Die gute Nachricht: Ich habe meinen Leseplan erfüllt. Es gibt auch eine weniger gute Nachricht. Nach vier Wochen intensiver Beschäftigung mit den wissenschaftlichen Beiträgen in diesem Handbuch hat sich bei mir ein ziemlicher Frust aufgebaut. Zu viele Beiträge sind unnötig schwer verständlich und didaktisch schwach; sie schaffen es nicht, das Material so zu präsentieren, dass es auch ein Nichtexperte begreift.
Photo : Bert Heymans, “Cut and Paste”, http://www.flickr.com/photos/heymans/3237808166/; CC BY-SA 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/
Hier ist ein Beispiel aus dem Artikel „Floral Imagery“, über pflanzliche Bilder, zunächst in Englisch und anschließend meine Übersetzung:
These images are literary in character but refer to an absent literal reality. Literary and literal reality converge in the cognitive concept of an image that is a mediated representation of that mostly absent reality, creating a virtual reality that has been interpreted by the producer (author) and that needs to be interpreted through perception by the recipient (reader/listener). Thus, attention between the absence of the original object and its substitution is created that establishes meaning and communicates biblical truth in a nonpropositional manner. (p. 248)
Diese Bilder sind in ihrem Wesen literarisch, aber weisen auf eine nichtgegenwärtige buchstäbliche Wirklichkeit hin. Literarische und buchstäbliche Wirklichkeit laufen in das kognitive Konzept eines Bildes, das eine vermittelte Repräsentanz der größtenteils nichtgegenwärtigen Wirklichkeit darstellt, zusammen und schaffen so eine virtuelle Wirklichkeit, die vom Produzenten (dem Autor) interpretiert wurde und die vom Empfänger (dem Leser/Zuhörer) durch Wahrnehmung interpretiert werden muss. Auf diese Weise wird eine Spannung zwischen der Abwesenheit des ursprünglichen Objekts und seiner Substitution kreiert, die die Bedeutung begründet und biblische Wahrheit nicht in der Form einer Behauptung und eines Lehrsatzes kommuniziert. (S. 248)
Ich bin promovierter Doktor der Theologie, verstehe diese Aussage aber trotzdem nicht.
Ich gebe zu, dass ich hier (selbstverständlich) das schlimmste Beispiel anführe, das ich gefunden habe; aber trotzdem.
Inzwischen frage ich mich, ob dieses Buch überhaupt hilfreich ist, wenn jemand die Bibel besser verstehen möchte oder einen Unterricht zu einem der Propheten vorbereiten will. Ja, das ist eine traurige, wenn auch etwas vorzeitige Schlussfolgerung. Ich habe die Bänder zum Neuen Testament in dieser Reihe anders in Erinnerung; dort habe ich für die Unterrichtsvorbereitung immer wieder hilfreiche Artikel gefunden.
Dieses Buch ist tatsächlich ein Kompendium, ein Handbuch zu diesem Wissensgebiet. Mir ist jetzt klar, dass dieser Untertitel ernst gemeint ist. Es handelt sich kaum um ein Buch für Nichtexperten, anders als ich erwartete.
Planwechsel
Ich werde den Plan deswegen folgendermaßen ändern: Für den nächsten Leserbericht werde ich vier Wochen zusammenfassen statt zwei. Er wird vier Wochen nach diesem Bericht erscheinen. D.h., ich werde einen Bericht weniger schreiben als ich ursprünglich vorhatte. In zwei Wochen erscheint stattdessen ein regulärer Trainingsbrief zu einem anderen, leichteren Thema: Was das mediterrane Klima, in dem ich lebe, mich über die Bibel lehrt. Und falls alles gut geht, erscheint der vierte und letzte Lesebericht in sechs Wochen.
