ALLE Gläubigen zu beschreiben, Männer und Frauen:
Paulus wandte oft männliche Bilder auf alle Gläubigen an. Dazu gehören Eigenschaften wie Stärke und Geschicklichkeit im Krieg, im sportlichen Wettkampf und im Gladiatorenkampf. (ebd.: 46f)
[Über die geistliche Waffenrüstung in Epheser 6,10ff:] Diese Aspekte der geistlichen Kriegsführung, die die Rüstung symbolisiert, sind für alle Christen, unabhängig von ihrem Geschlecht, von wesentlicher Bedeutung. Indem er alle Christen mit Bildern der männlichen Kriegsführung konfrontierte, lud Paulus Frauen ein und ermutigte sie, sich direkt mit einer der männlichen Ikonen dieser Kultur zu identifizieren. (ebd.: 48)
Am auffälligsten ist das Gebot des Paulus an die Korinther – an alle, Männer und Frauen –, männlich zu sein oder ein Mann zu werden (1. Kor. 16,13, übersetzt mit „seid mutig!“, angeblich eine „männliche“ Tugend).
Indem Paulus diese Eigenschaften sowohl auf Männer als auch auf Frauen ausdehnt, lädt er Frauen ein, sich mit männlichen Stereotypen zu identifizieren. Aber er geht auch in die andere Richtung.
In einem überraschenden Schritt verwendet Paulus mütterliche Bilder für den pastoralen Dienst, indem er sein Engagement für die Fürsorge der Gläubigen mit Metaphern für die Geburt und das Stillen darstellt: „Milch habe ich euch zu trinken gegeben“ (1. Kor. 3,2), zu einer Zeit, als die Milch für Säuglinge nicht aus der Flasche, sondern aus der Brust kam (ebd.: 52; man beachte, dass das AT ähnliche Bilder für Gott verwendet!).
Dies steht im Gegensatz zu stereotypen männlichen Führungsbildern. Paulus betont, dass weibliche Rollen geeignete Bilder für den geistlichen Dienst sind. Wenn man es in diesem Licht betrachtet, könnte man sich fragen, warum Frauen oft von der Arbeit als Pastorinnen ausgeschlossen werden, wenn man bedenkt, dass sie, wenn die Klischees stimmen, hervorragend für den Job gerüstet sind:
In 1. Korinther 3,1-2 greift Paulus auf die Bilder des Stillens und der frühkindlichen Betreuung zurück, um die pastorale Fürsorge zu beschreiben, die für neue und unreife Gläubige notwendig ist … Während im Fall von Korinth der Hinweis auf das Stillen etwas abwertend war, war er im Fall der Gemeindegründung in Thessalonich eine primäre Metapher für vorbildliche Fürsorge [1. Thess 2,6f] … Es ist bezeichnend, dass Paulus sich mit diesen biologischen weiblichen Rollen identifizierte, die Frauen am meisten von Männern unterscheiden, und intime weibliche Rollen in Kontrast zur stereotypen Dominanz männlicher Führer setzte. Paulus‘ Verwendung von mütterlichen Bildern für die Seelsorge verdeutlicht die Vereinbarkeit vom pastoralen Dienst mit weiblichem Engagement und einer weiblichen Rolle der Fürsorge, aber er geht nicht davon aus, dass ein Mann nicht zu vergleichbarer Intimität, Fürsorge und Hingabe fähig ist. Es ist daher seltsam, dass Paulus den pastoralen Dienst als mütterliche Fürsorge definiert, dass aber historisch gesehen Frauen auf der Grundlage anderer paulinischer Schriften von kirchlichen Positionen ausgeschlossen wurden, die einen pastoralen Dienst beinhalten. (ebd.: 53f)
Die bemerkenswerteste Subversion stereotyper Geschlechterrollen bei Paulus, so Westfall (ebd.: 56-59), findet sich in Epheser 5,21-33. Der Ehemann, dem zunächst Autorität zugesprochen wird, ist in der Braut Christi aufgenommen. In Bezug auf seine Frau ist er für Aktivitäten verantwortlich, die traditionell dem Bereich der Frauen zuzuordnen sind (Liebe, Fürsorge, Pflege). Darin ähnelt er Christus, der die Kirche wäscht, reinigt und kleidet (gelinde gesagt: keine männlichen Aufgaben!). Indem Paulus Männer als fürsorglich für ihre Frauen darstellt und Christus dies für die Gemeinde tut, nehmen beide für ihre Kultur typisch weibliche Rollen ein.
Kurz gesagt, in Epheser 5 „wird den Männern geboten, ihre Funktion als Haupt auszuüben, indem sie sich mehr wie Frauen verhalten“ (ebd.: 59).
Paulus dehnt männliche Tugenden auf Frauen aus und verwendet traditionell weibliche Rollen und Tätigkeiten, um den Dienst in der Gemeinde zu beschreiben. Er scheint sich nicht sonderlich darum zu kümmern, traditionelle Rollen aufrechtzuerhalten, wie sie von der gefallenen und von Gott abgewandten Kultur vorgeschrieben werden, abgesehen von der Notwendigkeit strategischer Kompromisse, um diese Kultur zu erreichen und zu erlösen.
Denn in Christus haben wir alle am Dienst der Versöhnung teil, entsprechend unseren Gaben, nicht nach unserem Geschlecht, und wir gehören alle zum königlichen Priestertum, berufen, mit ihm zu herrschen – unabhängig davon, ob wir männlich oder weiblich sind.
Bildnachweis
Mortel, Richard. 2016. “Livia Drusilla, wife of Augustus and mother of Tiberius, d. 19 CE, National Archeological Museum, Madrid (1) (29074219390).jpg” <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Livia_Drusilla,_wife_of_Augustus_and_mother_of_Tiberius,_d._19_CE,_National_Archeological_Museum,_Madrid_(1)_(29074219390).jpg> [Accessed 8 January 2020] CC BY 2.0
Nguyen, Marie-Lan. 2019. “Messalina from Rome Louvre” <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Messalina_from_Rome_Louvre_Ma1224_n5.jpg> [Accessed 6 February 2024] CC-BY 4.0
Bauermann, Anja. 2023 <https://unsplash.com/photos/a-black-and-white-photo-of-a-womans-head-sUoG-rKMuOI> [Accessed 5 February 2024] CC0
Literaturangaben
Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 1999. Revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft)
Titel wurde mit Hilfe von ChatGPT generiert.
Bailey, Kenneth E. 2008. Jesus through Middle Eastern Eyes: Cultural Studies in the Gospels (Downers Grove, IL: IVP Academic) (bezahlter Link)
Cohick, Lynn H. 2009. Women in the World of the Earliest Christians: Illuminating Ancient Ways of Life (Grand Rapids, MI: Baker Academic) (bezahlter Link)
Westfall, Cynthia Long. 2016. Paul and Gender: Reclaiming the Apostle’s Vision for Men and Women in Christ (Grand Rapids, MI: Baker Academic) (bezahlter Link)
Winter, Bruce W. 2003. Roman Wives, Roman Widows: The Appearance of New Women and the Pauline Communities (Grand Rapids, MI: W. B. Eerdmans) (bezahlter Link)
Als Amazon-Partner verdiene ich an qualifizierten Verkäufen. Einige der Links in diesem Text sind „Affiliate Links“. Wenn du über diese Links etwas kaufst, hilfst du mir, die Kosten für Create a Learning Site abzudecken.