In 360 Seiten von „Jesaja“ bis „Sünde“ (IVP 3)

Mit dieser zweiten Sonderausgabe von Create a Learning Site möchte ich euch über mein Leseprojekt (IVP Prophetenlexikon) auf dem Laufenden halten. Die Kurzversion befindet sich im Titel: In 360 Seiten von „Jesaja“ bis „Sünde“. Es bleiben mir noch etwa 200 Seiten und somit sollte ich wie geplant in zwei Wochen abschließen können.

Bevor ich mehr mitteile, als der Titel hergibt, etwas zu meinem Beweggrund.

Ich lese: Mark J. Boda & J. Gordon McConville (Hrgs), Dictionary of the Old Testament Prophets (Downers Grove, IL: IVP Academic, 2012).

Falls du vergangene Berichte verpasst hast:

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Lesen als Grundlage

Vor langer Zeit, während meines ersten Jahres als Mitarbeiter in der Schule für Bibelstudium (SBS), habe ich etwas Ähnliches gemacht. Es war das Jahr 1990 (ja, so alt bin ich). Der Ort war Honolulu. Was ich gelesen habe, war Teil meines Studienganges für einen Masters Abschluss in Bibelkunde an der Universität der Nationen.

In den neun Monaten der Schule las ich nebenbei die gesamten fünf Bände der Zondervan Pictorial Encyclopedia of the Bible, gut 5000 Seiten (zugegebenermaßen mit vielen Bildern, wie das „Pictorial“ im Titel zum Ausdruck bringt; das IVP Lexikon enthält keine). Direkt anschließend las ich mehrere weitere Werke, die meisten zum Thema Eschatologie und Endzeit, als Vorbereitung für meine Diplomarbeit.

Ende 1991 war ich fertig und im Jahr danach zog ich nach Deutschland, mit dem Ziel, dort die SBS auf zu starten. Wie sich herausstellte, schloss sich mir niemand an, und somit war ich das Schulteam. Für etwa 9 der 36 Wochen konnte ich Gastlehrer engagieren. Die restlichen Wochen musste ich selber unterrichten. Der ganze Unterricht war auf Deutsch, einer Sprache, die ich zwar in der Schule gelernt hatte, aber in der ich noch nie unterrichtet hatte.

Nebst der Gnade Gottes gibt es nur eine Erklärung dafür, dass ich es schaffte: die Tatsache, dass ich in den zweieinhalb Jahren zuvor so viel gelesen hatte. Ich war vollgetankt. Ich hatte so viel Bibelwissenschaft, Hintergrundwissen, Einführungen in die einzelnen Bücher der Bibel und Abhandlungen über theologisch wichtige Themen gelesen, dass ich in der Lage war, Unterricht nach Unterricht zu gestalten. Und Fragen zu beantworten. Ich hatte zwar keine Zeit, zu studieren und mich so vorzubereiten, aber meine Ausbildungszeit in Hawaii war meine Unterrichtsvorbereitung gewesen, ohne dass es mir zu der Zeit bewusst war.

Es war also diese Art zu lesen, die es mir ermöglichte, mein erstes Jahr als Schulleiter zu überstehen. Auch in den Jahren danach diente das früher Gelesene und Gelernte als Basis für meine Arbeit.

Immer noch skeptisch (und du liest Englisch)? Dann empfehle ich ein Buch von Ron Smith, Read to Lead: Seven Examples from History. Anders als mein Lexikon ist es leicht zu lesen, aber vielleicht regt es deinen Appetit an, Schwierigeres in Angriff zu nehmen. Es lohnt sich nämlich nicht nur in der Bibelwissenschaft.

Jetzt zum Lexikon

So betrachtet ist mein aktuelles Leseprojekt etwas enttäuschend. Wie der Untertitel klarmacht, handelt es sich tatsächlich um ein wissenschaftliches Handbuch oder Lexikon. Wohl aus diesem Grund werden allerhand skurrile und zum Teil schon längst wieder verworfene Hypothesen vorgestellt und erklärt, wie auch solche, die zurzeit viel Zustimmung finden, die den Test der Zeit allerdings noch nicht bestanden haben.