Die Entstehung der prophetischen Bücher
Ein weiterer Punkt, der inzwischen klar wird, ist der folgende. Die meisten oder vielleicht alle Autoren, die zu diesem Band beitragen, gehen davon aus, dass die prophetischen Bücher nicht von dem betreffenden Propheten oder von jemandem, der ihm zeitlich nahe stand, geschrieben wurden. Stattdessen wird angenommen, dass sie das Ergebnis eines längeren und komplizierten Gestaltungsprozesses sind. Der Artikel “Formation of the Prophetic Books” (Entstehung oder Gestaltung der prophetischen Bücher) äußert sich da klar und deutlich:
Es ist ein Axiom der meisten Gelehrten, die sich mit den prophetischen Büchern befassen, dass sie zusammengesetzt sind, dass sie das Ergebnis eines komplexen, oft langen Entwicklungsprozesses sind. Die meisten dieser Bücher wurden nicht von Grund auf durch eine einzelne Hand geschrieben, sondern wurden vielmehr „gefertigt“, indem Quellen eingegliedert wurden, wobei sie manchmal neu angeordnet oder kommentiert wurden, damit sie in ihren neuen literarischen Kontexten eine neue Rolle erfüllen. (S. 271; auf Seite 272 betrachtet der Verfasser sie als „das Erzeugnis vieler Hände“)
Ich habe nicht erwartet, dass diese Annahme so weit verbreitet ist, aber ich finde sie in vielen Beiträgen wieder. Somit handelt es sich hier um etwas Wichtiges, was ich dazulerne im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der evangelikalen Bibelwissenschaft.
Diese Annahme oder diesen Grundsatz als „Axiom“ zu bezeichnen ist starke Sprache. In der Mathematik ist ein Axiom eine Wahrheit, für die es keinen Beweis braucht. Der Begriff wird auch verwendet für einen Grundsatz, der weitgehend als wahr angenommen wird.
Obwohl dies für die Bibelwissenschaft zutreffen mag, sieht es in der evangelikalen Bewegung insgesamt doch anders aus. Bestimmt lesen viele Bibelleser das Buch Hesekiel zum Beispiel als das Werk dieses Propheten. In diesem Kontext bedarf die Behauptung sehr wohl einer Beweisführung; anders gesagt, sie ist gar kein Axiom.
Zum Glück, wenn vielleicht auch etwas widersprüchlich, enthält der eben zitierte Artikel mehrere Argumente für sein „Axiom“. Ich werde sie gleich kurz besprechen, möchte aber zunächst folgendes klarmachen. Wo es um diese Fragen geht, fühle ich mich keiner dogmatischen Position verpflichtet. Andererseits stehe ich der Sache ehrlich gesagt schon etwas skeptisch gegenüber. Ich habe trotzdem versucht, die Artikel möglichst unvoreingenommen zu lesen. Außerdem habe ich mich in der Vergangenheit immer wieder gewundert über bestimmte Textstellen, wie zum Beispiel:
- Das letzte Kapitel in Jeremia, das fast Wort für Wort auch im Buch 2. Könige zu finden ist, ebenfalls als Abschluss. Wurde dieses Kapitel später hinzugefügt als Beleg dafür, dass Jeremias Prophetien sich erfüllten? Wenn ja, wann und von wem?
- Ähnliche Fragen stellen sich über Jesaja 36-39, Kapitel die sich ebenfalls im Buch Könige finden lassen.
- Ich habe auch Fragen zu Jesaja 63-66, wo es ein langes Gebet und eine Antwort Gottes darauf gibt. In Jesaja 63:18 und 10-11 bekommen wir den Eindruck, dass der Tempel zerstört wurde. Wie sollen wir das verstehen? Sind diese Verse eventuell erst während des Exils oder sogar nach dem Exil geschrieben worden? Oder sieht Jesaja in seinem Gebet diese Zerstörung voraus? Was das Ganze noch verwirrender macht, ist, dass der Herr in 66:6 vom Tempel her antwortet; also steht der Tempel doch noch? Oder wieder? Es scheint keine einfache Lösung oder Erklärung für solche Schwierigkeiten zu geben.
- Jesaja 40-55, oft Deuterojesaja (Gr. deutero, zweiter) genannt, scheint eine Leserschaft im babylonischen Exil vorauszusetzen. Normalerweise würde man den Autor zur gleichen Zeit vermuten; die Propheten reden zu ihren Zeitgenossen. Wenn das alles von Jesaja (dem ersten) geschrieben wurde, handelt es sich um einen höchst ungewöhnlichen Fall: Ein Prophet richtet sich an eine Zielgruppe, die erst mehr als hundert Jahre nach seinem Tod lebt.
- Darüber hinaus ist es eine Tatsache, dass keins der prophetischen Bücher den betreffenden Propheten als Autor des Buches bezeichnet. In Jeremia wird sogar klar, dass jemand anders als erster eine Sammlung von Jeremias Prophetien verfasste: sein Sekretär Baruch (Jer. 36,1-4; 27-32).
