Der fehlende Wert

Den nachfolgenden Aufsatz habe ich im Herbst 2002 geschrieben, kurz bevor ich meine Doktorarbeit anfing. Er war Teil der Begründung, weshalb und wozu ich damals diesen Aufwand auf mich nahm. Er dient jetzt als Teilbegründung für diese Website. Ich habe ihn dazu leicht überarbeitet.

In den letzten Jahrzehnten haben wir als evangelikale Bewegung die Kunst wiederentdeckt. Uns ist klar geworden, dass kreative Formen, wie Malerei, Bildhauerei, Tanz, Drama und Musik durchaus mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren sind. Eigentlich ist es kaum zu fassen, dass wir etwas so Offensichtliches wiederentdecken mussten. Gott ist ja der Künstler par excellence. Seine Schöpfung ist ein Kunstwerk ohne Vergleich. Unser kreatives Schaffen bezeugt, dass wir nach seinem Bild geschaffen wurden. Trotzdem: Wir hatten das weitgehend aus den Augen verloren.

Ein weiterer Bereich, den es wiederzuentdecken gilt, ist der intellektuelle. Zu lange schon sind wir ihm gegenüber misstrauisch gewesen. Forschung, Wissenschaft und Bildung sind gottgegebene Aufgaben der Menschheit: „Füllet die Erde und machet sie euch Untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht“ (1. Mo. 1,28, Luther 84). Die Erfüllung dieser Aufgabe wäre ohne Technologie und Wissenschaft, egal wie einfach, undenkbar.

Schon in 1. Mose 2 betätigt sich Adam als Biologe, indem er den Tieren Namen gibt. Im Kapitel 4 und 5 finden wir die Anfänge der Technik. Gott ist zwar selber kein Wissenschaftler, so wie er Künstler ist, er ist aber der Architekt dieser Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Ziel der Wissenschaft ist es, wie es die ersten Naturwissenschaftler formulierten, Gottes Gedanken ihm nachzudenken.

Wir haben uns jedoch wenig um den intellektuellen Bereich gekümmert. Brachte die Reformation noch bedeutende Wissenschaftler und großartige Literatur hervor, uns kann man das nicht vorwerfen. Nobelpreiskandidaten finden sich bei uns kaum. Katholiken, Protestanten, Juden, Muslime, Atheisten – in Stockholm und Oslo sind alle vertreten, nur die Evangelikalen nicht.

Mark Noll, evangelikaler Christ und Historiker, hat unser Versagen in diesem Bereich in seinem Buch The Scandal of the Evangelical Mind schonungslos aufgedeckt. Der Skandal besteht seines Erachtens darin, dass ein solches Denken („Mind“) gar nicht existiert…

Es ist nicht, dass wir überhaupt nicht denken oder die Wissenschaft grundsätzlich ablehnen. Das Problem ist, dass wir zu oberflächlich und unkritisch vorgehen. Woher stammt diese Fehlentwicklung in unserem Denken?

  • Die evangelikale Bewegung ist aktivistisch und unternehmerisch; man beachte die vielen Organisationen, die sich um bestimmte Anliegen herum gebildet haben. Das bietet nun mal kein optimales Umfeld für geduldiges wissenschaftliches Arbeiten.
  • Die moderne Wissenschaft (wie zum Beispiel Bibelkritik und Evolutionstheorie) hat viel Vertrautes infrage gestellt. Daher ergibt sich bei bibeltreuen Christen eine gewisse anti-intellektuelle Tendenz; man misstraut der modernen Wissenschaft und der oft als anti-christlich empfundenen Universität.
  • Verheerend war, dass die Evangelikalen in Amerika die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Methode nicht rechtzeitig bemerkten. Am Anfang des 20. Jahrhunderts (und zum Teil noch heute) steckten sie weiterhin in den wissenschaftlichen Denkstrukturen des 18. Jahrhunderts. Mit gesundem Menschenverstand ließen sich aufgrund einfacher Beobachtungen unbestreitbare Tatsachen feststellen – so meinte man. Jeder vernünftige Mensch würde aus den zu beobachtenden Tatsachen die gleichen Schlussfolgerungen ziehen.1 Hypothesen und Theorien empfand man als dubiose Spekulation. Für Einfluss und Auswirkung von Denkvoraussetzungen und Weltanschauung (d.h., nicht jeder sieht das Gleiche wenn er das Gleiche anschaut) war man blind. Somit waren Christen nicht gerüstet, eine glaubwürdige evangelikale Interpretation der neuen Entdeckungen und Theorien zu formulieren.
  • Auch an die Bibel ging man so heran. Sie wurde als ein Buch voller Tatsachen verstanden. Diese brauchte man nur richtig anzuordnen, um die Wahrheit zu einem Thema zu finden. In der fundamentalistischen Reaktion mit ihrem Kredo „Die Bibel von Umschlag zu Umschlag!“ verstärkte sich diese Tendenz noch. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zum nächsten Punkt:
  • Bibelverse reichten als Grundlage für wissenschaftliche Modelle und Theorien aus. Ein krasses Beispiel: man schloss aus Genesis 1,7, dass es vor der Sintflut eine Wasserschicht gegeben hatte, die die Erde umhüllte und die während der Flut zusammengebrochen war. Die im Buch Hiob erwähnten Tiere belegten die Existenz von Dinosaurier zu jener Zeit. Eine solche Pseudowissenschaft braucht sich um die Erforschung der realen Welt nicht zu kümmern!
  • Die Bibel wurde somit als halb wissenschaftliches Textbuch und Tatsachensammlung gelesen, nicht aber als Literatur. Die Einsicht, dass man unterschiedliche Literaturformen auch in der Bibel unterschiedlich liest (man vergleiche Zeitung, Gebrauchsanweisung und Gedicht), ging größtenteils verloren. Da man so viel von der Bibel erwartete, schien es weniger dringend, die Natur zu studieren und zu erforschen. Überhaupt war das wichtigste Ziel, das eigene Bibelverständnis zu verteidigen, nicht Neues zu entdecken. Auch deswegen verlor die Wissenschaft an Wert.