Ein solcher Überblick hat seinen Wert, ist aber keine große Hilfe, wenn es darum geht, die Bibel in der Glaubensgemeinschaft einer JMEM-Schule oder einer Gemeinde zu unterrichten. Ich lerne genug, dass sich der Aufwand für mich lohnt. Ich erwarte aber keine so wichtige Grundlage für künftige Aktivitäten, wie mein Lesen Anfang der neunziger Jahre war und eigentlich immer noch ist.

Die Artikel in diesem Lexikon, die mir am meisten gefallen, gehören genau genommen nicht einmal alle zum Bereich Bibelwissenschaft. Es sind die Artikel, die sich mit neuen Vorgehensweisen befassen und dabei fachgebietsübergreifend sind. Dazu gehören Psychologie und andere Sozialwissenschaften sowie auch die sogenannte rhetorische Kritik: Wie versucht ein Schriftsteller oder ein Text seine Leser zu überzeugen?

Ein weiteres interessantes Thema ist die Intertextualität: wie ein Text auf andere Texte reagiert, auf sie weiterbaut, Elemente aus ihnen wieder verwendet usw. Kurz gesagt: Welche Verbindungen gibt es zwischen Texten? Offensichtlich werden im Neuen Testament viele Elemente aus dem Alten Testament wiederverwendet, zum Teil als direktes Zitat, aber zum Teil auch indirekt, als Anspielung oder Wortwiederholung. Dieser Prozess findet sich allerdings auch schon im Alten Testament, wenn zum Beispiel spätere Propheten Ideen oder Bilder ihrer Vorgänger neu verwenden.

Alles in allem vermitteln diese Artikel einen Eindruck davon, was sich in den letzten Jahren in der Bibelwissenschaft getan hat. Allerdings bietet das wenig konkrete Hilfe, wenn es darum geht, bestimmte Bibelstellen auszulegen. Es handelt sich um allgemeine Einführungen in die betreffenden Themen. Ein Beispiel: Vom Artikel „Prophetie und Psychologie“ (610-23) lernte ich mehr über Psychologie als über Bibelstudium.

Da ich beim Thema bin, möchte ich euch dieses Zitat aus „Prophetie und Psychologie“ trotzdem nicht vorenthalten:

E. C. Broome argumentierte später (1946), dass das kumulierte Resultat der Daten – insbesondere die Behauptung, dass Hesekiel sieben Jahre stumm war (Hesek 3,22-27; 24,25-27; 33,21-22), und die Ankündigung, dass er 390 Tage auf seiner linken Seite und anschließend 40 Tage auf seiner rechten Seite lag (Hesek 4,4-6) – darauf hindeutete, dass der Prophet paranoid und schizophren war mit katatonischen Phasen, Halluzinationen, Verfolgungswahn, Größenwahn, narzisstisch-masochistischen Konflikten und Absonderung/Angst (…) Laut Broome war Hesekiel „wahrhaft psychotisch“, obwohl dies zu seiner Zeit nicht erkannt wurde und man ihn schlichtweg für ekstatisch hielt. (Ibid., 615)

Der Artikel betrachtet diese Hypothese kritisch und sieht in ihm ein Beispiel der „alten Psychologie“. Mit Erleichterung lesen wir die nächste Seite, wo es heißt:

K. G. Friebel stellt die These auf, dass es sich hier um bewusst gewähltes nichtverbales Verhalten handelt, entwickelt, um der Zielgruppe eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Es ist somit kein Beweis dafür, dass die Propheten abnormal waren, sondern vielmehr Beweis für ihre große Fähigkeit als Kommunikatoren und Redner.

Hesekiel ist somit entweder völlig verrückt oder er ist ein genialer Kommunikator; du darfst entscheiden.

Highlights

Mir ist inzwischen klar, dass es nicht einfach ist, diese Leseberichte zu schreiben, und zwar aus einem einfachen Grund. Es handelt sich um ein Lexikon. Die Beiträge oder Artikel sind alphabetisch geordnet und unabhängig. Es gibt keine Handlung und keinen Gedankengang, die sich entfalten, nur eine alphabetische Reihenfolge.