Ich bin somit im Prinzip bereit, das „Axiom“ zu akzeptieren (Fragen zu Verfasserschaft sind für meinen Glauben nicht überlebenswichtig) – wenn der Beweis überzeugt. Also: Prüfen wir die Beweisführung!
Die Beweisstücke
- Gelegentlich gibt es zwei Versionen vom gleichen Text, die erhebliche Unterschiede zeigen und unterschiedlich alt sind. Auf Seite 272 wird als Beispiel das Buch Chronik aufgeführt. Das Buch enthält eine Umarbeitung von Material, das wir auch in Samuel und Könige finden. Allerdings ist Chronik eine Neuschöpfung: ein Original, keine Bearbeitung. Es verwendet Quellen, aber nicht mit der Absicht, diese zu ersetzen. Chronik stellt sich nicht als die „bessere“ oder „wahre“ Version vom Buch Könige dar. Somit ist dieses Beispiel eigentlich irrelevant.
- Es gibt nur ein Beispiel eines prophetischen Buches, von dem wir zwei unterschiedliche Versionen haben: Jeremia. Die Version in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta, ist bedeutend kürzer (um etwa 12 oder 13 %) als die hebräische Version, die für die meisten Bibelübersetzungen verwendet wird. Darüber hinaus ist auch die Reihenfolge unterschiedlich. Der wichtigste Unterschied: In der griechischen Version wurden die Prophetien über die Nationen in Kapitel 25 eingefügt und bilden nicht das Ende des Buches. Das deutet darauf hin, dass eine gewisse redaktionelle Überarbeitung stattgefunden hat: bestimmte Stellen wurden neu angeordnet und eventuell auch ergänzt. Aber durch viele Bearbeiter und zu verschiedenen Zeiten? Und indem stetig neue prophetische Offenbarungen eingefügt wurden? Das scheint nicht der Fall zu sein.
- Das dritte und letzte Beispiel, auch auf Seite 272, ist Jesaja 36-39, das wie gesagt größtenteils auch im Buch Könige auftaucht. Es ist sicher vorstellbar, dass diese Kapitel von irgendjemandem eingefügt wurden. Die Frage ist allerdings nicht, ob diese Bücher zusammengestellt wurden (das wurden sie, da sie ja Sammlungen von einzelnen prophetischen Worten darstellen). Die Frage ist, ob diese Prophetiensammlung über einen langen Zeitraum gewachsen ist, indem „viele Hände“ immer wieder neue Prophetien hinzufügten. Und dafür bietet Jesaja 36-39 keinen Beweis. Es handelt sich hauptsächlich um eine historische Erzählung, nicht um eine Prophetie. Falls es tatsächlich nachträglich eingefügt wurde, handelt es sich nicht um eine spätere Neuschöpfung, da der Text auf ältere Quellen zurückgeht.
Alle weiteren Belege, die aufgeführt werden, basieren auf Rückschlüssen aufgrund von Hinweisen im Text. Diese Hinweise, wie zum Beispiel Überschriften, Einführungen und Formeln ermöglichen es, bestimmte Texteinheiten zu unterscheiden. Der Forscher muss dann entscheiden, ob diese Einheiten später zu datieren sind als der ursprüngliche Kern des Buches. Einige Beispiele aus verschiedenen Artikeln im Handbuch:
- Das Buch Hosea richtet sich fast ausschließlich an das Nordreich, Israel. Es gibt aber einige wenige Verse, die sich mit dem Südreich, Juda, befassen. Für manche Forscher „bezeugen“ diese Verse spätere Hinzufügungen (S. 340). Wenigstens bespricht der betreffende Artikel („Hosea: Book of“) auch die Arbeit anderer, die diese Schlussfolgerung ablehnen. Er erkennt zusätzlich an, wie schwierig solche Rückschlüsse sind: „Der Entwicklungsweg von Hoseas Worten zum geschriebenen Text annähernd genau festzustellen ist grundlegend schwierig“ (S. 341; „schwierig“? Oder unmöglich?).