In drei Bereichen ist mir dieses Denken ganz besonders aufgefallen:

1. Prophetie und Endzeitglaube

2. Junge-Erde-Kreationismus und Flutgeologie2

3. Christlicher Zionismus und Nahostkonflikt

Obwohl diese drei Themen sehr unterschiedlich sind, illustrieren sie Schwächen und Eigenschaften des evangelikalen Denkens und seine stark vereinfachende Bibelauslegung:

  • Forschung und Sachkenntnis spielen oft eine untergeordnete Rolle; wichtiger ist, was man aus Bibelversen abzuleiten vermag.
  • Bestimmend sind nicht Spezialisten, sondern Laien. Aktivistisch und unternehmerisch eingestellt, übernehmen diese eine Vorreiterrolle und veröffentlichen zu diesen Themen eine endlose Reihe von Büchern. Wie immer, trumpft Rhetorik Sachkenntnis.
  • Der Ursprung der propagierten Ideen ist meist unbekannt. Wo liegen die Wurzeln der Endzeittheorien, wer kennt die Ursprünge des Dispensationalismus oder den Urheber der Flutgeologie3? Trotzdem werden diese Ideen mit Überzeugung vertreten und als biblische Wahrheit übernommen.
  • Niemand weiß, dass ursprünglich oder in anderen Kreisen eine viel breitere Palette an Meinungen existierte und existiert. Anders gesagt, man leidet an Parochialismus: Man ist nur mit dem vertraut, was in der eigenen „Parochie“ bekannt ist oder akzeptiert wird.
  • Zum Teil haben die Konstrukte mit der wirklichen Welt kaum eine Verbindung. Die Überzeugungskraft der Flutgeologen zum Beispiel ist außerhalb des eigenen Kreises minimal. Jeder Geologe weiß, dass man die Welt so nicht erklären kann.
  • Es gibt oft keine tief gehende Auseinandersetzung mit der Thematik oder mit anderen Meinungen. Auch seriöse Forschung und seriöses Studium sind eher rar. Wir bleiben lieber unter uns, dort geben wir uns triumphierend: Die Bibel hat doch recht!

Das Endergebnis: Wir marginalisieren uns selbst und bleiben ohne Stimme. Wir wollen die Welt einfach und verständlich, ohne zu viel Nuance. Vor allem mögen wir keine offenen Fragen! Wir wollen auf komplexe Sachverhalte einfache und klare Antworten – und die gibt es nun einmal nicht (außer falsche).

Damit wir unserer Gesellschaft wieder etwas zu sagen haben, müssen wir die verlorenen Werte Wissenschaft, Forschung und intellektuelles Schaffen wiederentdecken und auch – oh Schreck – offene Fragen lieben lernen.

1 Man könnte diese Wissenschaftsphilosophie als „Common Sense Rationalism“ bezeichnen. Siehe dazu: George M. Marsden, Fundamentalism and American Culture: The Shaping of Twentieth-Century Evangelicalism, 1870-1925 (New York: Oxford University Press, 1982); Mark A. Noll, The Scandal of the Evangelical Mind (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1994).

2 Junge-Erde-Kreationismus glaubt auf Grund einer wortwörtlichen Auslegung des ersten Bibelbuches, dass die Erde und alles Leben jung sind (6000 Jahre oder unwesentlich mehr) und in sieben Tagen durch direktes schöpfendes Handeln Gottes geschaffen wurden. Flutgeologie versucht die geologischen Ablagerungen auf Grund der Sintflut als große Weltkatastrophe zu erklären; sie sind in kurzer Zeit entstanden.

3 Ein Adventist, der von Geologie wenig verstand. Diese Geschichte ist dokumentiert in: Ronald L. Numbers, The Creationists: The Evolution of Scientific Creationism (Berkeley, CA: University of California Press, 1993).

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