Ich könnte darauf aufmerksam machen, wie passend es ist, einen Bogen von Jesaja hin zur Sünde zu spannen (wie im Titel). Ich könnte witzeln, dass es andersrum – von der Sünde hin zu Jesaja – mehr Sinn machen würde (Jesaja bietet ja die Lösung für das Problem Sünde an). Tatsache ist aber, dass der Anfangspunkt und der Endpunkt dieses Berichts vollkommen willkürlich sind. Es ist reiner Zufall, dass ich diese vier Wochen mit Jesaja angefangen und mit Sünde abgeschlossen habe.

Daher bleibt mir nur, im Folgenden einige der Highlights mitzuteilen – in alphabetischer Reihenfolge, versteht sich!

„Israel“ (391-7)

Es ist dir wahrscheinlich bewusst, im Alten Testament ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer genau mit Israel gemeint ist. Nach Salomos Tod zerfiel sein Reich in zwei Teile. Die zehn Stämme im Norden wurden oft das Königreich Israel genannt. Juda und Benjamin im Süden bildeten das Königreich Judah. Bei den Propheten bezeichnet Israel deswegen oft – aber nicht immer – das Nordreich.

Im Ausdruck Gott Israels, so meint dieser Artikel, bezieht sich Israel immer auf das ganze Volk. Ich habe es nicht überprüft, aber es wäre logisch. Er ist nie nur Gott mancher Stämme und auch nicht der Gott des Nordreiches.

Im Übrigen, abgesehen von Hesekiel verwenden die Propheten den Namen Israel nur selten für das Land. Ihr Schwerpunkt ist eindeutig Israel als Volk (und wie dieses Volk sich verhalten sollte), nicht Israel als Land. Interessant…

Ein weiteres Highlight aus diesem Artikel: Mehrmals verwendet Jesaja Jakob und Israel im gleichen Vers (zum Beispiel Jes. 40,27; 43,1; 44,21; 46,3; 48,1). Der Artikel sieht eine Verbindung zu der Geschichte Jakobs in 1. Mose (395): Aus Jakob wird Israel. Die Namensänderung markierte eine innere Verwandlung, die aber noch unvollständig war. In 1. Mose ist Jakob/Israel weiterhin in Bearbeitung. Das gleiche gilt für Israel als das Haus Jakobs. Wenn Gott in Jesaja von Erlösung spricht, bleibt er realistisch: Jakob verwandelt sich nicht leicht in Israel.

„Israelite History“ (397-422)

Mit etwa 25 Seiten ist dieser Artikel der längste im Lexikon. Er gefällt mir nicht; der Verfasser ist nicht gerade willig, Bibeltext als Quelle für historische Informationen zu betrachten. Er enthält immerhin folgende interessante Tatsache: 85 % der Niederlassungen im Hügelland, die Übergangszone zwischen der zentralen Bergkette und der Küstenebene, wurden um 700 v. Chr. verlassen und nicht wieder aufgebaut. Dies zeigt, wie verheerend die assyrische Invasion zu Jesajas Lebzeiten war:

Euer Land ist zu einer Wüste geworden: eure Städte sind mit Feuer verbrannt, euer Ackerland – Fremde verzehren seinen Ertrag vor euren Augen; ja, eine Wüstenei ist alles, wie einst bei der Zerstörung Sodoms; und übriggeblieben ist die Tochter Zion wie eine Hütte im Weinberg, wie ein Wächterhäuschen im Gurkenfeld, wie ein eingeschlossener Wachtturm. Hätte der HERR der Heerscharen von uns nicht eben noch einen Rest übriggelassen: schier wie Sodom wären wir geworden und hätten gleiches Schicksal mit Gomorrha gehabt! (Jes. 1,7-9; Menge)

„Jeremiah: Book of“ (423-41)

Wie schon im letzten Lesebericht erwähnt, gibt es für das Buch Jeremia zwei Versionen, die größere Unterschiede aufzeigen. Unser Bibeltext verwendet den hebräischen masoretischen Text, der etwa 12 % länger ist als der griechische Text der Septuaginta. Im masoretischen Text befinden sich die Prophetien über die Völker am Ende des Buches, nicht in der Mitte, wie in der Septuaginta.