- Ein zweites Beispiel aus Hosea ist „die Schlussbemerkung des Buches (Hos. 14,10), wahrscheinlich die Arbeit des Endredaktors“ (S. 346). Der Vers lautet wie folgt: „Wer ist weise, dass er dies versteht, und klug, dass er dies einsieht? Denn die Wege des HERRN sind richtig und die Gerechten wandeln darauf; aber die Übertreter kommen auf ihnen zu Fall“ (Luther 84). Der Stil dieser Aussage erinnert weniger an Israels Propheten als an die Weisheitsliteratur. Natürlich könnte es sich tatsächlich um eine spätere Ergänzung handeln; dem Buch würde das nicht schaden. Aber wie können wir uns da sicher sein? Und wann geschah diese vermeintliche Ergänzung? Jetzt folgt ein radikaler Gedanke, also halte dich fest, bevor du weiter liest: Könnte es eventuell sein, dass Hosea im Rückblick auf seine prophetische Karriere selbst diese abschließende Einsicht formulierte? (Ich gebe zu: reine Spekulation – wie so viel anderes hier.)
- Das dritte Kapitel von Habakuk ist der Form nach eigentlich ein Psalm. Er hat sogar die Art von Überschrift, die uns im Buch Psalter öfter begegnet. Bedeutet das aber, „dass das nachfolgende Lied eine spätere Hinzufügung zu Habakuk ist“ (S. 172)?
Da seufzt man über die Vielzahl an Hypothesen, die Forscher in die Welt setzen, zu oft aufgrund einer wackligen Beweislage. Wenn wir über Flugtechnik und Flugzeugbau auf ähnliche Weise theoretisieren würden wie manche Forscher über Bibeltexte, würde kein Flugzeug abheben. Genauso wenig sind viele dieser Hypothesen hieb- und stichfest.
Eine vorsichtige Schlussfolgerung
Ich bezweifle nicht, dass prophetische Texte gelegentlich erklärend ergänzt wurden. Ich kann mir gut vorstellen, dass in manchen Fällen Material neu angeordnet wurde oder sogar zu einer späteren Zeit zum ersten Mal in ein einziges Dokument zusammengeführt wurde. Vielleicht gab es sogar ergänzende Prophezeiungen von anderen, die sich so geführt fühlten. Waren das aber „viele Hände“, wie das Axiom in “Formation of the Prophetic Books” behauptet – oder nur wenige?
Selbst wenn es so viel redaktionelle Tätigkeit gegeben hätte, wie das Axiom annimmt, wären wir dann in der Lage, diesen Prozess auch nur annähernd zu rekonstruieren? Die mangelnde Übereinstimmung in den Ergebnissen solcher Rekonstruktionsversuche und der höchst spekulative Charakter vieler dieser Hypothesen sprechen dagegen.
Ich finde es nicht einfach, mich gegen die wissenschaftliche Ansicht der Mehrheit zu stellen; ich nehme Forschung und Wissenschaft ernst. Aber liebe Leute, eure Argumente überzeugen mich nicht.
Ich vermute, dass eher wenige Hände im Spiel waren. Das Buch Hesekiel zum Beispiel ist, was Stil, Vokabular und Inhalt betrifft, auffällig einheitlich. Auch Jeremia ist in Stil und Thematik recht einheitlich. Ich erkenne hier keine Sammlung von Prophetien aus weit auseinander liegenden Zeiten. Und wie viel redaktionelle Überarbeitung ist bei den kürzeren Büchern (sprich, Obadja) überhaupt vorstellbar? Oder bei den postexilischen Büchern, die noch nicht sehr lange existierten, als sie ins Griechische übersetzt wurden?
[Nebenbei bemerkt: Eine interessante Frage (die im Handbuch leider noch nicht aufgegriffen wurde) wäre, wie viele Kopien eines bestimmten Buches zu verschiedenen Zeiten in Israel überhaupt im Umlauf waren. Eine weitere Frage wäre, wie oft diese Buchrollen kopiert und ersetzt wurden. Ich vermute, dass über mehrere Jahrhunderte gesehen die Antwort lauten müsste: Es waren nicht viele Kopien im Umlauf und sie wurden nicht oft ersetzt. Das lässt nicht viel Raum für die Art von kreativer Überarbeitung, die nach dem Axiom häufig stattgefunden haben muss. Ich nehme an, dass die Lage sich änderte, als an vielen Orten Synagogen gegründet wurden. Damit muss der Bedarf an Kopien erheblich zugenommen haben. Aber zu dieser Zeit (wenn nicht schon wesentlich früher) waren Erhalt und Genauigkeit zu den führenden Werten geworden, nicht Kreativität.]