So oder so lässt sich die Struktur des Buches schwer beschreiben oder erklären. Sie ist keineswegs chronologisch. Eine Aufteilung in zwei Teile ist möglich, nämlich 1-25 und 26-45. Der erste Teil enthält hauptsächlich prophetische Worte und persönliche Klagen des Propheten. Der zweite Teil besteht hauptsächlich aus Erzählungen. Diese ursprüngliche Anordnung wurde später durch Einfügungen ergänzt.

Ein Großteil des zusätzlichen Materials im masoretischen Text besteht aus Einführungen, anschließenden Bemerkungen und anderen Formeln; es handelt sich also oft um Material, das nicht zentral wichtig ist, und wovon man sich leicht vorstellen kann, dass es als spätere Ergänzungen oder Erläuterungen hinzugefügt wurde. Es sieht somit nicht danach aus, dass diese Bearbeiter dem Propheten Jeremia haufenweise neue Worte in den Mund gelegt hätten. Ihnen ging es wohl nicht darum, Neues zu erschaffen, sondern vielmehr darum, die Worte Jeremias möglichst vollständig zu bewahren. Ecken und Kanten und unlogische (vor allem nichtchronologische) Reihenfolgen wurden dabei nicht berichtigt.

Es ist interessant, sich über solche Fragen Gedanken zu machen, aber leider fehlen uns die Informationen, um zu klaren Antworten und Schlussfolgerungen zu gelangen.

„Jeremiah: History of Interpretation” (441-9)

In diesem Artikel findet sich eine bemerkenswerte Aussage über den Aufbau des Buches Jeremia, passend zum letzten Abschnitt: „Die Struktur des Buches als Ganzes steht unter Auslegern weiterhin zur Debatte und es ergab sich noch keinen Konsens darüber, wie sie zu erklären ist“ (445).

„Joel, Book of“ (449-55)

Joel 4,10 ruft dazu auf, aus Pflugscharen Schwerter herzustellen. Dies ist das genaue Gegenteil von Jesaja 2,4. Der Verfasser des Artikels argumentiert, dass Joel den älteren, ursprünglichen Wortlaut enthält: ein Aufruf zum Krieg, nicht zum Frieden. „Wie es scheint, drehen Jesaja und Micha eine bekannte Redensart um und illustrieren so die Friedlichkeit des eschatologischen Zeitalters. Joel hingegen scheint die ursprüngliche Redensart zu erhalten“ (451).

Das macht Sinn. Der Aufruf zum Krieg kommt uns Menschen leichter als der Aufruf zum Frieden. Die Idee, aus Pflugscharen Waffen herzustellen, war wohl zuerst da.

„Prophets in the New Testament“ (650-7)

Auf Seite 650 finden sich statistische Angaben darüber, wie oft die einzelnen Propheten im Neuen Testament zitiert werden. 65 Verse enthalten direkte Zitate aus dem Buch Jesaja. Viel seltener finden sich Zitate von Jeremia, Hosea und Sacharja mit je sechs Versen und Joel und Amos mit je fünf.

Andeutungen und Parallelen sind zahlreicher und gleichmäßiger verteilt. Jesaja führt weiterhin mit 210 Versen. Bei Hesekiel finden wir 130, bei Jeremia 95 und bei Daniel 70. Da das Buch Daniel wesentlich kürzer ist als die anderen drei, weist es im Verhältnis zu seinem Umfang die meisten Zitate auf. Allerdings finden sich besonders viele der Hinweise auf Daniel in einem einzigen Bibelbuch, der Offenbarung. Somit bleibt Jesaja eindeutig der König der Propheten.

Hm… Musste ich wirklich 900 Seiten lesen, um das herauszufinden?

Nächste Ausgabe: Schlussbericht!

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