Der Fall Jesaja
Wie ist das aber bei Jesaja? Das Buch unterscheidet sich von Hesekiel und Jeremia, da der Inhalt in Form und Thematik eine breite Vielfalt aufweist. Wenn das Axiom der „vielen Hände“ und eines langen Entwicklungsprozesses irgendwo zutrifft, dann hier.
Der letzte Beitrag im Handbuch, den ich für diesen Bericht gelesen habe, ist die Einführung in Jesaja (ja, das heißt, ich habe den Buchstaben „I“ erreicht!). Auch dieser Artikel betrachtet das Axiom, nun ja, als Axiom, aber anders als manch anderer Beitrag ist er gut leserlich und verständlich. Besonders hilfreich ist die Zusammenfassung der wissenschaftlichen Forschung der letzten zwei oder drei Jahrhunderte.
Die ultrakurze Version sieht so aus. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde es ebenfalls zu einem Axiom, dass Jesaja 40-55 während des babylonischen Exils geschrieben wurde. Das wichtigste Argument für diese Sicht war, dass die angesprochene Leserschaft dieser Texte sich im babylonischen Exil zu befinden schien. Jesaja 56-66, so meinte man, enthielt hauptsächlich postexilisches Material. Somit war die zweite Jesajahälfte mindestens zum größten Teil viel jünger als der Prophet selbst. Zusätzlich gab es Material in Jesaja 1-39, das man auch wesentlich später datierte als Jesaja selbst.
Eine Zeit lang, in manchen Kreisen bis heute, wurde das Buch Jesaja als das Ergebnis von ausschneiden und einfügen, „cut and paste“, betrachtet: ein Buch, das von einem Ausschuss oder von einer Kommission geschrieben wurde!
In den letzten 40 Jahren hat sich allerdings eine beachtenswerte Wende vollzogen. Zunehmend wurde erkannt, wie sorgfältig das Buch zusammengestellt wurde, und wie sehr es in seiner endgültigen Form eine Einheit darstellt. Falls es Redaktoren gab, haben diese ihre Ergänzungen nicht willkürlich und unüberlegt in den Text eingefügt. Das Buch, wie wir es haben, ist ein literarisches Kunstwerk, auch wenn die meisten Forscher diese Leistung nicht Jesaja, sondern den späteren Redaktoren zuschreiben. Diese müssen wahrhaft genial gewesen sein, auch wenn sie sonst keine Spur von sich zurückgelassen haben; es gab während des Exils und danach nichts, was diesem Buch nahe kommt.
Diese Einsicht ist ein wichtiger Schritt vorwärts. Ironischerweise bedeutet dies, dass die konservativen Bibelausleger, die bis heute an Jesaja als Verfasser dieses Buches festhalten, in dieser Hinsicht Recht bekommen: Die Einheit des Buches wird jetzt weitgehend akzeptiert und für eine korrekte Auslegung als sehr wichtig betrachtet. Die Konservativen lagen somit mit ihrer Betonung der Einheit des Buches richtig. Und vielleicht nicht nur damit?
Seien wir mal ehrlich. Wenn ich Jesaja lese, höre ich keine Kakophonie. Es klingt nicht einmal wie ein Chor. Stattdessen, höre ich eine einzige Große Stimme. Eine Stimme, die das Alte Testament übersteigt und mit Klarheit und unübertroffener Schönheit von Gottes Absichten spricht. Soweit wir wissen, gab es während des Exils und danach nichts Vergleichbares, keinen, der auch so etwas sagte oder schrieb. Um das Jahr 700 v. Chr., ja, zu der Zeit, da gab es so jemanden; aber nicht später.
Meisterwerke werden normalerweise nicht von Kommissionen geschaffen.
Aus wissenschaftlicher Sicht, so kommt es mir vor, bleibt das Rätsel Jesaja ungelöst. Wir warten immer noch auf das jesajanische Äquivalent der Urknall-Theorie, die den ganzen Tatsachenbestand aufgreift und die vielen Fragen überzeugend löst. Diese große Synthese wird es vielleicht nie geben.
In der Zwischenzeit gibt es keinen Grund, der uns davon abhalten sollte, das Mysterium anzuerkennen, das Buch zu lesen und auf die Große Stimme zu hören.
Nächste Ausgabe zu diesem Projekt (IVP 3)
Literaturangaben
Mark J. Boda & J. Gordon McConville (eds), Dictionary of the Old Testament Prophets
(Downers Grove, IL: IVP Academic, 2012).
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